[1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

[Juni '19]
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Signora Achilla
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Signora Achilla »

Oh ja, wie die Signora erschauerte. Es war eine erstaunlich menschliche Regung für einen unmenschlichen, ausgehöhlten Körper. Doch sie hatte ein Ohr für die Märchen und Gerüchte, Geschichten und die getauschten, geflüsterten Geheimnisse, die die Verborgenen horteten und von denen hier und da immer einmal ein Echo unter ihresgleichen weiter getragen wurde.

Bevor sie nach Genua gekommen war, hatte sie niemals einen vom Clan der Tzimisce getroffen. Doch sie waren verwurzelt in den Schauergeschichten aus dem Osten, von Petschenegen und Cumani. Ob Alain ähnliche Wurzeln hatte, wusste sie nicht. Doch in dem Augenblick war es leicht, sich solcherlei vorzustellen.

"Ich werde keine minderwertige Unterhaltung in diesen Hallen dulden!"
Ganz natürlich verbeugte sie sich zu den Worten, noch immer eher in der Art der Männer, deren Kleider sie gerade trug. Maskeraden und Kostüme, einmal getragen, wollten mit Leben gefüllt werden.
Die Schausteller taten es ihr gleich und nach, jeder nach seiner Fasson, geschmeidig oder elegant, steif oder unbeholfen, beeindruckt, ehrfürchtig oder sogar angsterfüllt. Keiner war unter ihnen, der nicht wusste, wie schnell ein Leben verlöschen konnte. Alle waren gekommen, weil sie sich goldene Gunst und Künstlerruhm verdienen wollten.

Mittlerweile waren auch jene dazu gestoßen, die vorher den Wagen begleitet hatten. Sie hatten einige Sachen mit herein geschleppt, die Instrumente und Requisiten, die sie brauchen würden. Der dickliche Mann mit dem prächtigen Schnurrbart, der auch den Wagen gelenkt hatte, gesellte sich zur Signora selbst, mit einer Robe oder einem Kleid über dem Arm und einigen Masken in den Händen.

Für den Moment ignorierte sie ihn jedoch und ohnehin machte auch er einen würdevollen Kratzfuß mit allen übrigen.
Dann sagte die Signora: “Ein Rahmen wie dieser ist ein großer Ansporn für jeden, der auf die Bühne tritt.” Sie ging - schritt! - langsam zur Bühne herüber, während die Fahrenden begannen, sich bereit zu machen. Ein wenig Abseits gab es wohl bereits Zank: Wer sollte zuerst? Wo waren die Ersatzsaiten für die Leier? Wer hatte Minnas Wangenrot und die Augenkohle nass werden lassen?
Vielleicht verschaffte die Signora der Truppe gerade nur etwas Zeit. Der dickliche Mann - Maestro Mauricio - scheuchte den Zwist im Hintergrund beiseite und sorgte dafür, dass am Rande eine Art Bereich für die Vorbereitung improvisiert wurde, mit ein paar Hockern und den mitgebrachten Kisten.

“...Licht oder Schatten, alles oder nichts”, ergänzte die Signora gerade und sah mit ihrem Narrengesicht zu Alain hin. “Für heute Nacht seid Ihr, edler Alain, großzügiger Gastgeber, gebeten, unser Licht zu sein: Eure Aufmerksamkeit, Euer Lächeln und Euer Wohlgefallen sollen die Blumen dieser Künste und ihrer Künstler zur Blüte bringen.” Sie unterstrich dies mit einer Geste für ihn, nach Art der Imperatoren und Adligen im alten Rom, wenn es galt, Gnade und Wohlwollen kundzutun: der erhobene Daumen.

Sie machte eine Pause von der Art von Bühnenpausen, bedeutungsschwer und tragend. “Für heute Nacht und solange Ihr es gestattet, will ich damit der Schatten sein, in welchem jene gehüllt werden, die in Blüte, Pracht und Kunst nicht Euer Gefallen zu erringen wussten.”
Und damit wendete sie auch ihre behandschuhte Hand, so dass der Daumen nach unten wies.
Mit einem Mal war es totenstill unter den Schaustellern. Sie alle wussten dies bereits, doch nun war es auf einmal echt und lag in dieser Nacht direkt vor ihnen.

