[1030] Kleine Gossengeschichten [Anastasia, Alain]

[Alain le Beau]

Was wäre Licht ohne Schatten? Was wäre Wärme ohne Kälte? Was wäre Genuss ohne Ekel? Ein wahrer Sünder muss die Extreme kennen, muss Gegensätze ausloten, muss die Bandbreite menschlicher und unmenschlicher Erfahrungen begreifen. Es ist eine Philosophie des Lebens im Tode. Profunder als ihre Verächter jemals verstehen werden und ein niemals endender Pfad für ihre Anhänger.

All dies hat wahrscheinlich nur begrenzt damit zu tun, dass Alain im Straßengraben liegt. Sein linker Arm platscht in eine schmutzige Pfütze, mit der Rechten hält er einen Bettler eng umschlungen. Er lallt leise etwas vor sich hin. Seine feine Kleidung ist kaum noch von der seines Nachbarn zu unterschieden. Seine rabenschwarzen Haare, sein feines Gesicht sind voller Schlammflecken. Nur seine Augen, wenn sie sich ab und an öffnen, sind so wach wie eh und je.

Die drei finsteren Gestalten, die ihn aus einer Gasse heraus beobachten, scheint er dennoch nicht zu bemerken.

[Anastasia]

*Der Mann, der um die Ecke biegt, bewegt sich behende, selbstbewusst. Er betrachtet die zwei im Graben einen Moment, als er sicher ist, dass er kein Liebesspiel stört, kommt er näher* Ach Freunde, so werdet ihr doch nass. *Mit den Worten wuchtet er euch erstmal aus der Pfütze.* Hier ich hab euch ein Stück Brot mitgebracht. Wie geht es euch heute? Zu viel Wein abbekommen? *Er setzt sich entspannt neben euch, hällt euch das Brot hin.*

[Alain le Beau]

Der jüngere der beiden Bettler lehnt seinen Arm dankend ab und macht eine Geste mit der Hand, die eindeutig "Stop" signalisiert. Seltsamerweise blickt er dabei den Neuankömmling nicht direkt an, sondern an ihm vorbei. Der ältere Bettler lässt sich ein Stück schleifen. Er scheint tief zu schlafen, denn er murmelt nur leise etwas, als er vor die nächste Wand gesetzt wird. Kurz darauf gesellt sich der jüngere dazu und grinst den edlen Spender an. "Habt Dank, der Herr, habt Dank." Ein Stück Brot endet auf dem Schoß des Schlafenden, das andere verschlingt der junge Mann hungrig.

Er verzieht das Gesicht beim Kauen. "Ein ganz... exzellentes Erlebnis..." Das Schlucken fällt ihm sichtbar schwer.

[Anastasia]

*er lacht* Wir kennen ums noch nicht, ich bin Tony. Wer seid... naja, wer bist du denn, der Arme hat wirklich zu viel getrunken.

[Alain le Beau]

"Tony?" sagt der junge Mann und kratzt sich am Kinn. "Kommst wohl nicht von hier, was?" Er lallt leicht. "Tonio kenn ich ja, und Toni... aber Tony?" Er imitiert die seltsame Aussprache des Namens. "Jedenfalls: Sehr erfreut. Ich bin..." Er denkt nach "...Claudio! Ja, Claudio und das hier..." Statt auf den Mann neben sich zu zeigen, breitet er die Arme aus "...das ist Genua. Eine wundervolle Stadt, wirklich wundervoll, geradezu wunderbar!"

Wieder beißt er ein Stück Brot ab. "Was führt dich her?"

[Anastasia]

*er lacht* Wir sind vor kurzem angekommen. Ich suche Ohren, die alles hören wollen. Kennst du solche Ohren?

[Alain le Beau]

"Alles?" Der junge Bettler zieht eine Augenbraue hoch. "Was soll denn 'alles' bedeuten?" Je länger Tony mit ihm spricht, desto deutlicher wird, dass dieser Claudio ebenfalls einen Akzent hat. Einen melodischen, weichen Akzent. Er schleicht sich hier und dort in die Worte ein, wie ein Dieb in der Nacht. "ich meine, alles bedeutet auch das Geschrei der Kleinkinder und die Fürze der Besoffenen. Oder sein Schnarchen." Er nickt zu dem Bettler neben sich.

Er runzelt die Stirn. "Oder ist das eines dieser Passwörter? 'Kennst du solche Ohren?' - 'Ja, die Ohren des Fuchses in der Nacht'." Seine Stimme wird höchst dramatisch bei diesem Dialog, bis er lachen muss. "Dann bist du jedenfalls bei mir falsch, Fremder. Es sei denn es geht um interessante Details aus dem Leben der Menschen hier. Da könnte ich wohl jemand kennen." Ein Zwinkern.

[Anastasia]

Tony lacht herzlich und laut, seine Stimme spricht danach aber leise. "Ich mag dich. Glaub mir, es gibt solche Ohren, aber meine He... Begleitung nimmt bestimmt auch die, die du kennst." Er versucht seinen Versprecher mit einem Husten zu verdecken. "Anastasia ist vor kurzem mit mir angekommen. Wenn es deine Ohren interessiert, ich laufe immer wieder mal hier rum, du kannst mir eine Nachricht zukommen lassen, wenn gewünscht."

[Alain le Beau]

"Nun, nun", sagt der Bettler leise und kratzt sich erneut. "Anastasia also? Ich habe gehört, dass der Wirt im 'Gasthaus vor den Toren', im Dörfchen Staglieno..." Er schaut Tony an. "Das Dorf vor den Stadtmauern? Ihr habt sicher davon gehört. Nun, also dieser Wirt könnte jemand kennen, der jemanden kennt."

Er zuckt mit den Schultern. "Es schadet sicher nicht, wenn eure He-Begleiterin sich dort einmal umsieht. In zwei Tagen vielleicht, zur Abendstunde?"

[Anastasia]

Tony scheint sich sichtlich zu freuen. "Ich denke, das wird sie gewiss. Danke für die Empfehlung.
Du scheinst dich ja gut auszukennen. Warum bist du auf der Straße gelandet?"