[1007] Das A und O [Amalia, Seresa]

[Seresa]

„Ja.“

Seresa nickte, während sie eine der Muscheln aus dem Beutel und zwischen ihren Zeige- und Mittelfinger nahm. Sie zeigte der Salubri die geriffelte Seite.

„Sie sollen dir erlauben zu lernen, auch wenn ich nicht da bin.“

Die Brujah drehte die Muschel um. In die glatte Innenfläche war der Buchstabe A eingeritzt und mit Kohle geschwärzt worden. Für einen Moment ruhte ihr Blick auf dem Wachstäfelchen. Schließlich erhob sie sich und schloss dabei die Hand um die Muschel.

„In dem kleinen Beutel befindet sich die exakte Anzahl der Muscheln, welche sich in deinem Haus befinden. Deine Aufgabe wird bis zum nächsten Mal sein, die Muscheln aus dem Beutel so schnell wie möglich neben die Muscheln zu legen, die ich verteilt habe. Sie müssen dabei das gleiche Wort ergeben. Du wirst die Anzahl der Buchstaben sehen, du wirst allerdings nicht sehen, was das gesuchte Wort tatsächlich sein wird. Es könnte sowohl Licht, wie auch Feuer sein.“

Ihre Hand deutete auf die Lichtquelle im Haus der Salubri.

„Du musst dir also merken, wo du welche Muschel ablegst und an welcher Stelle. Du kannst jederzeit eine gelegte Muschel wieder wegnehmen und an anderer Stelle positionieren. Wenn du dir nicht sicher bist, dass die letzte Muschel an die verbleibende, letzte Stelle passt, darfst du sie nicht legen, sondern musst die Muscheln solange tauschen, bis alle verteilt und sich an der richtigen Stelle befinden. Erst dann ist dir erlaubt die Muscheln umzudrehen und zu überprüfen, ob deine gelegten Muscheln sich mit meinen decken. Es handelt sich dabei um keine Worte, die du nicht bereits kennst und welche wir nicht bereits geübt hätten.“

Seresa schwieg für einen kurzen Moment.

„Da es dein Rang und dein Status verbieten, dich auf dieselbe Art und Weise zu lehren, wie ich gelehrt wurde, hoffe ich dass dieser Weg für dich erfolgversprechender ist. Schließlich dürft er etwas sein, was dir als Kriegerin mehr entsprechen dürfte, als das Abschreiben von Texten.“

Sie blickte kurz auf das aufgearbeitete Wachstäfelchen, bevor sie mit den Schultern zuckte.

„Zumindest längerfristig, denn wenn du einmal die richtige Verteilung gefunden hast, wird es darum gehen schneller zu werden. Du sammelst deine Muscheln des kleinen Säckchens wieder ein, die Meinigen lässt du liegen und drehst sie um. Dann wirst du die deinen erneut positionieren.“

Der Blick der Gelehrten ruhte ruhig auf der Salubri.

„Fehlerfrei und auf die schnellstmögliche Art und Weise. Ich werde das nächste Mal überprüfen, ob du es ernst genommen hast.“

Die Brujah legte die Muschel zurück auf den Tisch. Das leise ´Klick´, dass die Muschel dabei von sich gab unterstich, dass auch die Geduld der Brujah Grenzen kannte und sie nicht gewillt war, ihre Zeit zu verschwenden.

„Dem Anstand- und dem Respekthalber warne ich dich jedoch vor, Amalia. Versuchen bei der Übung zu schummeln, wird dir nicht helfen, sondern nur dich selbst schwächen.“

Seresa schwieg erneut für einen kurzen Moment, während sie auf Amalia blickte.

„Hast du noch Fragen hierzu?“

[Amalia]

Amalia blickte die Brujah länger an, scheinbar musste sie einen Moment nachdenken, ehe sie hinter den unnötigen und komplexen Füllsätzen, die doch recht einfache Aufgabe verstand. Schließlich nickte sie und antwortete knapp

“Nein, alles verstanden … soll ich jetzt schon anfangen?“

Neugierde war geweckt und so blickte die Salubri auf den Muschelbeutel.

[Seresa]

„Nein. Wie ich bereits sagte, Amalia, es soll dir erlauben zu lernen, auch wenn ich nicht da bin.“

Seresa blickte auf die Muschel und schob sie zurück in den Beutel.

„Oder nicht mehr da bin.“

Ihre Worte wirkten entspannt, während geschickte Finger die Leinenbänder verknoteten. Dann blickte sie erneut zu Amalia auf.

