[Archiv] Schauplätze

Die Stolze ist voll von Geschichte, selbst jetzt, voller Orte und Plätze mit ihrem ganz eigenen Charme.
Hier sind einige davon.

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Il Narratore
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[Archiv] Schauplätze

Beitrag von Il Narratore »

La Terme
In Platealonga, unweit der Via San Bernardo, existiert ein Ort, von dem niemand wahrhaft zu berichten wagt und den dennoch jeder kennt. Er heißt die Therme und so muss ein jeder auf seine Worte achten, denn in Genua heißt "Ein Bad nehmen" etwas gänzlich anderes als in den meisten Städten.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Ort auch um ein Bad, das einst die Römer für ihre Garnison erbaut hatten – kaum ein Soldat war bereit, ohne gewisse Annehmlichkeiten seinen Dienst zu fristen. Betritt man durch den gut versteckten und doch sehr offensichtlichen Zugang dieses Bad, so gelangt der geneigte Gast zunächst in den Vorraum, wo schlicht gekleidete Muskelmänner ihren Obulus entgegen nehmen. Sie führen ihn sodann in den Entkleideraum, wo auf langen Reihen von Bänken die Kleidung der Gäste sich ausbreitet und weitere Männer die Sicherheit der Börse überwachen.
Dampf wabert hinein aus den seitlich angrenzenden Schwitzbädern und unter den Füßen liegt der mit geheimer Zauberkunst der Römer angewärmte Boden, der mit Mosaiken, mit Steinchen und Bildern verziert ist.
Aus dem geradezu gegenüber des Eingangs liegenden Caldarium ertönt Geschrei und das rhytmische Klatschen von Wasser auf Stein. Männer und Frauen tummeln sich hier im Gischtnebel und das heiße Wasser bringt ihr Blut zum kochen, sodass allerlei Grausamkeiten und Wildheiten geschehen. Dahinter folgt das Tepidarium, in dessen gemäßigter Temperatur die Mädchen keck lachen und spielen und die Männer mit Freude genießen, während im darauf folgenden Frigidarium die Liebe mit dem Wasser zusammen abkühlt und die Gäste und ihre Bedienung sich einander entfremden.
Ein jeder Wunsch lässt sich hier befriedigen, einem jedem Gelüst nachgehen. Rothaarige Iren, blonde Sachsen, brünette Franken, rabenhaarige Byzantiner, gelockte Juden, haarige und fellige Herren und Damen, königlich bleich oder arabisch braun, vollgestopft und gertenschlank, beringt, bekleidet oder nackt. Die Prinzessin von Hindustan, die Königin von Amiramis, die Männersklaven der Amazonen – sie alle finden sich in diesen Räumlichkeiten und sie alle haben nur das eine im Sinn.
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Il Canzoniere
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Ravecca

Beitrag von Il Canzoniere »

Ravecca (um ca.980 n.Chr.)

Wenn Alten von dem Paradies schwärmen, welches Ravecca wohl einmal gewesen war erfüllt sie gleichzeitig der Kummer wenn sie sehen was daraus geworden ist. Jener östliche Teil der Stadt, der sich entlang der gleichnamigen Via Raveccha von der Sant'Andrea Ebene und der Porta Soprana bis zum Janusplatz zieht. Die Via del Colle (Hügelstraße) zieht sich hier an den karolingischen Stadtmauern entlang, verbindet die Haine und Gärten mit der Mauer, in deren Schatten sich oft die Faulenzer und Tunichtgute versammeln.
Auf dem Andreahügel (Colle di Sant'Andrea) gelegen ist die Luft hier manchmal noch freier, frischer und süßer als in den anderen Sestieri Genuas. Jedoch scheint die unsichtbare Hand welche das Sestieri lange beschützte von ihr genommen worden zu sein. Zwischen den hohen Wirtshäusern und den geräumigen Häusern tummeln sich heute die Bettler, Obdachlosen und Verzweifelten. Obwohl einiges tausend Volk hier wohnt und wirkt, sieht man doch selten viel von ihnen. Sie sind die wohlhabenderen, die begüterten unter den Bauern und Wirten und halten sich sichtlich von den fern von den hungrigen Gestalten, den verhärmten Kindern und den dubiosen Grüppchen die die Straßen immer mehr für sich einnehmen. Wie betäubt scheinen es viele Raveccaner noch nicht fassen zu können was aus ihrer Idylle geworden ist.

