[1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

[September + Oktober '18]

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Simon
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[1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Simon »

Am Porto Antico schlug das Wasser gegen die alten Hafenmauern, die mehr gesehen, gehört und erduldet haben mussten als der Mann in dem geflickten Mantel, der über sie gebeugt dastand und ins trübe, dunkle Wasser darunter blickte. Er erwartete nicht, dass er darin irgendetwas erkennen würde - eine Einsicht, eine Antwort auf die Fragen, die sowohl die Sterblichen als auch die Kainskinder umtrieb, oder gar eine Lösung für die Geheimnisse, denen er selbst nachjagte.

Eigentlich blickte er weniger ins Wasser, sondern lauschte mehr, hörte auf das Schlagen der Wellen, das Kratzen der Ratten und des anderen Ungeziefers, von dem es in der Stadt noch mehr zu geben schien als Menschen, und auf das gelegentliche verängstigte oder aufgeregte Herzklopfen eines Straßenkindes, das nicht genau wusste, ob es dem Fremden einen über den Schädel ziehen und sein Hab und Gut an sich nehmen oder lieber hinter der nächsten Mauerecke verschwinden sollte.

Der Fremde war ganz auf seine Sache konzentriert. Er stand einfach da, hörte auf die Stimmen des Hafens und wiegte sich leicht in der Melodie der Umgebung. Er suchte etwas, und was es auch war, entweder war er näher dran oder noch immer weit entfernt.
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Angelique
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Angelique »

In die Melodie des Hafen mischte sich, wie so häufig bei den heißblütigen Genuesen, Gesang. Eine Quelle dieser Lieder war, etwas abseits stehend, eine kleine Gestalt, die im Schatten des großen Wachturms stand, der seit einiger Zeit auf der schroffen Felszunge am Rande des Hafenbeckens gebaut wurde.

Ein Mädchen, unmündig und dünn, stand mit nackten Füßen auf dem kalten Stein. In der kühlen Meeresbrise flatterte der abgenutzte lederne Pilgermantel und das lockige Haar des Kindes im Wind. es musste seinen breiten Schlapphut mit der Jakobsmuschel festhalten, damit er nicht fortwehte.

Süße, helle Melodeien, die eher in die schönsten Kirchen gehörten, entschlüpften der Kehle der Kleinen in den unbekümmerten Wind und priesen das helle Mondlicht am Himmel.
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Simon
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Simon »

Die Melodie ließ ihn aufhorchen, so dass er sich umwandte und unvermittelt den Kopf schieflegte, als er die kleine Gestalt bemerkte, die da ihren Schlapphut festhielt. Der Fremde legte einen Finger auf die Lippen und lauschte der Melodie, die, vermischt mit dem Rauschen des Windes und dem Schäumen des Meeres, einen ganz anderen Klang bekam, und es wirkte, als würde er in dieser seltsamen Kakophonie schwelgen.

Schließlich, nachdem er einige Augenblicke zugehört hatte, ging er auf das Mädchen zu und blieb auf zwei Armeslängen Abstand stehen, wobei er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und mit aufrichtiger Neugier die Hinzugekommene musterte. In seinem Blick lag etwas Merkwürdiges, womöglich eine Erinnerung an frühere Zeiten, doch was darin fehlte, war jene Geringschätzung von Erwachsenen gegenüber Kindern. Er wartete höflich, bis sie geendet hatte, und sagte dann: "Entschuldige bitte, aber ich konnte nicht anders, als deinem Lied zu lauschen. Würdest du mir sagen, wo du es gehört hast? Mir scheint, dass ich es kenne, kann mich aber gerade nicht entsinnen."

Das Lächeln den Fremden war offen, mit einer Mischung aus Naivität und Weisheit, wie man sie von Wanderern auf der Straße kannte: Hoffnung auf ein besseres Leben an einem anderen Ort, vermischt mit der Kenntnis, dass Hoffnung kein Ersatz für Sicherheit war.
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Angelique
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Angelique »

Das Mädchen legte auch den Kopf schief und lächelte. "Ach, das Lied. Es ist Er quant s'embla·l foill del fraisse, Wenn die Blätter sich von der Esche trennen. Es kam so mir in den Sinn."

Die helle, klare Singstimme wirkte schüchtern und etwas verhuscht. Die großen Kinderaugen, die den Mann anstarrten, waren von starker Intensität.
Das Kind war von einer tiefen Melancholie erfüllt und wirkte irgendwie geheimnisvoll.

"Ich heiße Angelique", sagte es schließlich.
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Simon
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Simon »

"Ein schönes Lied, Angelique, und es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen", sagte der Fremde freundlich und erwiderte den Blick des Mädchens. Seine Augen waren so braun wie die eines Rehs, doch Unschuld konnte man darin nicht erkennen. Nur eine seltsam tiefsitzende Sehnsucht nach etwas, das nicht fassbar war. "Man nennt mich Simon."

Er deute eine Verbeugung an. Etwas in seine Art sagte ihr, dass er einst so etwas wie ein Schausteller gewesen war, aber die ergrauten Schläfen und die Furchen im Gesicht wiesen auf ein Leben einiger Mühen und weniger Freuden hin. In seinen Augen hingegen lag der Schalk, vermischt mit aufrichtiger Neugier.