„Diesbezüglich möchte ich dir noch eine andere Möglichkeit des Schreibens zeigen. Sie ist durchaus gröber, als der grazile Umgang mit dem Griffel, allerdings erlaubt sie dir die Form der Buchstaben wiederholt sauberer zu üben und zu erlernen.“

Die Brujah betrachtete die Salubri für einen Moment schweigend. Schließlich zuckte sie leicht mit den Schultern.

„Wir werden sehen.“

Dann erhob sie sich in einer geschmeidigen Bewegung.

„Wir werden Sand für die Übung benötigen, weshalb ich vorschlage, dass wir die Unterweisung an den Strand verlagern.“

Ihr Blick ging für einen Moment in Richtung Dario, bevor sie erneut zu Amalia blickte. Ihr schien es einerlei, ob sie ihren Ghul mitnehmen wollen würde. Langsam schritt die Brujah in Richtung Tür, bevor sie Amalia einen auffordernden Wink gegeben hätte, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen die beiden Frauen in Richtung des feinen Sandstrandes.

„Ich würde dich gerne fragen, weshalb du das Lesen und Schreiben lernen willst, Amalia. Welchen Vorteil versprichst du dir davon?“

[Amalia]

Amalia folgte ihrer Lehrerin stehenden Fußes, sie waren alleine, als sie den Strand betraten. Wie selbstverständlich blickte die Salubri auf das stille Meer. Auf die Frage der Brujah schmunzelte sie nur.

“Es ist praktisch … man kann besser kommunizieren … auch über größere Distanz.“

Das Lächeln wurde sanfter ehe sie wieder zu der Brujah blickte.

“Warum fragst du?“

[Seresa]

„Weil es durchaus unterschiedliche Gründe dafür gibt, Amalia. Die Meisten, welche das Lesen und Schreiben beherrschen, tun dies, da sie Interesse an lateinische Werken zeigten.“

Seresa zuckte leicht mit den Schultern, bevor sie stehen blieb und sich in den weichen Sand kniete. Sie deutete Amalia an, sich zu ihr zu setzen. Dann begann die Brujah ein größeres ´A´ in den Sand zu malen. Sie nutzte dabei Zeige- und Mittelfinger und formte so eine breite, tiefe Rille in den Sand. Dann brach sie ein Stück des Zweiges ab und nahm es in ihre Hand.

„Andere, weil sie eine gewisse Art der Kunst und Schönheit darin sehen. Buchstaben. Worte. Sätze. Sie alle erzählen eine Geschichte, wenn man gewillt ist zuzuhören.“

Sie schwieg für einen kurzen Moment.

„A ist der erste lateinische Buchstabe, doch er stammte einst aus dem phönizischen Alphabet. ʔalf bedeutet hierbei so viel wie Ochse.“

Die Brujah malte links oberhalb ein um neunzig Grad gegen den Uhrzeigersinn gedrehtes A.

„Ein bewegter Geist, mag dies darin noch heute erkennen.“

Mit viel Phantasie konnte man tatsächlich in den Strichen einen Ochsenkopf erahnen.

„Im hebräischen wurde es zu Alef.“

Seresa zeichnete den hebräischen Buchstaben links unterhalb des großen As.

„Dem Wort für Rind, sowie die Zahl Eins.“

Dann zeichnete sie mit dem Stock rechts unten einen weiteren Buchstaben in den Sand. Der gerade Strich eines großen I mit einem unterstrichenen c anstelle eines Punktes darüber.

„Alif. Es ist arabisch und aus dem hebräischen Buchstaben Alef hervorgegangen. Auch er steht für die Zahl Eins.“

In den leeren Platz rechts oben zeichnete sie ein schmaleres A.

„Das griechische Schriftzeichen, welchem dem Lateinischen, welches ich dir lehre am meisten ähnelt ist Alpha. Der Geist oder auch der Anfang.“

Seresa reichte Amalia den fingerdicken Zweig.

„Viele missverstehen oder unterschätzen was ich tue, Amalia. Sehen nur Striche auf einem Wachstäfelchen oder Pergament. Dabei ist es soviel mehr. Was ich dir beibringe ist nur ein Anfang, Amalia. Nur die Spitze eines Berges.“

Die Brujah fuhr mit ihrem Finger die Kontur des A nach und mit viel Vorstellungskraft konnte man tatsächlich eine Bergspitze, welche abgeschnitten wurde in dem Buchstaben erkennen. Scheinbar eine eigene Sicht der Brujah auf das ´A´.

