[1008] Ite Domum (Alain)

[Ravunthu Velchai]

Mit zuckenden Mundwinkeln lauschte Ravunthu den Aussagen und Anweisungen der Ravnos, ohne dass etwas Anderes als ungeduldiger Hunger aus ihren Zügen sprach.

Als Tiziano den Raum verlassen hatte, ließ Ravunthu sich nach einer raschen Seitenrolle vom Bett fallen, auf alle Viere. Nackt, die Haut blutlos grau, die hellen Augen vor Hunger glühend, huschte sie nah am Boden hinter die Tür, wo sie vom Öffnenden vorerst verborgen sein würde.

Sie hockte sich nieder, hob den Unterarm vor den Mund und grub ihre Fänge hinein. Man hörte sie schmatzen, knurren.
In ihren stieren, nicht blinzelnden Augen brannte ein Ausdruck, der das Schicksal des Sterblichen, der ihr vorgeworfen würde, absolut klar machte.

[Sousanna]

Eine der wohlgeschwungenen Brauen hob sich. Zeigte, dass sie auch, wenn sie dieses Schauspiel ungerührt verfolgte, doch milde überrascht schien.
Sie unterdessen nahm wieder in den Kissen Platz und miemte die mitleidslose Schönheit. Dennoch war sie insgeheim froh, da sich die Tür öffnete und ein Mann, kaum mehr bei Bewusstsein vor Wein, relativ unsanft herein gestoßen wurde.
Für einen kurzen Augenblick suchte der Kettenhund der Ravnos deren Blick, zog sich aber zurück, da sich ein einziger Satz in schnellem Griechisch von ihren Lippen löste: "Besser du gehst."
Dann würde sie das sich nun bietende Schauspiel beobachten.

[Alain le Beau]

"Allerliebst, wohlwerte Harpye" kommentiert Alain von seinem Liegeplatz aus. Er leckt sich demonstrativ über seine Fänge, während er das Massaker beobachtet. "Wie viele Seeleute hast du noch? Mir ist gerade nach etwas Salzigem." Seine Augen studieren Ravunthu sehr genau. "Und wer ist das? Ein Protegé? Eine Liebhaberin? Eine Verwandte?"

[Ravunthu Velchai]

Die Schreie, die dem Betrunkenen entfuhren, als Ravunthu ihm wie ein hungriger Hund an die Kehle sprang, waren beinahe so tierhaft wie das tiefe, rollende Brüllen, mit dem die so zierlich wirkende Gestalt eine klaffende Wunde unter seinem Kinn riss. Fast unmittelbar verstummte der Sterbliche für immer, und die Vampirin versenkte ihr Gesicht schier in der klaffenden Wunde. Schnurrend, stöhnend trank sie, während das Blut wie ein dunkler, schimmernder Teppich ihr Haar und die Brust ihres Opfers tränkte.

Ohne hinzusehen zerriss sie das Hemd des Sterbenden und krallte sich fest in sein Fleisch. Erst nach und nach, während das Knurren und Schmatzen leiser wurde, wich die brutale Kraft aus ihren Fingern, und sie begann, das klebrige, rote Brusthaar des Mannes zärtlich zu streicheln, während sie sein Herzblut in tiefen, kräftigen Schlucken in sich aufnahm.

Dann erklang ein leiser, langsamer und dunkler Gesang. Die Königin drehte ihren blutverschmierten Kopf zur Seite und legte ihre Wange fast zärtlich auf der Brust des Mannes ab, während sie weiter sanft mit den Fingern durch das erkaltende Blut fuhr. Ihr Gesicht war Sousanna und Alain zugewandt, aber ihr melancholischer Blick war ins Leere gerichtet.

"Es ging ein Matros an einen Brunn
und schaut ins tiefe Tal
Da sah er in der Ferne eine wunderschöne Dam

Guten Tag, guten Tag, schön Damelein
Schön Dank, du junger Matros'
Er bot dem Mädchen zu trinken
zu trinken aus seinem Glas

Sie nahm ein silbernes Becherlein
goß darein den roth'n heißen Wein
Sieh hier, sieh da, du junger Matros
du sollst mein eigen sein."

[Alain le Beau]

"Jetzt reimt sie auch noch..." murmelt Alain, kopfschüttelnd. Dann blickt er wieder Sousanna neugierig an.

[Sousanna]

Sousannas sanftes Gesicht hatte sich unterdessen zu einer Miene offenkundigen Ekels verzogen. Gewiss, sie hatte schlimmeres gesehen und getan. Und sicher, es gab unästhetischere Anblicke, doch vielleicht war es der Gedanke, dass ihre Wunderkammer hier gerade so beschmutzt wurde, der sie sich schütteln ließ.
Die vollen Lippen waren weiß geworden, da sie sie in einer gekräuselten Line zusammenpressten und über der Nase zeigten sich ungewöhnlich kunstvolle Falten, während sie mit einem Blick der Missbilligung vom Geschehen abwandten.

"Und schlecht dazu.", erwiderte sie auf Alains Anmerkung hin spitz, ehe sie zu dem Masaker hinnickte und mit abfälliger Miene meinte: "Ich hoffe ehrlich für sie, dass sie den Anstand hat, danach aufzuräumen."

[Alain le Beau]

"Darauf würde ich nicht wetten", sagt Alain, offensichtlich keinesfalls beleidigt, dass Sousanna ihn immer noch nicht aufgeklärt hat. "Im Gegenteil. Wenn mich nicht alles täuscht, wird sie gleich den Liebesakt mit ihm vollziehen. Er ist ja glücklich gestorben. Und Leichenstarre ist etwas sehr nützliches wenn..."

Er legt den Finger ans Kinn. "Übrigens, da fällt mir ein: Kennst du jemanden, der günstig Baumaterial - Steine, Holz, solche Dinge - beschaffen kann?"

[Sousanna]

"Hmmm" Sie pustete eine mahagonifarbene Locke beiseite. "Ich auch nicht." Kurz schüttelte sie den Kopf und beobachtete die Szenerie erneut. Noch immer eindeutig missfallend. "Und sowas schimpt sich eine Königin... Würdevoll kann man das wohl kaum nennen."

Doch offenbar war ihr die Szene zu langweilig, um nicht über gute Handel zu sprechen. Kurz schien sie nachzudenken. "Ja", erwiderte sie und verzog das Gesicht zu einem leicht gehässigen Grinsen. "Es gibt ein paar Kinder der Nacht die Rohmaterialien besorgen können. Wie billig darf es sein?"

[Alain le Beau]

"Solange die Qualität stimmt, darf es ruhig günstig sein" sagt Alain großzügig. "Weißt du, ich habe mir gedacht, je günstiger ich einkaufe, desto größer und prunkvoller wird sich meine Bleibe gestalten." Nach dieser scharfen ökonomischen Einsicht schaut er die Ravnos stolz an. "Und mein Baumeister sollte ja durchaus in der Lage sein, gutes und schlechtes Material zu unterscheiden."

Dann zeigt er auf die blutige Seemannsbraut. "Willst du mir nicht endlich verraten, wer das ist?"

[Ravunthu Velchai]

Ravunthu summte leise vor sich hin. Ihr entrückter Blick ging irgendwo ins Leere, und sie fuhr sich inzwischen durch das eigene blutverschmierte Haar. Es war sehr offensichtlich, dass sie - angesichts der Menge Wein oder Bier, die ihr Opfer in sich getragen hatte - eine ganze Weile noch in diesem Zustand verbringen würde. In einem Zustand völligen Friedens, den satten Leib voll gestohlenen Lebens, das Bewusstsein in einem melancholischen Rausch.