Die Signora trat wieder etwas von der Bühne fort und machte Platz. “Geben wir den Musikern und Künstlern etwas Zeit, Stimme, Klang und Form zu finden”, bat sie geschmeidig. “Sollen die zwei Jüngsten unter ihnen ein wenig Zeit erkaufen! Sebastian und Laurelle, zart und jung wie der Frühling, Bruder und Schwester oder Schwester und Bruder, wie aus einem Guss…”

Mit der Ankündigung eilten zwei herbei, auf den ersten Blick zwei Jünglinge, auf den zweiten vielleicht doch Mädchen oder keins von beidem richtig. Hübsch waren sie wohl und sauber hergemacht. Einer von ihnen trug eine verzierte Leier, der andere eine Weidenflöte und sie betraten mit einer gewissen Scheu die Bühne. Doch sie taten, was wohl angeraten war und begannen, zu spielen, um diesem Auftakt eine Untermalung zu geben, den Schaustellern ein wenig Zeit und dem Gastgeber wohl die Gelegenheit, dies alles für sich in Augenschein zu nehmen.

Die Signora gesellte sich zu ihm und nahm nur im Vorübergehen eine der Masken mit sich, die Mauricio vorher getragen und dann wohl abgelegt hatte.
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Alain le Beau
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Alain le Beau »

Amüsiert beobachtet der Tzimisce, wie die Signora vor ihm kratzbuckelt. Dann nickt er gönnerhaft. "Obgleich selbst niedere Talente ihren Platz haben", erläutert er der Nosferatu. "Ich denke jedoch, ein gewisser Anreiz liegt in dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Wenn ihr einen ruhigen Ort benötigt, um mit jemanden darüber zu meditieren, bin ich sicher, es wird sich einer finden."

Alain lehnt sich zurück und genießt das Spiel des androgynen Geschwisterpaars ebenso wie dessen Anblick. "Ihr enttäuscht nicht, werte Achilla", sagt er leise. Dann schließt er die Augen und lauscht der Musik. Ist er gebannt von diesen ersten Klängen oder sitzt er bereits darüber zu Gericht? Auf dem ruhigen Antlitz ist das nicht abzulesen. Und das kleine, feine Lächeln im Mundwinkel hilft wenig. Es irritiert eher.
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Signora Achilla
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Signora Achilla »

Die Signora neigte dazu den Kopf. Sie konnte anmutig sein, wenn sie wollte, Dies war die geübte Grazie von jemandem, der für die Bühne geboren war. Vielleicht war es ja so gewesen, irgendwann einmal.

Sie hatte wohl einen der Augenblicke genutzt, in welchen Alains Aufmerksamkeit bei der Bühne gewesen war oder bei den kleineren Dramen der Spielleute am Rande.
Als sie nun sprach, von ihrem Standort bei ihm, sah ihm eine neue Maske entgegen. Sie war ganz weiß gemacht, aus hellem und weichem Birkenholz und mit weißkalkiger Farbe. Nur ein paar schwarz und rot glitzernde Tropfen waren wohl darüber geronnen und hatten Schlieren hinterlassen. In ihrem Schimmern setzten sie sich von dem staubigen Weiß köstlich ab. Etwa ein Dutzend waren es - dreizehn, um genau zu sein.

"Und das soll wohl denn der Titel dieser Nacht werden", griff die Signora seidenglatt auf, was Alain eben gesagt hatte.
"Vergänglichkeit, ihre Kostbarkeit, Sterblichkeit wohl… "
Sie ließ den Satz wohl absichtlich einfach ins Leere auslaufen ohne ihn zu beenden. So musste sie neu ansetzen und hob die Hände wie anpreisend zur Bühne hin: "Dies erste Lied hörte ich einmal nur in den Alpen, dort am zugefrorenen Pass. Es war da als Geschichte erzählt, die noch von weiter her kam. Der Erzähler schwor Stein und Bein, dass sie über einen Edlen gehe, aus seiner Heimat. Doch ich glaubte immer, es besser zu wissen.” Da war eine kleine Pause, wie ein geheimes Lächeln hinter der starren, bleichen Maske.
“Seppigio hier hat ein Lied davon gemacht."