Die Olivenhaine, Apfelbäume und Rebstöcke zeugen noch immer von dieser Idylle. Jedoch hängen niemals lange Früchte an den Bäumen und Sträuchern und manch zu lange unbeaufsichtigter Grünfleck ist nun mit behelfsmäßig zusammengezimmerten Bauten und verängstigten Menschen besiedelt.
Nachts mag man den Grund hierfür erkennen, wo das nächtliche Volk aus Broglio oder schlimmer, Clavicula, die Gassen für sich entdeckt um ihren hässlichen Geschäften nachzugehen.
Kaum Licht dringt aus den vielen Tavernen und den verriegelten Häusern, in das die Sterblichen sich verkriechen, kahl gefressen und verlassen liegen die Haine und Wäldchen da und fern, oh so fern, wirkt von hier oben die restliche Stadt.
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Clavicula

Beitrag von Il Canzoniere »

Clavicula (oder Clavica) (um ca.980 n.Chr.)

Die Kloake. Der Pfuhl. Die Jauchegrube. Die Sünde Genuas. Die Hure. Das schwarze Herz.
Keiner der Namen für Clavicula war hübsch, doch alle beschrieben sie das kleinste und am dichtesten besiedelte Sestiere ausgesprochen gut.
Tausende lebten hier, hunderte Flüchtlinge waren dazu gekommen, all diejenigen, die ohne ehrliche Arbeit waren, die Glücksritter aus den Dörfern und den Wäldern, die vom Krieg der Könige, von Hugo 'dem Italer', Lothar 'der Puppe', Otto 'dem Großen' und Berengar 'dem Knieenden' vertrieben worden waren. Sie alle sammelten sich hier, liefen wie ein Fluss durch die Hügel, wurden von der Flut in Platealonga angespült und landeten schließlich am niedrigsten Punkt der ganzen Stadt.
In Clavica, das eingesperrt war zwischen dem Bischofskastell und den Schergen der Reichen im Süden, zwischen den aschenen Feldern Domus' im Norden, dem Meer menschlicher Leiber und Reisender am Hafen und den luftigen Höhen von Raveccha und Broglio.
Alles senkte sich hier zu Boden, alles drückte und drängte nach unten. Denn dies war der einzige Weg, um dem Elend zu entkommen: Noch tiefer zu versinken.
Klein und erbärmlich war es in Clavicula, wo jeder Blick den Neid schürte. Eng sind die Gassen in dem überbauten Stadtteil, kaum breit genug für einen Mann, stickig die Luft von dem Miasma tausender hungernder und schreiender Menschen, Tiere und Verbrecher und düster die Straßen, in denen hohe und wackelige Holzkonstrukte sich in den Himmel schrauben.
Nur auf den Plätzen und Piazze ist der Himmel mehr als ein schmaler Streifen Dampf.
Doch jeder Blick nach oben offenbarte nur die schönen Villen im Süden oder den blauen Himmel über den Köpfen oder die grünen Hügel im Osten. Jeder Blick nach oben fiel auf etwas schöneres als das eigene Leben und weckte Gier und Neid und Hass in den Menschen.
Sich in den dunklen Abgründen zwischen den Häusern aufzuhalten, die faule Luft zu atmen, sich an den schmutzigen Leibern zu reiben war beileibe kein angenehmes Gefühl. Noch weniger Freude bereitete nur das Leben hier.
In den dunklen Ecken lauerten die Männer des 'Königs aller Diebe', der seit Jahrzehnten das Viertel fest im Griff hatte, auf jeder Straße begegnete man den Schergen des 'grauen Silvio', der mehr die Diebe vor den Bürgern schützte als andersherum, auf jedem Platz verbreiteten die irren Anhänger des 'Propheten' ihre Ressentiments gegen die Herren.

