[1012] Narrenschiff [Angelique, Sousanna]

[Angelique]

Der Glanz der vergoldeten Aufbauten blendete die hypersensible, kleine Vampirin. Wie eine Totenkopfmotte zu einer leuchtenden Flamme wurde sie zu der Erscheinung im Hafen gezogen.

Ein Schiff, wie es für Kleopatra oder Caligula beschrieben worden war. Zwei Galeerenrümpfe, geeint von einem riesigen Deck voller Aufbauten wie bei einer Villa, komplett mit Gärten.

War das real? Ein Zauber der Dekadenz, der die Nichtsahnenden ins Unglück locken sollte, wie der Gesang der Sirenen?
Erscholl nicht auch Musik von diesem unirdischen Schiff herüber?

Sie setzte vorsichtig einen nackten Fuß auf die Planke, die hinauf zur schwimmenden Stadt führte. Das Holz fühlte sich echt an. Poliert von vielen Füßen. Ein Splitter bohrte sich in ihr untotes Fleisch und gab ihr lustvollen Schmerz, der sie lebendig fühlen ließ.

Wirklich real. Neugierig - und unsichtbar - huschte sie an Bord.

[Sousanna]

Das Schiff hätte kaum weniger Illusion sein können. Der Splitter war ebenso wirklich wie die dunkle und goldene Verkleidung der schwimmenden Luxusbarke. Sanft wogten Wohlgerüche über das Deck. Das Holz duftete und vermischte sich mit den Gerüchen nach Ölen und auf Deck gepflanzten Blumen. Es schwirrten Stimmen über die dunklen Planken. Aufgeregte, hektische Stimmen. Immer wieder würde der unsichtbare Gast schwer bepackten Männern ausweichen müssen, die das Schiff be- und entluden. Die Santa Theodora war von geschäftigem Treiben erfüllt. Selbst wenn die kleine Bestie nicht in den Schatten ihres Blutes verborgen gewesen wäre, hätte sie kaum jemand bemerkt. Sicher zwanzig Schiffsjungen und Dienstmädchen wuselten zwischen den keuchenden Seebären.

Je weiter sich das Mondenkind auf Deck der Theodora wagte, desto mehr überbordenden Luxus würde es erleben. Hier goldene Täfelung, dort feinste Schnitzereien. Zwischen drin die feinsten Schmuckstücke. Alles in solcher Selbstverständlichkeit drapiert, dass es beinahe schon unanständig wirken mochte.

Sanft schaukelte das Schiff im Frühlingswind und ebendieser Wind trug eine warme Stimme an Angeliques feine Ohren. Die schönste Ravnos Genuas gab einem recht abgelenkt aussehendem Mann Anweisungen, wie sie gerne ein Mosaik gestaltet haben würde. Es brauche mehr Farben. Er jedoch schien sich eher für den Fall ihres Kleides und die Art, wie sich eine der dunklen Locken aus der strengen Frisur löste, so dass er nur recht stupide jeweils die letzten drei Worte wiederholte.

[Angelique]

Angelique brauchte bestimmt eine Stunde, um zu Sousanna zu gelangen. Zu beschäftigt war sie, alles zu bestaunen und mit ihren Sinnen zu erfassen.
Schließlich aber erreichte sie ihre sündige, große Schwester. Vorsichtig lugte sie hinter einer Ziersäule hervor. Sie fiel ohnehin nicht auf, hier noch weniger.
Für Sousanna tauchte sie erst unfokusiert im Augenwinkel auf, um dann in ihr Blickfeld zu wandern. Dann erst bemerkte auch der wache Geist der Ravnos die kleine Vampirin.

"Schiavo, Sousannoula", piepste sie scheu.

[Sousanna]

Alles gab es hier. Oder besser nichts, das nicht in kühnsten, tiefsten Träumen eine Rolle spielte. Die Ravnos schien ganze Arbeit bei der Erschaffung eines luxuriösen Paradieses geleistet zu haben. Schönheiten unter freiem Himmel, Säulengänge und weitere Wunder im Bauch des Schiffes, die man kaum in Worte fassen konnte. Wie schön musste es hier erst sein, wenn nicht alles durcheinander rannte und raue Kommandos gerufen wurden? Wie glorreich und wie friedlich?

Da Angelique ihre Schwester ansprach hatte diese bereits entnervt mehrere Handwerker um sich geschart hatte und versuchte ihnen zu erklären, was sie unter "dem Schick des Orients" verstand. Um ehrlich zu sein, klang Sousanna in diesem Augenblick als wäre sie demnächst den Tränen nah, weil sie keiner verstand.
So hätte ihr Empfang nicht überschwänglicher sein können. Immerhin war die kleine Tochter der Nacht so gelehrig, dass sie alles verstand, was sie sagen wollte und es in richtige Worte fassen konnte.

"Schwesterchen", strahlte sie und ging auf die Knie um das Vampirmädchen an ihre Brust zu drücken. "Was bin ich froh, dich hier zu haben! Gefällt es dir? Hast du dich schon umgesehen?" Ganz offensichtlich war sie trotz ihrer Frustration aufgeregt und in Plapperlaune.

[Angelique]

Freudig nickte Angelique. "Es ist wunderschön. Ich habe einiges mir angesehen, aber längst nicht alles. Das ist ja wie das Schiff der Kleopatra." Sie schwärmte überschwänglich. "Oder wie die Schiffe zu Ehren der Diana unter der sündigen Galigula. Hach, müssen das schöne Zeiten für meinen Klan gewesen sein. Damals wurde alles ausprobiert und alle Regeln vergessen."