Damit breitete sie die Arme zu einer ausladende Geste zur Bühne hin aus. Dort trat nun Seppigio auf, ein untersetzter Italiener mit öligem Haar und einer gewissen Hochmut im Blick. Vielleicht war das auch nur, wie er die Furcht vor dem ersten Auftritt des Abends überspielte, dich es mochte ihn wohl nicht eben gefällig erscheinen lassen. Er zwirbelte seinen Bart zwischen seinen kurzen, flinken Fingern.

Die beiden Geschwister wichen in den Hintergrund und stimmten eine neue Weise an. Die Flöte dominierte hier, klar und kühl wie die Nachtluft.

Seppigio begann zu singen. Seine Stimme hatte einen rauchigen, rauen Klang. Ob das schön war, lag wohl im Ohr der Hörerschaft, doch es passte wohl zu der gesungenen Geschichte:

"Ich kam zu dem Haus auf dem Hügel
Und ich sah in das Fenster hinein
Und ich sah dort ein Mädchen nähen
in blassestem Mondenschein."


Die Melodie klang süß und zart. Was Seppigio nicht in der Schönheit seiner Stimme besaß, das wollte er durch die Erzählung wettmachen: Es klang halb geflüstert als wäre er wirklich ein verborgener Beobachter. Es war eine Einladung, sich in den Bann ziehen zu lassen.

"Und sie nähte mit Spinnenseide,
besetzt mit den Perlen der Nacht,
einen Stoff, so weiß und so fließend,
als wär er aus Nebel gemacht.
..als wär er aus Nebel gemacht."


Die Musik der Flöte endete hier, als sie abgesetzt wurde und beide Geschwister zum Spiel ihrer Leier mit in einen Refrain einfielen. Hier und da taten das auch andere der Fahrenden. Vielleicht diejenigen, die es gut mit Seppigio meinten? Oder es war eine gute Gelegenheit, die eigenen Stimmen zu ölen?
Der Effekt war ein eigenartiger: auf einmal waren Alain und die Signora mitten in dem Gesang:

"Dreizehn Flüsse gehen durchs Land
und sie scheinen mir in verfluchtem Licht
ist’s meiner auch, der in Schatten führt
so fürchte ich die Nacht doch nicht."
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Alain le Beau
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Alain le Beau »

Der Blick des Tzimisce liegt auf dem Sänger. Ein kalter Blick. Ein bohrender Blick. Ein Blick, den das kleine, sarkastische Lächeln im Mundwinkel nicht entschärfen kann. Im Gegenteil: Es ist das Lächeln des Richters, der den Angeklagten bereits am Baum hängen sieht, das Lächeln der Katze, die eine Maus in die Ecke getrieben hat. Seppigio fühlt sich klein und erbärmlich unter diesem Blick.

"Eine ganz exzellente Geschichte", sagt Alain leise. Ein Moment der Hoffnung. Dann fährt er fort: "Ich denke, jeder Tavernenpöbel wäre davon beeindruckt. Ich muss es wissen, ich wandle nächtlich unter ihnen." Er nickt, ein, zweimal. Dann lächelt er nicht mehr. "Aber ich bin keiner von ihnen."

Sich zu der Nosferatu wendend und den Sänger keines Blickes mehr würdigend, spricht Alain ausgesprochen freundlich. "Es ist gut, den Abend mit dem Auftritt eines Clowns zu beginnen, werte Freundin des ausgefallenen Humors. Doch, doch. Ein exzellenter Einfall. Ein Lachen befreit den Geist und bereitet ihn auf die wahren Freuden des Gesangs vor." Dann lehnt er sich zurück und faltet die Hände. "Also dann: Führt die Künstler herein!"
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Signora Achilla
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Signora Achilla »

Dies ließ Stille einkehren. Für ein, zwei flüchtige Momente war kein Laut zu hören, denn keiner wollte mehr seine Stimme zu dem Lied dazu geben. Es war noch lange nicht vorbei, hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, sich zu entfalten. Im Frühjahr konnten Blütenknospen noch am Strauch erfrieren.

Die Signora benutzte die Stille wie das Werkzeug, das sie war: Ein Messer, mit dem abgeschnitten wurde, was nicht gefiel. Sie machte einen Wink gen Mauricio und dieser nickte dem Schwertschlucker von zuvor und auch der breitschultrigen Blonden einmal zu.