Und trotzdem, trotzdem findet sich eine gewisse Schönheit in dem elendsten Viertel, harsch und grausam wie das Leben selbst.
Jede Nacht brachte etwas Neues hervor: Eine neue Tragödie, eine unerhörte Liebschaft, eine kreative Todesart, ein unvorstellbares Verbrechen, eine ungewöhnliche Geschichte.
Hinter jeder Ecke wartete ein unbekanntes Gesicht, ein fremder Name, ein frisches Verlangen, ein unerforschter Hinterhof.
Jeder Platz veränderte sein Antlitz. Nie war der Platz der schwarzen Katzen derselbe, nie verblassten die Zauber des Hofes der Wunder, immer wilder wurde die goa di birra, immer fremder der Maskenplatz.
Das Volk von Clavica kostete die volle Süße des Lebens in jedem Augenblick und in jeder Stunde ihres Wachens, denn in der Kloake währte es nur allzu kurz.
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Platealonga

Beitrag von Il Canzoniere »

Platealonga (um ca.980 n.Chr.)

Der lange Platz ist der Name des Viertel, Piazzalunga, Platealonga. Doch dies ist bloß zur Hälfte wahr. Denn es ist nicht etwa ein einzelner, riesiger Platz wie der Georgsplatz, der von Nord nach Süd aus dem Häusermeer platzt. Vielmehr sind es hunderte und aberhunderter kleiner Piazzen, die sich an den Kreuzungen kleinerer Gassen bilden, die sich in den breiten Wegen zwischen den Kontoren ausbreiten und die an den Kreuzungen der großen Straßen - San Bernardo, Strata Romana, Galgengrube (fossa di platiboli) und Handelsstraße (viale dei scambi) – aufplatzen.

In keinem Sestieri sieht man den Umbruch der Stadt besser als hier. Wo die Plätze vor Jahren noch wie Geschwüre im Leib der Stadt voller Müll und Unrat dalagen sieht man heute die Massen auf ordentlich gepflasterte Marktplätze und Wegen ihren Geschäften nachgehen. Wo früher ein brackiges Hafenbecken heruntergekommene Fischerkähne beherbergte, liegen heute die Handelsschiffe aus Pisani, Nikaer, Rhomaioni, Norsk und noch ferneren Ländern. Geschäftstüchtige Kaufleute tummeln sich zwischen privaten Wachsoldaten und Passagieren die sich lautstark in fremden Sprachen beschimpfen. Säcke und Kisten schleppende Arbeiter gehen in frisch restaurierten Kontoren ein und aus und drängen das, früher überall präsente, Gesindel in die wenigen verbliebenen Rückzugsorte oder gar in andere Viertel.
Alles läuft hier zusammen. Ist Clavicula der Gezeitentümpel, in den nur zu stürmischster Flut das Leben sprudelt, so ist Platealonga der Strand. Die Schiffe aus aller Welt legen hier im Hafen an und Handel aus allen Städten der Umgebung, von der Via Aemilia Scauri, der Via Aurelia oder aus dem Westen her rollten über die schlammigen Straßen. An Markttagen strömt das Volk aus allen Vierteln zum Georgsplatz und selbst an manchem Donnerstagabend ist er mit Lauschenden gut gefüllt, die den Reden des Priesters der San Giorgio Kirche folgen. Auch in der Therme, jenem versteckten und doch allzu bekannten Hurenhaus im Süden, und dem Hof der Wunder, jenem Ort der Exotik und des Rausches, werden die seltsamsten Treibgüter angespült.

Von jeder Seltenheit in der Welt findet sich hier ein Exemplar im Schlamm.
Und wie das Meer unzuverlässige Ebbe und Flut kennt, so auch das nächtliche Platealonga. In guten Nächten trifft man hier weitgereiste, interessante Gesprächspartner und Menschen die man sonst in ganz Italien nicht fände. In schlechten flackert die dunkle Vergangenheit des Sestieris auf. Denn Mord, Diebstahl, und Bandenkriminalität sind in Platealonga niemals weit entfernt.
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Melissa
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Mascharana

Beitrag von Melissa »

Mascharana (Maccagnana) (um ca.980 n.Chr.)