„Es ist deine Entscheidung, was du darin sehen willst, Amalia, ob Mittel zum Zweck oder Kunst. Kein Buchstabe ist dabei jedoch ohne Bedeutung und deshalb sollte einem Jeden seine Zeit geschenkt werden. Ich werde dir später auf dem Wachstäfelchen noch einmal alle Buchstaben aufzeichnen. Du kannst sie dann selbst in den Sand malen und wenn du sie genügend geübt hast auch wieder wegwischen.“

Seresas Hand strich über das phönizische A und es verschwand.

„Es sollte dir erlauben mehr zu üben, ohne dabei das Wachstäfelchen aufarbeiten zu müssen. Du kannst sie einfach so in den Sand schreiben oder wie ich heute eine Vorlage zeichnen. Je öfter du es übst, umso kleiner und dünner kannst du die Vorlage wählen. Du wirst selbst feststellen, dass es nicht einfach ist, innerhalb der Form zu verbleiben, wenn deine Bewegungen flüssiger und schneller werden. Doch versuch es nun selbst.“

Sie deutete auf das große A in der Mitte.

„Greif den Zweig so, als wäre er ein Griffel oder eine Feder und schreib ihn nach, während du versuchst innerhalb meiner Vorlage zu bleiben. Lass dir für die ersten Male Zeit. Dann werde immer schneller.“

[Amalia]

Amalia nickte und setzte sich zu der Brujah in den Sand.

“Nun ich strebe nicht nach Wissen, Kunst oder Schönheit … ich möchte in erster Linie Briefe an eine ganz besondere Tochter der Nacht schicken … und die will ich niemanden diktieren.“

Ein verträumtes Lächeln krönte das Gesicht der Salubri, als sie wieder auf das Meer hinausblickte. Als ihre Lehrerin weitersprach und anfing zu malen guckte Amalia aufmerksam zu und machte es ihr nach. Ihre Buchstaben waren zwar noch nicht ganz schön und die Technik etwas holprig … es würde noch viele Nächte dauern, ehe sie vollständig schreiben könnte.

[Seresa]

Seresa nickte schlicht auf die Aussage der Salubri und beobachtete schließlich Amalias Schreibversuche mit den kritischen Augen einer einst zur Perfektion angehaltenen Schülerin.

„Wenn sie so besonders ist wie du sagst, wird sie deine Mühen sicherlich zu schätzen wissen.“

Die Brujah blickte auf das Meer.

„Sofern du mir etwas über die Dinge erzählen kannst, welche du ihr schreiben willst, kann ich dir einige Vorlagen erzeugen. So wäre es dir möglich gezielter daraufhin zu üben.“

Dann sah sie auf die Hand Amalias.

„Halt den Zweig etwas steiler und versuch ihn weniger krampfhaft festzuhalten.“

[Amalia]

Kurz blickte Amalia verträumt aufs Meer ehe sie sich zu Seresa beugte und die Stimme senkte. Ein vertrautes Flüstern erreichte die Ohren der Brujah.

“Nun … kannst du Liebe in Worte fassen?“

Ein Lächeln

“Sie … sie bedeutet mir sehr viel“

Die Schreiberin erlebte gerade, dass Amalia doch mehr, als eine gefühlskalte Schlächterin war … Gefühle waren ihr nicht fremd.
Sie setzte sich wieder zurück und hielt den Ast so, wie Seresa es ihr sagte, die Buchstaben, sahen nun tatsächlich etwas besser aus.

[Seresa]

„Liebe kann man nicht in Worte fassen.“

Ihr Blick war fast traurig auf die Weite des Meeres gerichtet, als suchte sie in der Ferne etwas.

„Aber ich denke ich weiß was du meinst.“

Sie sah zu der Schreibenden, nickte zufrieden, bevor sie das A wegwischte und ein B in den Sand zeichnete.

„Erzähl mir von deiner Liebe. Wie ist sie.“

[Amalia]

Amalia blickte ihrer Lehrerin hinterher und seufzte, die Ferne schmerzte jedem. Amalia sah fragend zu ihr, fast so als wolle sie fragen „Seid ihr auch getrennt?“. Als Seresa mit dem „B“ fertig war tat Amalia das gleiche wie zuvor und malte ein großes „B“ in den Sand.

“Ich weiß nicht ganz was du meinst … soll ich dir von meinen Gefühlen oder meiner Geliebten berichten?“

Kurz senkte sie den Kopf, ehe sie sich auf den, von der Sonne gewärmten Sand setzte.