Seppigio auf der Bühne hatte mit einem Schlag allen Hochmut aus dem Blick verloren. Er sah zur Signora hin und reckte die Hände - eine Gelegenheit würde es doch wohl noch geben? Doch die Signora trat nur etwas zurück, wohl aus dem Sichtfeld von Alain heraus, der dort lag, und hob die Hände an Seppigios Maske. Behutsam nahm sie sie ab und zerbrach das dünne Holz in ihren Händen.
Sie ließ die Teile fallen, nahm wieder die Narrenmaske zur Hand und setzte sie auf - wohl bis Mauricio ihr die nächste bringen würde. Es war ganz Alain überlassen, ob er sich umwandte, um dies genauer zu betrachten oder nicht.


“...aber es ist noch gar nicht fertig…!” rief Seppigio da, offenkundig verzweifelt. Das war er nicht zuletzt wohl auch, weil nun der Schwertschlucker und die große Frau auf die Bühne kamen. Die beiden Geschwister waren vom unglücklichen Sänger zurückgewichen wie Nebelschemen vor der Sonne.

“...und Kunst soll es geben”, griff die Signora also wieder Alains Worte auf, noch während sich nun das Drama auf der Bühne entfaltete und der Sänger von der Bühne geschleift wurde, zur Seite hin und zu Maestro Mauricio selbst.
“Doch Euch gebührt die Wahl, ob Ihr noch ein letztes Mal vom glücklosen Possenreißer kosten wollt”, merkte sie mit einer zarten, melancholisch-langsamen Geste etwas leiser an.
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Alain le Beau
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Alain le Beau »

Der Tzimisce verfolgt die Vorgänge zurückgelehnt, die Fingerspitzen vor seinem Gesicht aneinandergelegt, die Augenbrauen leicht gerunzelt. Wie die Statue eines Gottes. Seppigios Ausruf blieb ohne Reaktion. Vor diesem Gericht gibt es keine Gnade. Nur auf die Frage der Signora schüttelt er leicht den Kopf. Ein Lächeln ob des Angebots in seinen eigenen Hallen. "Das wird nicht nötig sein", sagt er leise.

Er erhebt sich und blickt sich um. Sieht in alle Gesichter, wie um noch einmal zu verdeutlichen, dass der Preis für das Versagen hoch ist. Ein herausfordernder Blick: Wer wagt sich nach diesem Auftakt noch auf die Bühne? Alain wendet sich eben dieser erneut zu, erwartungsvoll.
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Signora Achilla
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Signora Achilla »

Eine einzelne, fette Motte hatte sich lautlos und langsam ihren Weg aus einem der Augenlöcher der Maske der Signora gesucht. Da saß sie nun, graubraun und etwas pelzig, auf der lackierten, bemalten, perfekten Wange. Auf den ersten Blick sah es wohl aus als wäre da einfach die Farbe abgeplatzt und gäbe nun dreieckig den Blick auf das Holz darunter frei.
Die Signora schien es nicht zu bemerken und Maestro Mauricio war damit beschäftigt, die Schausteller anzutreiben.

Seltsam bizarr war das, wie das Geschehen mit Alains Auftritt einfach weiterzog. Seppigios Schicksal verkam zu einer Note am Rande. Schenkte überhaupt jemand seinem Ende Beachtung, außer dem Schwertschlucker und der Hünin? Die Signora vielleicht, die kurz begehrlich dorthin sah und wohl die Not erkannte, dass eben die scharfen Klingen und Würgeschlingen aus der Hand gegeben waren. Und Blut war schließlich Blut… .


Doch die Schausteller hatten alle gewusst, um was es ging, als sie hergekommen waren. Alles oder nichts, funkelnde Pracht oder hinab in den Staub - Leben und Tod. Und nun schienen sie es zu begreifen. Ein paar zitterten - das waren die, die es für einen Scherz gehalten hatten oder für blumige Rede. Welchem Teufel hatten sie da wohl ihre Seele verschrieben, mochten sich wohl einige fragen. Aber keiner wurde laut, nicht in diesem prächtigen Saal, nicht mit so vielen anderen umher, nicht mit der Chance auf Triumph direkt vor sich.

