[1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

[November '18]

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Simon
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Simon »

Simon löste die Hand aus ihrer, als Sousanna den Blick abwandte, und legte sie sanft auf ihre Schulter.

"So geht es uns beiden", sagte er sanft, und wieder war die Stimme die des großen Bruders, nicht des Sängers oder Wanderers. Nur des ... des Menschen. "Die Vergangenheit prägt uns, Sousanna." Er streichelte sanft ihre Schulter. "Was bedeutet ein Gesicht, wenn man es nicht im Spiegel sieht? Eine Stimme, wenn sie niemand hören will?"

Er hielt inne, überlegte. Dann: "Schönheit, die niemand zu sehen bereit ist?" Diesmals legte Simon ihr die Hand sanft auf die Wange, eine Geste, die er seit langer Zeit zu kennen schien, und strich darüber, als wollte er Tränen wegwischen. "Cara", sagte er sanft, tröstend, "wir können nicht mehr dieselben sein. Ich weiß es, seit ich drei meiner Schwestern begraben musste."

Schließlich strich er mit den Fingern sanft über Sousannas zartes Gesicht und hinunter zum Kinn, nahm es zwischen die Finger und drehte ihren Kopf zu sich. "Aber vielleicht", fuhr er mit einem Anflug von Hoffnung fort, "gehören wir eine Weile zueinander." Er lächelte, und es passte zu seiner Stimme, zu seinen offenen, ruhigen Augen.
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Sousanna
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Sousanna »

Rote Schleier schimmerten im ebenhölzernen Braun der Rehaugen. Etwas um ihre Lippen herum schien zu vibrieren. Dann aber schmiegte sich ihr Gesicht in seine Hand. Einen Moment lang schlossen sich ihre Augen und eine winzige, hellrote Träne löste sich unter den langen, schwarzen Wimpern.
"Man hat mir das selten angeboten.", hauchte sie. Dann legten sich ihre Finger an sein Handgelenk und streichelten es sanft. "Die letzte, der ich es glaubte, war eine deiner Schwestern im Blute." Sanft erwiderte sie seinen Blick und ihr Lächeln schien ehrlich, wenn auch zerbrechlich.

"Willst du mir von deiner sterblichen Familie erzählen?", bat sie dann sanft. "Dann erzähl ich dir von meiner."
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Simon
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Simon »

Simon nickte und wischte ihr die Träne weg, bevor er begann, wobei seine Stimme nicht eines Erzählers war, sondern erneut die eines Menschen, der nichts weiter hatte als seine eigene Geschichte:

"'Mein Sohn', hat mein Vater einmal zu mir gesagt, 'nichts ist von Dauer'. Er war ein verarmter Adliger, kaum einen Fetzen Kleidung am Leib und gerade genug Land, damit die Familie nicht verhungerte. Aber elf Mäuler waren schwer durchzubringen." Er seufzte, schloss kurz die Augen und fuhr fort: "Meine ältesten Geschwister - Maria, Francesca und Diana - wurden eine nach der anderen verheiratet, noch bevor ich fünf Jahre alt war. Mit sechs begrub ich Maria - sie starb im Kindbett. Francesca folgte bald; als zweites Kind hatte sie ihre Schwester sehr gern gehabt. Ihr brach das Herz. Und Diana ..." Er hielt inne und musste selbst eine Träne unterdrücken. "... Diana ereilte das Unglück eines übermäßig eifersüchtigen Gatten."

In seinem Gesicht stand geschrieben, dass Diana wohl eine zweite Mutter für ihn gewesen sein musste. Er seufzte einmal, ließ aber nicht ab, Sousanna über die Wange und durch ihr Haar zu streicheln. "Meine Brüder verstreuten sich rasch, und kurz bevor der letzte, der zweitjüngste Sohn aus unserer Sippe sich davonmachte, meinte Vater, es sei Zeit, dass ich ins Kloster käme." Ein Anflug von Ironie lag in Simons Lächeln, das kaum seine Augen erreichte. "Zu erben gab es ja nichts."

Er machte eine Pause und zog Sousanna sanft an sich. "Als Letzte blieben ich und die Jüngste: Catarina." Wieder war da dieser Blick, als wollte er es lieber vergessen. Tatsächlich schloss er die Augen, und wie bei Sousanna zuvor, rollten auf bei ihm die roten Tränen die Wange hinab.

Eine Weile blieb er stumm.
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Sousanna
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Sousanna »

Aufmerksam lauschte die Ravnos. Suchte ihr Gegenüber mit Berührungen und Blicken zu beruhigen. Wie Samt strichen ihre Fingerspitzen über seine Wange, versuchten die Narben auf der Seele zu streicheln. Ein wenig Linderung zu bringen während er diese schweren Worte über seine Lippen brachte.
Doch da er den Namen seiner kleinen Schwester aussprach, schien sich etwas in ihrem Blick zu verändern. Schmerz, tiefer, roher Schmerz blickte ihn für einen Augenblick an, da sie sich an ihn schmiegte. Für einen Moment schien der zarte Körper noch versteift.

Dann aber erwiderte sie seinen Blick erneut. Zärtlich strich sie seine Tränen zur Seite und schmiegte sich vorsichtig an Simon.
"Was war mit Catarina?", fragte sie leise. Etwas an der Art, wie ihre Lippen den Namen liebkosten, ließ an eine alte Liebschaft denken.
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Simon
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Simon »

Wieder war es an ihm, tröstend ihren Kopf zu streicheln.