Im Süden Genuas, über den sanften Klippen direkt zum Golf, befindet sich Mascharana. Hier erheben sich die Villen der Reichen wie auch die Klippen über das bewegte Meer hinaus ragen, über den Schmutz der restlichen Stadt: Erhaben, edel, unbeugsam. Mag der Sturm auch kommen, mögen die Wellen sich blutig auftürmen, mag das Chaos auch regieren in der Stadt und auf dem Meer – in den Villen der Patrizier sitzt man sicher, hier sitzt man warm.

Prunkvolle kleine und große Stadtpaläste, die sich dort wie an einer Perlenschnur vom Kastell des Bischofs im Osten bis zur Kirche San Nazareth im Westen aufreihen. Aus solidem Stein errichtet, mit kleinen Säulen vor dem Eingang und oft genug mit grimmig dreinschauenden Wächtern, die den hohen Herrschaften unliebsamen Besuch fern halten.

Dabei ist Maccagnana diesem Problem effektiv beigekommen: den Bettlern aus der Stadt dort unten, die Neider und Habenichtse, die den reichen Händlern und arbeitenden Handwerkern im Viertel nicht den Reichtum gönnen, den sie mit harter Arbeit (meist der von anderen) erwirtschaftet haben. Die opulent gepflasterten Straßen sind, sieht man von den sichtlich wohlhabenden Bewohnern des Viertels und der stets wachsamen Stadtwache einmal ab, menschenleer. Denunziantische Blicke folgen denen die sich auf die Straße hinauswagen und nicht den optischen Maßstäben entsprechen, neidische denen die über die eigenen hinausschießen.

Mascharana ist in seinem ganz eigenen Kosmos gefangen und schnell bekommt der Beobachter den Eindruck das die Patriarchen der Genueser Familien in ihren Palazzos über der Stadt viel lieber über ihre weitreichenden Beziehungen bis nach Barcelona, nach Rom, Neapel, Byzanz und Kairo brüten, Pläne schmieden und hinter verschlossenen Türen Feste feiern, als den unbequemen Blick auf die Stadt zu ihren Füßen zu senken.
Ihr Blick richtet sich auf größere Dinge.
La famiglia é il nido dell'uomo.
- Giovanni Faldella
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Melissa
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Domus

Beitrag von Melissa »

Domus (um ca.980 n.Chr.)

Will man einen Eindruck von dem Genua bekommen wie es vor den verheerenden Plünderungen der Sarazenen ausgesehen hat, dann sollte man seine Schritte nach Domus lenken. Hunderte kleine Hütten, hübsch, beschaulich und wenig aufregend erstrecken sich überall im größten der Sestieris. Die typischen, aus Planken gezimmerten, Häuschen der Bürger, schief und liebevoll bunt bemalt wurden in den Dekaden nachdem das Viertel beinahe vollständig abgebrannt war in mühevoller Kleinarbeit und viel Nachbarschaftshilfe wieder aufgebaut. Hier lebt das Herz der Bürgerschaft. Wo in Raveccha Bauern, in Clavica Gauner, in Broglio Dörfler, in Platealonga Fremde und in Mascharana Reiche gibt, da gibt es in Domus Bürger. Bürger in beschaulichen Hütten mit ehrlichen Berufen, mit freien Herzen und liebenden Ehefrauen.

Zwar kann man auch ein halbes Jahrhundert nach den verheerenden Bränden, den Plünderungen und den Vertreibungen noch vielerorts sehen das es ein langer Weg zurück zu dem Sestieri war das Domus heute ist, aber die Menschen scheinen die schlimmsten Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Die früher allerorten ihre Hände ausstreckenden Bettler sind aus den Straßen verschwunden, sogar die wichtigsten Straßen wurden gepflastert und bedecken den einstmals schwarz verbrannten Boden.