Es war der Geist, welcher sich ein Herz fasste - die junge Frau, die Alain bereits einmal kennen gelernt hatte und noch ein wenig mehr. “Saja” hatte sie sich zu der Zeit genannt, aber Bühnennamen waren wohl ebenso echt und haltbar wie die Masken und Kostüme der Schausteller, Sänger, Musiker und Possenreißer.

Die Signora schien kurz überrascht von dieser Wendung, aber war lang genug im Geschäft, um sich das nicht groß anmerken zu lassen.

“Vergänglichkeit...”, griff sie das vorhin erst ausgerufene Thema des Abends wieder auf. “...und wie schnell ein Ende kommen kann, verstehen wir erst im Angesicht des Todes.”
Die junge Frau auf der Bühne sprach kurz mit den beiden Geschwistern und einer von ihnen holte eine Oud herbei, die wohl maurische oder gar arabische Mutter der Laute, die gerade erst dabei war, sich um das Mittelmeer her auszubreiten. Die Klänge, die nun angeschlagen wurden, muteten arabisch an. Dem Ohr, das an die italienische Musica gewohnt war, konnte das fast dissonant erscheinen.

Doch dann hob Saja die schlanken Arme und ihre Stimme. Diese Stimme klang samtig - am Anfang wohl noch eine Spur belegt und brüchig, doch die Sängerin bewies Mut und Herz in dieser Halle voller Pracht.

Die Signora derweil nutzte den Beginn von Sajas Auftritt, um hinüber zu jenem vorübergehend mit Möbeln, Kostümteilen und ein paar trocknenden Mänteln errichteten zu gehen, in welchen Seppigio verbracht wurde. Das war nun trotz allem keine besonders heimliche Sache, die hier vonstatten gehen konnte. Die Halle war zu offen und sie alle zu sehr dabei, die Lage eben zu nehmen wie sie kam.

Als Saja gerade ihre Stimme hob, fasste die Signora den wohl von einem ordentlichen Schlag gegen den Kopf benommenen Sänger bei den Schultern. Sie umarmte ihn, gerade als Saja die ersten Silben ihres Nachtliedes sang. Eines der Geschwister spielte dazu, das andere hatte sich zaghaft Alain genährt, um neben dessen Liege zu knien und leise zu übersetzen:

“Es war einmal und wird vielleicht immer sein…
...denn nichts ist ewig und alles veränderlich…
...und nur die Veränderung wirklich ewig in unserer Welt…”
, flüsterte der Jüngling oder die Maid.
Sajas Stimme war weich und tiefer, als man ihrer schlanken Gestalt zutrauen wollte.

“Ein Vogel, der nur ein einziges Mal in seinem Leben singt..
...und dies ist dann, wenn er stirbt…
...es ist ein graubrauner kleiner Vogel, der im Dornengesträuch lebt…”


Die Signora hatte sich zu dem glücklosen Sänger gesetzt und hielt ihn fest, wie für einen Kuss. Die Narrenmaske hatte sie dafür abgelegt und Sajas Maske mit den braunen und blutigroten Federn hatte sie noch nicht aufgesetzt. Nur ein Schultertuch verbarg noch so halb ihr Angesicht - aber dann wieder war das Geschehen um sie und den Todgeweihten nur am Rande. Und doch schien Seppigio mehr zu sehen als alle anderen. Seine Augen hatten sich trotz seiner Benommenheit geweitet und er versuchte noch, sich zu wehren. Aber so, jetzt, in der Umarmung der Signora, war es viel zu spät.

”Nur ein einziges Mal singt der kleine Vogel…
...und sein Gesang ist so süß und klar…
...weil seine ganze Welt in den letzten Momenten klingt…”


Maestro Mauricio hatte sich und die Mantelvorhänge geschickt genug aufgebaut, dass die Schausteller nicht gut genug sehen konnten, was dort geschah. Die meisten sahen ohnehin zu Alain, von dem alles abhing, und zu Saja, die um ihr Leben sang.