"Catarina war die jüngste von uns, aufgeweckt, lustig, ganz Papa zu seinen besten Zeiten", sagte er leise. "Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, sie und ich. Meine Brüder haben sie immer aufgezogen, weil sie kleiner und schwächer war. Ihr gesagt, sie würde niemals so schön werden wie ihre anderen Schwestern ... die sie kaum gekannt hat." Er schloss die Augen. "Eines Tages, als Vater nicht da war, schlief Catarina am Feuer ein, während ich alleine da war. Ich musste eingeschlafen sein ..."

Die Tränen traten nur deutlich hervor. Er vergrub seine Hand in Sousannas Haarschopf. "Als ich aufwachte, war sie weg. Ich lief raus in den Hof, rief nach ihr, suche in allen Ecken, vielleicht hatte sie sich nur versteckt." Er schüttelte den Kopf. "Ich konnte sie nicht finden, und wenn Vater zurückkäme ... Ich wusste nicht, was ich tun sollte."

Die Furchen in seinen Gesicht vertiefen sich. "Ich habe vielleicht eine halbe Stunde nach ihr gesucht, bin aufs Feld hinausgerannt." Er kniff die Augen zusammen und begann zu zittern. "Da lag sie, meine kleine Catarina, meine cara, und über ihr ein Mann ..." Wieder Tränen. "Sie war nicht einmal acht Jahre alt. Ich weiß nur, dass ich geschrien habe ..."
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Sousanna
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Sousanna »

Sousanna ließ ihn. Ließ seine Trauer zeigen. Seine Verzweiflung. Sie war einfach da. Konnte ihm keinen Kummer nehmen, doch sie konnte ihn ertragen.
Zart legte sich ihre Hand an seine Wange, streichelte sie. Wischte nicht die Tränen weg, denn sie zierten eine geschundene Seele.
Ruhig bot sie ihm an das Gesicht an ihrer Schulter zu vergraben, strich ihm durchs Haar.

"Das klingt schrecklich.", hauchte sie leise.
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Simon
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Simon »

Simon beugte den Kopf, nahm die Einladung des Trostes an.

"Ich erwachte mit einer blutigen Hinterkopf und stechenden Schmerzen in allen Gliedern", sagte er flüsternd. "Dann war da das Gesicht von Vater. Bleich wie der Mond, bleich wie Catarinas Gesicht. Kein Vorwurf darin, keine Wut ... nur Trauer um die vierte Tochter, die er verloren hatte ... "

Simon brach ab. Nichts und niemand hätte ihn mehr dazu bringen können, jetzt weiter zu sprechen, die Geschichte bis zu ihrem bitteren Ende weiter zu erzählen. Sousanna konnte sich denken, wie es weiterging. Konnte sich das kalte, nasse, kleine Grab vorstellen, in der Catarinas Leiche endete.

Schließlich hob Simon den Kopf und blickte Sousanna direkt in die Augen, die seine so ähnlich waren, den gleichen Schmerz kannten. "Den Rest", sagte er leise, wobei sein Gesicht irgendwie grauer wirkte, älter, stärker zerfurcht, "kennst du."
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Sousanna »

Die Schöne schwieg. Es gab keine Worte für das Leid. Und auch wenn er ihre Frage nicht beantwortet hatte. Nicht den Kern ihrer Frage auch nur gestreift hatte, blieb sie bei dem Sänger.
Ruhig strichen ihre Finger durch sein Haar, während sie nichts tat, als ihm Nähe zu spenden.
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Simon
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Simon »

Simons Augen blieben geschlossen, seine Lippen stumm. Er hatte das Gefühl, bereits zu viel erzählt zu haben. Doch in allem, was er tat, wie er sich bewegte, wie er sich in ihr vergrub - in ihren Haaren, dem Stoff ihrer feinen Kleidung - lag unendliche Verzweiflung und dem Verlangen nach der einen Sache, die er wohl nie mehr in seiner Existenz bekommen würde: Liebe.

"Verzeih mir", sagte er leise. "Dies ist meine Last, nicht deine. Ich habe dir versprochen, von meiner Familie zu erzählen, stattdessen ... stattdessen hörst du nur das Leid eines einsamen Mannes ..."
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Sousanna
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Re: [1013] "Hier sind wir ohne Titel..." [Sousanna]

Beitrag von Sousanna »

"Und wenn es dieses Leid ist, das bleibt?", fragte sie. Etwas Zerbrechliches lag in der Stimme. Etwas, das von selbst erlebten Leid und dem Balsam des Verständnis sprach.
Sacht führte sie seine Hand an ihre Lippen. Küsste sie. Küsste jeden einzelnen Finger. "Wie eine Heilerin eine Wunde erst säubern muss, muss auch ich dir erst deinen Schmerz nehmen, ehe ich dir Liebe geben kann."

Schon immer war es die ureigenste Kunst der Spinne gewesen, ihre Fäden zu spinnen. Und hier spann sie ein besonderes Netz. Einem, dem man nur entkommen konnte, wenn man sich das Herz bei lebendigen oder totem Leib herausriss.
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