Lediglich an den Rändern, insbesondere nach Clavicula und Borglio kann man noch sehen wie schwer es Domus hatte. Hier stehen noch viele Behausungen aus zusammengestohlenen Brettern und Planen, unter denen die Menschen wie Vieh hausen, stechen die verkohlten Reste der einstigen Häuser aus dem Matsch.
Die drei Kirchen, die maßgeblich am Wiederaufbau beteiligt waren bieten nicht nur dem Auge Halt: San Genesio am westlichen, San Ambrosio am östlichen Ende und die Laurentuskirche dazwischen. Stolz ragen ihre Kirchtürme in den Himmel, das deutliche Zeichen das heute verkünden darf: Domus lässt sich nicht unterkriegen.
La famiglia é il nido dell'uomo.
- Giovanni Faldella
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[Archiv] Schauplätze

Beitrag von Il Canzoniere »

In unserer schnell voranschreitenden Zeit kommt es durchaus vor das manche Örtlichkeiten verschwinden oder sich so stark verändern das eine neue Beschreibung notwendig wird. Die alten Texte werden der Übersichtlichkeit halber hier in diesem Archiv gesammelt (sofern die Location nicht ohnehin einen eigenen Thread hat), damit sie nicht verloren gehen.
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Re: Archiv - Schauplätze

Beitrag von Il Canzoniere »

Broglio (um ca.940 n.Chr.)

Früher einmal war Broglio ein Dörfchen, ein malerisches kleines Ding vor den Toren der römischen Stadtmauern. Auf seinen grünen Hügeln standen Reih um Reih Hühnerställe, durch die kleinen Täler zogen sich die sorgsam gepflasterte Ableger der Via Aurelia bis in die Stadt hinein und in seinen Stuben herrschte eine heimelige Ordnung.
Das Geschnatter von Hühnen und Gänsen lag in der Luft, Schweine drehten sich lachend über Feuern und der Geruch von Schinken, Brathähnchen und gebratenen Eiern lag beständig in der Luft. Es war ein Fest für die Sinne.

Mit der Errichtung der neuen Mauer durch den ach so großen Karl änderte sich das.
Broglio war nun Teil der Stadt. Jedenfalls innerhalb der Mauern der Stadt, mit dem Haupttor für Handel, der Porta Soprana im Osten und der alten Römerstraße (strata romana) im Norden. Eingesperrt wie eine gefangene Hure zwischen dem unbarmherzigen Stein und den gierigen Mäulern des Hafens.
Mit den Überfällen von See aus flohen die Menschen, drängten sich so weit nach Osten, so weit wie möglich fort vom Wasser. Zu hunderten Hundertschaften lagerten die Heimatlosen in den Straßen von Broglio, durchsetzt mit dem Vieh der Broglianer.
In den einst so weiten Hügeln tummeln sich beengt die einfachen Hütten, dicht an dicht drängen sich die Häuser, die Ställe, die Schuppen, Verschläge, Katen und Zelte. Die Straßen versinken seit Jahrzehnten unter einer dicken Schicht aus Dreck, Schlamm und Unrat. Der Sirnengesang der Menge ist von überall zu hören: Das Ächzen der stöhnenden Menschen, das Gequieke der werfenden Säue, das Geschrei der streitenden Gänse, der Hochmut der krähenden Hähne, das Rumpeln der fahrenden Handelswagen.
Ein jeder kennt noch jeden, über die Arbeit und die Stände und die Tiere ruft man sich die Neuigkeiten zu.
Wer durch Broglio wandert, an den strohgedeckten Hütten vorbei schleicht und sich durch die hohen Hühnerställe quetscht, der kann sich eines Eindrucks nicht erwehren: Broglio ist noch immer ein Dorf, nur ein sehr, sehr großes.
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Re: Archiv - Schauplätze

Beitrag von Il Canzoniere »

Ravecca (um ca.940 n.Chr.)

Wenn es in einer Stadt wie Genua noch ein Paradies gab, so müsste es wohl Ravecca sein. Jener östliche Teil der Stadt, der sich entlang der gleichnamigen Via Raveccha von der Sant'Andrea Ebene und der Porta Soprana bis zum Janusplatz zieht. Die Via del Colle (Hügelstraße) zieht sich hier an den karolingischen Stadtmauern entlang, verbindet die Haine und Gärten mit der Mauer, in deren Schatten sich oft die Faulenzer und Tunichtgute versammeln.
Auf dem Andreahügel (Colle di Sant'Andrea) gelegen ist die Luft hier freier, frischer und süßer. Zwischen den hohen Wirtshäusern und den geräumigen Häusern hat man Freiraum und Platz genug. Obwohl einiges tausend Volk hier wohnt und wirkt, sieht man doch selten viel von ihnen. Sie sind die wohlhabenderen, die begüterten unter den Bauern und Wirten. Alles, aber auch alles scheint vom Glück berührt in Ravecca, wo die Leute bei Wein, Weib und Gesang ihre Tage verbringen.