"Wie bist du auf die Idee für dieses Schiff gekommen? Wo hast du es bauen lassen?"

[Sousanna]

"Oh soll ich es dir zeigen?" Sousannas Aufregung war schon beinahe niedlich zu nennen. Vor allem die Art, wie sich ihre Wangen noch etwas mehr röteten, ließ sie jung, ja beinahe aufgedreht aussehen.
"Ich hab dir doch gesagt, dass ich früher viel gehandelt habe. - Das ist der Lohn dafür. Endlich hab ich es in Empfang nehmen können." Sie strahlte noch ein wenig mehr. "Von diesem Galidings musst du mir aber noch mal mehr erzählen. Schiffe hat er gebaut und Regeln vergessen? Der klingt nach einem großen Herrscher. Oder ... war er überhaupt ein Herrscher?"

[Angelique]

Angelique nickte und schickte sich an, neben Sousanna herzugehen. "Ja, zeige esmir bitte." SIe wirkte dabei wie eine freundliche, geduldige Erwachsene, die einem begeisterten Kind folgte. Es wirkte wie eine verkehrte Welt.

"Caligula, war ein Kaiser des Alten Rom, ein Vorgänger deiner Kaiser im Neuen Rom. Er lebte zur Zeit, als auch der HErr lebte, und sein Motto war: oderint, dum metuant. Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten.
Sein Name heißt Stiefelchen, weil seine Soldaten ihn als Kind liebten und Stiefel schenkten.
Als er Kaiser wurde, ließ er richtig die Sau raus und feierte, als gäbe es kein Morgen. Schnell galt er als wahnsinnig, denn die alten Werte und in ihre Privilegien verschanzten Senatoren waren Zielscheibe seiner Scherze. Er heiratete seine Schwester und machte sein Lieblingspferd zum Konsul.

Die Prunkschiffe zu Ehren der Diana waren auch gleichzeitig der Schauplatz seiner wilden Orgien. Er hätte dir noch das eine oder andere beibringen können. Vom Charakter her war er wohl wie diese Unperson Alain, wenn man manchem Autor Glauben schenkt."

[Sousanna]

Begeistert hatte Sousanna die Hand der Kindervampirin genommen. Leichtfüßig führte sie ihre Freundin über das Deck, während sie ihren weisen Erzählungen. Dabei wurden ihre Augen ganz groß und rund.
"Das klingt ja nach einem sehr besonderen Kaiser. Also nicht unbedingt einen, den man als Kaiser haben wollte.", überlegte sie und sah die kleine Malkavianerin dann nachdenklich an. "Hat denn keiner dagegen aufbegehrt, wenn er den Senat so zornig gemacht hat?"

Sie kamen an einem winzigen Hain aus Palmen vorbei, den Mosaiken, die sie gerade umbauen ließ und die alte byzantinische Kunst zeigten. Ein kleiner Lustgarten auf dem Wasser. Man mochte vergessen, dass sie auf einem Boot waren, so wenig schaukelte der Boden und so gut duftete das dunkle, warm schimmernde Holz. Wohin man auch kam, die Mannschaft grüßte die Ravnos ehrerbietig und freudig.
Diese schien beinahe die schmalen Treppen hinabzuschweben, wo sich ein kleines Wunderwerk der Baukunst fand. Man mochte kaum glauben, dass der Festsaal in ein Schiff passte. Auch wenn er gewiss nicht riesig war, würde man hier doch tanzen und residieren können.
Noch war alles im Umbau, aber doch man mochte erkennen, welcher Glanz, wie viel Luxus und Pracht hier herrschen mochten, wenn die Herrin dieses Schiffes einst alles so gestaltet hatte, wie es ihr gefiel. Nichts, was Angelique je von Sousannas Besitztümern kannte, würde auch nur im Ansatz an dieses Schmuckstück herankommen.

[Angelique]

"Klar, haben die dagegen aufbegehrt", meinte Angelique lachend, während sie sacht über Kostbarkeiten strich. "Aber die Senatoren hatten schon alle Macht unter seinem Großonkel Tiberius, den alten Lustgreis, verloren. Und außerdem hat er seine Garde gehabt. Wie gesagt, die Soldaten liebten ihn, obwohl oder vielleicht gerade weil er keine großen Kriege führte.
Ich glaube ja, Tiberius, der häßlich und durch Krankheit entstellt wurde, war ein Blutvasall der Nesiferitu und Caligula einer der Orakel, die beide mit Gewalt das Machtmonopol der Ventrue in Rom brachen.
Deshalb sind wir wohl bis heute die ,Niederen Klans'."

"Uiiii", machte die Kleine dann, als sie den Tanzbereich sah, vergaß ihre weise Rede und begann zu unhörbarer Musik zu tanzen.

[Sousanna]

"Oi", machte die Ravnos und schien einmal mehr so beeindruckt wie es nur ein Kind oder ein sehr ungebildeter Mensch sein konnte. Die dunklen Augen schienen groß und rund. Zwei glänzenden Münzen gleich. "Das klingt ja..." Sie schien gar nicht zu wissen, wie das klang. "Es klingt ... beeindruckend und schrecklich..."

Auch sie unterbrach, als die Kindsvampirin zu tanzen begann. Mit einem Strahlen gesellte sie sich zu ihr, um frei und unbeschwert mit ihr zu tanzen. Ihr leises, nicht sonderlich geübtes, aber doch melodisches Summen erfüllte den Raum, während sie so über das dunkle Holz mit den hellen Einlagen schwebten. Man mochte die Zeit dabei vergessen.