”...und während der Vogel singt, am Ende seines Lebens…
...im Angesicht der Geliebten und auf den Dornzweigen…
...sucht er sich den schärfsten und längsten Dorn in seiner Welt…”


Mehr von den grauen, braunen Dreiecken krochen über Seppigios Haut. Es war ein wenig als würden auch von ihm Farbe und Lack abplatzen, während die Signora ihn hielt. Sie krochen über seine Haut und in seine Kleider, flatterten ihm schwerfällig um Haar und Bart.

”Den erkennt der Vogel so wie er seine Welt erkennt…
...am schärfsten Dorn der Welt und bevor sein Leben sanglos enden müsste..
...durchbohrt er sich die Brust und singt.”


Sajas Stimme dabei war nicht süß oder wehmütig. Sie blieb weich wie ein sanfter Wind über staubigen Ebenen und sandigen Dünen. Es gab hier nichts zu betrauern, so klang es. Es gab einen Augenblick zu feiern, einen Moment nur, der alles wert war.

”So scharf und klar klingt dieses Lied, so schön…
...dass es dem Lauschenden so klingen muss als wäre dies der Dorn..
...und der Klang der einfachen Erkenntnis das, was unser Herz durchbohrt.”


Saja hielt die letzte Note dieses Liedes, das weder traurig klang noch kompliziert. Es war nur ihre Stimme und die gestrichenen, gezupften Klänge von den Saiten. Seppigio starb genau in diesem Augenblick und die Signora zog Sajas Federmaske auf. Ein paar Dornzweige waren auf ihr aufgenäht, doch ansonsten war sie dicht an dicht mit kleinen, braunen Federn besetzt. Hier und da waren diese rot benetzt - Farbe? Blut? Was war schon der Unterschied? Beides war so teuer und kostbar, dass es für nicht mehr als ein paar Tropfen gereicht hatte.

Gebannt sahen nun alle zu Alain.
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Alain le Beau
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Alain le Beau »

Alain hat sich während des Vortrags leicht vorgebeugt und gelauscht. Als die letzten Noten verklingen, reibt er sich das Kinn. Seine Augen wandern über Saja. Der Raum hält den Atem an. Dann nickt er, ganz leicht, und ein kollektiver Seufzer entringt sich den Kehlen. Alain erhebt sich.

"Vielversprechend", sagt er. "Schlicht, aber nicht vulgär. Ich sehe eine große Zukunft für dich, Saja." Seltsamerweise blickt er nicht in ihre Augen, sondern auf ihren Hals. Seine Finger zucken leicht, nur einmal kurz, fast unmerklich. "Mit ein bisschen Feinschliff könntest du eine Göttin der Kunst werden. Wir werden daran arbeiten."

Er nickt der Signora zu. "Ihr habt ein Händchen, werte Freundin. Aber denkt nicht, dass ich sie verschont hätte, wenn sie nur ein wenig schlechter gesungen hätte. Nun denn: Wer wagt es als nächster?"
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Signora Achilla
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Signora Achilla »

Geziert trat die Signora wieder näher zu Alain. Der Duft von Blut haftete ihr wohl noch an. Selten einmal lässt der ewige Hunger für die Unsterblichen einmal nach. Dann, wenn sie ein Leben tatsächlich bis zur Neige leeren, ist ein solcher flüchtiger Moment.

“Und nicht anders soll es sein”, erwiderte sie auf Alains Worte.

Zugleich, auf der Bühne, war Saja leicht anzusehen, wie das schwere Gewicht ihrer Anspannung von ihr glitt. Sie verneigte sich nach den Regeln der Kunst und behielt ihre Fassung und Miene so gerade eben noch, solange sie auf der Bühne war. Doch sobald sie an der Seite herunter gesprungen war, fiel sie einer anderen Frau in die Arme, die gewiss ein Jahrzehnt älter war, mit hennagefärbtem Haar und eher mütterlichen Rundungen. Die beiden flüsterten miteinander, umarmten sich, weinten und lachten auf. Der Anblick könnte so manchem wohl das Herz erwärmen.


Doch zugleich und mit Alains letzter Forderung stieg die Spannung sogleich wieder. Auch die Signora sah zur Bühne hin, deren Abläufe wohl vielleicht durcheinander geraten waren. Maestro Mauricio, der die übrigen Schausteller mehr oder weniger zusammenhielt, wirkte ein wenig nervös.
Die Finger der Signora spielten an der Federmaske herum, abwartend, noch unschlüssig. Die Spannung stieg langsam an.