Paradiesisch sind die Zustände hier für diejenigen, die sich lagern zwischen die Olivenhaine, die Apfelbäume und Rebstöcke. Reif, süß und voll hängen die Früchte herab, ein Mensch muss nur in sonniger Wärme unter den lichten Zweigen hindurchgehen, während der helle Tramontana die Gemüter kühlt. Wie in den goldenen oder silbernen Zeitaltern lässt sich so bei gewichtigsten Plaudereien direkt vom Busen der Natur speisen.
Haarige und ungewaschene Kerls gehen umher in den grünen Hügeln von Ravecca und laben sich an den Früchten anderer Leute Arbeit.

Nachts bleibt von diesem Paradies nicht viel.
Kaum Licht dringt aus den vielen Tavernen und den verriegelten Häusern, in das die Sterblichen sich verkriechen, kahl gefressen und verlassen liegen die Haine und Wäldchen da und fern, oh so fern, wirkt von hier oben die restliche Stadt.
Nur der Duft von Freiheit und Einsamkeit schwebt über den Dächern.
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Re: Archiv - Schauplätze

Beitrag von Il Canzoniere »

Platealonga (um ca.940 n.Chr.)

Der lange Platz hieß dieses Viertel, Piazzalunga, Platealonga. Doch dies war nur zur Hälfte wahr. Denn es war nicht etwa ein einzelner, riesiger Platz wie der Georgsplatz, der von Nord nach Süd aus dem Häusermeer platzte. Vielmehr waren es hunderte und aberhunderter kleiner Piazze, die sich an den Kreuzungen kleinerer Gassen bildeten, die sich in den breiten Ruinenwege ausbreiteten und die an den Kreuzungen der großen Straßen - San Bernardo, Strata Romana, Galgengrube (fossa di platiboli) und Handelsstraße (viale dei scambi) – aufplatzten.
Wie Geschwüre im Leib der Stadt öffneten sie sich hier und offenbahrten das madige Leben im Schlamm unter dem brackigen Wasser der Zivilisation. Mädchen an jeder Ecke, Trunkenbolde auf jeder Treppe, Raufereien auf jedem Platz.
Das Viertel war nur eine Fortsetzung des Meeres. Ein Meer aus Leibern, launisch wogend die meiste Zeit und stürmisch an Markttagen, überzogen vom salzigen, öligen Schweißfilm und dem fischigen Gestank des Betruges.
Alles lief hier in diesem Viertel zusammen. War Clavicula der Gezeitentümpel, in den nur zu stürmischster Flut das Leben sprudelte, so war Platealonga der Strand. Die Schiffe aus aller Welt legten hier im Hafen an – Pisani, Nikaer, Rhomaioni, Norsk – und Handel aus allen Städten der Umgebung, von der Via Aemilia Scauri, der Via Aurelia oder aus dem gefährlichen Westen her rollten über die schlammigen Straßen. An Markttagen strömte Volk aus allen Vierteln zum Georgsplatz und selbst an manchem Donnerstagabend war er gut gefüllt mit Lauschenden, die den Reden eines Predigers folgten. Auch in der Therme, jenem versteckten und doch allzu bekannten Hurenhaus im Süden, und dem Hof der Wunder, jenem Ort der Exotik und des Rausches, wurden die seltsamten Treibgüter angespült.
Von jeder Seltenheit in der Welt findet sich hier ein Exemplar im Schlamm.
Und wie das Meer unzuverlässige Ebbe und Flut kennt, so auch das nächtliche Platealonga. Bei gutem Wind in der Stadt war das Leben ausgelassen und fröhlich.
Steht der Wind schlecht war es leer gefegt, ein leerer Platz.
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