"Ich nehme einmal an", sagte Simon im Plauderton, "dass dir weder kalt ist, Angelique, noch dass du nach etwas Geld fragen wirst, um in dieser Nacht eine Unterkunft zu finden. Liege ich das richtig?"
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Angelique
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Angelique »

"Das siehst du vollkommen richtig, Simon", erwiderte das Kind. Seine Augen waren ebenfalls wie die eines Rehs und die Unschuld, die in ihnen lag, war nicht die eines Kindes, sondern die eines Narren. Narren konnten morden oder sogar Könige sein und blieben doch unschuldig.

Neugier konnte man auch in den braunen Tiefen von Angeliques Augen lesen, als sie fragte: "Was führt dich an den Hafen? Die Flut ist noch lange hin und entladen wird im Moment nichts. Ich singe nur im Licht des Mondes und erfreue mich am Rauschen des Meeres und dem Raunen der Menschen."
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Simon
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Simon »

"Es scheint", erwiderte Simon darauf, "haben wir etwas gemeinsam." Das Lächeln verschwand von seinen Zügen und machte kleinen, kaum sichtbaren Falten Platz, die in seltsamer Harmonie zu dem Grau seiner Schläfen standen. Ein Gesicht wie eine Geschichte von der Straße.

"Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Das Singen habe ich zwar aufgegeben, aber dem Lauschen fröhne ich genau wie du. Bisher aber ist mir die Stadt noch fremd, fremder als meine alte Heimat. Daher bin ich hier und höre ihr zu." Er ging zurück zu Mauer, setzte sich darauf und klopfte auf den Stein neben sich. "Wenn du magst, setze dich zu mir. Sing etwas. Ich werde mit Freuden zuhören."
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Angelique
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Angelique »

Das ließ sich das Mädchen nicht Zweimal sagen. Sie setzte sich und begann eine Weise der Provence, wo das Sonnenlicht noch lange die Nacht erwärmte, selbst wenn es dunkel geworden war.
Hell erklang ihre Stimme. Sehnsuchtsvoll war ihre Weise.

"Altas undas que venez suz la mar
que fay lo vent çay e lay demenar
de mun amic sabez novas comtar,
qui lay passet? No lo vei retornar!
Et oy Deu, d'amor!
Ad hora.m dona joi et ad hora dolor!

Oy, aura dulza, qui vens dever lai
Un mun amic dorm e sejorn' e jai,
Del dolz aleyn un beure m'aporta.y!
La bocha obre, per gran desir qu'en ai.
Et oy Deu, d'amor!
Ad hora.m dona joi e ad hora dolor!

Mal amar fai vassal d'estran païs,
Car en plor tornan e sos jocs e sos ris.
Ja nun cudey mun amic me traÿs,
qu'eu li doney ço que d'amor me quis.
Et oy Deu, d'amor!
Ad hora.m dona joi e ad hora dolor!"

Ein Lied an die See und den Wind, Kunde zu geben von dem Liebsten, der über das Meer fortgezogen war. Ein Lied von der Liebe und wie sehr sie schmerzte, wenn der Liebste fort war.

Als es endete seufzte das Mädchen schwer.
Und so voller Inbrunst hatte es gesungen, wie es nur die konnten, die gefühlt und erlebt hatten, was unerfüllte Liebe und Sehnsucht hieß.

Seltsam bei einem so junge Mägdelein.

Charisma + Vortrag: Olol rolled 43. (9 + 9 + 6 + 9 + 9 + 1 = 43)
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Simon
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Simon »

Auch wenn er die Worte nicht verstand, so versank er darin, verfiel in eine merkwürdige Trance aus Freude und Trauer - eine Sehnsucht, die noch frisch war. Simons Augen, die er halb geschlossen hatten, zeugten von einer unerwiderten Liebe, von einem Splitter in seinem erkalteten, toten Herzen, den er herauszuziehen nicht imstande war.

Wie gebannt starrte er auf Angelique, hing förmlich an den Lippen, während sie sang, und konnte auch den Blick nicht von ihr abwenden, aks sie geendet hatte. Sein gesamtes Sein schien auf sie gerichtet, jedoch nicht erfüllt von Sehnsucht, sondern nur von dem tiefen Bedürfnis, wieder dort zu sein, wo man ihn willkommen hieß, wo man ihn umarmte und liebte.

"Ich habe sie verloren, Angelique", sagte Simon gedankenverloren, in den Bann dieser lieblichen Stimme gezogen. "Meine Sofia ... Wo soll ich sie nur wiederfinden ...?" Und er schloss die Augen, doch war der Kopf weiterhin in die Richtung des Mädchens geneigt, als wäre er nicht fähig, sich aus ihrem Bann zu lösen.
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Angelique
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Re: [1012] Die Stimmen der Stadt [offen]

Beitrag von Angelique »

Mitfühlend sah das Mädchen Simon an. Sacht zur Töstung tätschelte sie seine Hand. Ihr Händchen war samten, aber sehr kühl.

"Ist diese Sofia noch am Leben? Dann kann man sie gewiß wiederfinden. Ich könnte dabei helfen, wenn du willst."
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