Und dann ließ die ältere Frau Saja los und stampfte mit dem Fuß auf, der trotz des Winterwetters nur in einer alten Sandale steckte.
“Zum Teufel”, sagte sie und ihre Augen blitzten herausfordernd gen Alain. Mit dem Arm nahm sie ihre rotgefärbte Haarmähne nach hinten. “Wenn wir uns schon um Kopf und Kragen singen, dann auch richtig”, sagte sie.

Die Frau war keine Schönheit mehr - vielleicht war sie in der Jugend schön gewesen und ganz sicher feurig. Sie hatte dunkelbraune Augen, die wohl damals wie heute in Ärger oder Leidenschaft blitzen konnten. Mit einem Heldenmut, der wohl die übrigen Schausteller blass aussehen ließ, stieg sie auf die Bühne.
Die beiden Geschwister sahen einander zuerst ratlos an, dann eilten beide los. Eine Trommel, leichte Schellen und eine Leier für das, was jetzt kommen würde - und vielleicht war das auch nur geraten.

Die Signora selbst sah zu Alain und dann wieder zur Bühne her. “Oh”, machte sie zuerst. Maestro Mauricio war mittlerweile mit einer weiteren Maske zu ihr geeilt und das war eine eine ziemliche Fratze, ein Höllengesicht. Achilla hielt es in der Hand und sah es wohl etwas zögerlich an. Mauricio sah bleich aus.
Dann jedoch lachte sie, zuckte mit den Schultern und tauschte die Masken. Wieder war es wohl ganz und gar Alain überlassen, ob er tatsächlich einen Blick dahinter werfen wollte oder nicht. Es war jedoch nur ein kurzer Moment.

“Cosa Ginevra”, kündete die Signora an. “...allegra furia al fuoco.” Sie sah zu der Frau auf der Bühne hinauf und fügte dann leise, ganz leise, hinzu: “Der einzige Mensch, den ich auf dieser Welt wohl kenne, der ohne eine Reue lebt.”
Da war eine kurze Pause in der sonst eher geschäftsmäßig-geübten Art der Signora, dann fügte sie hinzu: “Sie hätte nicht auf die Bühne steigen müssen. Sie war nur eine Hilfe für die anderen.”

Die Geschwister hatten dies genutzt, um kurz mit Cosa Ginevra zu sprechen und nun begannen sie eine Melodie, erst langsam, aber dann schneller im Rhythmus. Das war eine Melodie zum Stampfen und Trommeln. Ob sie schön war? Schwer zu sagen. Aber sie ging einem in die Glieder.
Die erste Überraschung war wohl die Stimme der Cosa Ginevra. Sie war tiefer als die der meisten Frauen, doch zugleich weich und geschmeidig. Sie hatte Rhythmus so selbstverständlich in ihrem Ton und in den Worten wie andere Menschen atmeten.
Doch das war kein unbedingt schöner Gesang. In ihm lag eine gerüttelte Menge Zorn. Der war zu hören, in dem gerollten “Rrrr”, das den Italienern so schneidig von der Zunge gehen konnte. Doch er war auch zu sehen, so wie sie die Hände in die Hüften stemmte und Alain die alte Anklage sang:

”Auf dem Höhepunkt der Kräfte stehst du fest im Jetzt und Hier
Niemand sieht, wie die Dämonen lauernd warten hinter dir
Bist du wahrhaftig der Meinung, dass man dich vergessen kann
Und es trifft nur all die andern und es ficht dich gar nicht an?”


Sie hob den Arm und zeigte Auf Alain. War das Mut oder schon Tollkühnheit?

”Unter allen Lämmern wirst du einzig ungeschoren sein
Und ich sehe dich schon stehen, ganz verloren und allein.
Wenn dir Schreie nichts mehr helfen, weil es keinen interessiert
Ob du leidest, ob du da bist oder was wohl aus dir wird.”


”Du wirst sterben wie die andern, eines Tages, eine Nacht
Und es öffnet dann der Abgrund, den du selbst dir mitgebracht
Unter deinen Füßen brüllend seinen bodenlosen Schlund
Und im grenzenlosen Fallen schreist du dir die Kehle wund”


Aus dem ausgestreckten Zeigen wurde eine andere Geste, als Cosa Ginevra sich an die Kehle griff, mit dramatisch gespreizten Fingern. Doch ihr Gesang schwankte nicht für einen Moment. Gefällig war er gewiss nicht, soviel war jedoch klar.
Die Signora selbst hatte ihren Kopf leicht geneigt. War das Respekt vor der Darbietung? Oder behielt sie so einfach aus dem Augenwinkel heraus und trotz der Maske Alain im Blick?

”Wenn das Unrecht und die Lügen, die du andern zugedacht
Alles sind, was dir noch leuchtet, wenn du fällst tief in die Nacht
Was meinst du, was für ein Leben so wie deins der Preis wohl ist
Wenn am Ende deiner Reise du das Spotten ganz vergisst?”


Ginevra hob die Hand wieder und ballte sie zur Faust, die sie gegen Alain auf seiner Liege schüttelte.

”Nun umgeben von Entsetzen du das Tor siehst fern vor dir
Und dann schlägt es vor dir zu, denn: „Was zum Teufel willst du hier?“
So versinkst du tief im Sumpfe, den du selbst dir hast gewählt
Und du hältst dich selbst gefangen dort, gefoltert und gequält”


Es wollte absurd klingen, mitten in all dieser Pracht des Palastes, in dem sie waren. In dieser Fülle aus Essen und Trinken, in der Pracht der Statuen und schön gefügten Mauern. Und doch… so, wie Cosa sang, waren schöne Mauern nur Fassaden, eitle Pracht nur vergänglicher Tand. Für einen Moment schien es so als wollte sie mit ihrer etwas plumpen und eher kleinen Faust gern all den Zierart zerschlagen.

Doch dann ließ sie sie etwas sinken und öffnete sie wie um sie Alain anzubieten:

”Ich will deinen Weg nicht ändern aber meine Hand will ich
So weit mir der Arm reicht strecken und vielleicht erreicht sie dich
Und dann kannst du danach greifen oder einfach weitergeh‘n”


War das eine Versöhnung? Oder war das die selbstherrliche Arroganz von irgendwelchen “Christenmenschen”? Cosa Ginevra sah nun nicht gerade aus wie ein Paradebeispiel von einem, mit ihren bunten Kleidern und der wilden, roten Haarmähne. Da war sie der Hexe näher als dem Priester.
Und doch sang sie und es klang ganz wahr:

”Ganz am Ende deines Weges werden wir uns wiederseh’n”

Die Töne der Instrumente verklangen. Die letzte Zeile sang Cosa ganz allein, eine Wiederholung in die Halle hinein, nur mit ihrer Stimme und ohne ein Zaudern.

”Ganz am Ende deines Weges werden wir uns wiederseh’n…”
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Alain le Beau
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Re: [1029] Nachtigall [Achilla, Alain]

Beitrag von Alain le Beau »

Alain sitzt für einen Moment völlig regungslos da und starrt die wütende Sängerin an. Wieder herrscht Totenstille in der Halle. Dann beginnt der Tzimisce zu lachen, aber es ist kein bösartiges Lachen, sondern herzlich und fröhlich. Er blickt in die Höllenmaske der Nosferatu, ein Teufel zum anderen, bevor er sich wieder der Sängerin zuwendet. "Das", sagt er dann und nickt, "das ist ganz exzellent. Wie ein Schlag ins Gesicht." Etwas ernster fügt er hinzu: "Niemand mag einen Schlag ins Gesicht. Aber gelegentlich ist er nötig. Gelegentlich ist er nützlich."

Er wendet sich der Signora zu. "Wenn es soweit ist - und erst dann - werden wir diesen Schlag führen. Hart und direkt. Bis dahin will ich sie hier nicht mehr auf der Bühne sehen..." Er zwinkert Cosa Ginevra zu "...wenngleich ich nichts gegen ihre Anwesenheit in meinem Bett hätte. Schließlich wird auch sie irgendwann sterben - und es wäre eine Verschwendung, das Leben nicht vorher auszukosten, nicht wahr?" Kurz scheint er in Gedanken versunken, in der Vorfreude auf seine nächste Eroberung, dann nickt er Achilla zu. "Nur weiter, werte Freundin. Nur weiter."
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