[Sterblich - Archiv] Gerüchte, Stadtpolitik & genuesisches Umland

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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[Sterblich - Archiv] Gerüchte, Stadtpolitik & genuesisches Umland

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 935
Am 26. August segelte eine Flotte von zweihundert Galeeren unterschiedlichster Größe ungehindert im Schutz der Nacht in das Hafenbecken. Andalusier besetzten und plünderten Genua. Hunderte starben oder wurden verschleppt. Der ganze Einfall dauerte kaum zwei Stunden.
Oberto Obizzo, Sohn des Markgrafen Adalbert von Mailand, erreichte mit einer Hundertschaft von Männern und einigem Gesinde die Stadt.
Er begann mit dem Neubau einer Festung unweit der Stelle, an der die Sarrazenen gelandet waren.
Lucio il onnivoro wurde von ihm zum obersten Richter und Henker der Stadt ernannt und mit allen Vollmachten ausgestattet. Eine Säuberung der Stadt wurde von diesem in Angriff genommen.
Nach Jahren des Exils in Cremona kehrte der Bischof Genuas, Romberto, zurück nach Genua. Bei seinem Zug durch die verelendeten Straßen der Stadt brach er in Tränen aus, schwört bei Gott und der heiligen Jungfrau "seine Stadt" nie mehr im Stich zu lassen. Seitdem ging er in Sack und Asche und übernahm seitdem persönlich die Krankensakramente, die Ölung der Toten, die Beichtpflichten und das Lesen der heiligen Messe.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 936
Weite Teile der Stadt lagen weiterhin im Elend, allen Bemühungen zum Trotz.
Obwohl das Volk willens war, neuzuerrichten, was die Sarrazenen eingerissen, fehlte Ihnen das Geld und die Führung die alten Häuser aufzubauen. Die meisten Bürger lebten weiterhin in hastig zusammengezimmerten und undichten Holzbarracken, ganze Familien in einem einzigen Zimmer um die Kochstelle gescharrt.

Der Beistand Bischof Rompertos half zwar der Seele der Menschen und gab ihnen Hoffnung, aber nicht ihren Leibern. Zwar wurden Armenspeisungen im Castello del Vescovo eingerichtet und die Bevölkerung gegen den gröbsten Hunger verteidigt, doch sein Hauptaugenmerk schien auf der Erstattung der von Sarrazenen geplünderten Kirchen und Klöster der Region zu liegen, wie natürlich auch der Basilica San Siro.

Grafensohn Otberto gab jenen Menschen Obdach und Brot, die sich in seinen Dienst stellen wollten. All jene für das Kriegshandwerk wichtigen Menschen fanden bei ihm ihr Auskommen - Schmiede, Soldaten und Schleifer. Jeder Jüngling, der nach Rache an den Muselmanen dürstete, pilgerte zur Stätte des Castelletto und schloss sich denen an, die eine Festung gegen die Heiden errichteten.

So geschah es auch, dass die Streitkräfte Lucios Il Onnivoro vom Grafensohn verstärkt wurden.
Ursprünglich ausgeschickt, um die stark dezimierte Miliz der Stadt zu unterstützen, begann eine radikale Säuberung der Stadt von Dieben, Plünderern und Taugenichtsen - all jenen, die den vereinten Anstrengungen des Gemeinswesens im Wege standen.
Gerüchten zufolge waren selbst diejenigen tapferen Männer nicht vor Verfolgung sicher, die auf Seiten der Miliz gegen die fremden Eindringlinge gekämpft hatten, wie es bisher stillschweigend Brauch gewesen war.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 937
Ein Konflikt schwelte in der Gemeinde und alle konnten es spüren.

Luccio Il Onnivoro warf der Miliz Unfähigkeit und mangelnde Disziplin vor. Kaum mehr als selbst Räuber und Verbrecher würden sie die Bürger noch weiter ausbeuten und Bezahlung für Dienste verlangen, die ihre Pflicht seien.
Unterdessen bezichtigten einige der Hauptmänner der Miliz den Allesfresser, die königlichen und gräflichen Gesetze mit übermäßiger Härte durchzusetzen und selbst leichte Vergehen mit dem Tode zu bestrafen.
Tragischer Höhepunkt der Streitereien war eine blutige Schlägerei zwischen gräflichen Truppen und städtischer Miliz am 25.August, die in mehreren Verletzten und - Gott sei Dank - keinem Toten endete und einen guten Teil der Taverna della Sirena am Hafen verwüstete.

In der Weihnachtspredigt in der übervollen Basilica di San Siro kritisierte Bischof Romperto erstmals öffentlich das Verhalten der Dörfer rund um Genua, die Teil seiner Diözese waren. Ihre Nächstenliebe sei mangelhaft und sie ließen die Stadt alleine in der Dunkelheit sitzen. Weder Material noch Nahrung noch Hilfe käme in ausreichendem Maße und der Grafensohn Oberto sei selbst nur an seiner Feste interessiert. Während die Stadt noch weiter in Ruinen liege und die Bürger über einander herfielen, verschlösse das Umland die Augen vor dem Elend und kümmere sich nur um sich selbst.

Wohl ehrlich von den Worten des ehrenwerten Bischofs gerührt erklärte Alrado Brigori - Patriarch der Brigorifamilie und einflussreicher Händler der Stadt - noch während des Gottesdienstes, jeder ehrliche Mann und jede anständige Frau würde unter seinem Dach stets Arbeit und Obdach finden und es sei sein Wille, sein Geld und seine Freunde zum Wohle der Stadt einzusetzen.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 938
Um dem größer werdenden Flüchtlingsproblem Herr zu werden, hatte die Mutter Kirche endlich zu Tatkraft gefunden. Der Abt des Klosters der Heiligen Sixtus und Viktorius, Bartolomeo d'Arezzo, hatte öffentlich in Burgus und vor der Basilica di San Sisto verkünden lassen, dass jedem willigem Manne die Mittel an die Hand gegeben werden, sich und seine Liebsten zu ernähren. Das Kloster stellte einen Teil seiner Ländereien und Wälder nordwestlich der Basilika zur Besiedelung zur Verfügung. Unter der Aufsicht einiger Mönche der nahen Klöster begann die Entstehung einer kleinen Siedlung zwischen den Klöstern San Marcellino, Santi Sisto e Vittorio und San Savino.
Auch Bischof Romperto hat bei seinen Predigten vor der Stadt dazu aufgerufen, sich nicht nur auf Mildtätigkeit zu verlassen, sondern "den Pflug selbst in die Hand zu nehmen".

Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Miliz und gräflichen Wachen hielten an. An mehreren Tagen kam es zu Auseinandersetzungen, die schließlich am sechzehnten Juli im Unvorstellbaren gipfelten: Dem Tod des ehrenwerten Bäckermeisters Luciano aus der Via Raveccha, treuer Milizionär und liebender Familienvater durch die Hände der gräflichen Wachen.
Die Hauptmänner der anderen Viertel zeigten sich entsetzt, verlangten ein sofortiges Ende der Gewalt und vollste Kooperation der Arme des Gesetzes, waren aber nicht bereit ihre Autorität dem vom Grafen in Mailand mit Vollmachten ausgestatteten Allesfresser unterzuordnen. Luccio und die Männer des Grafen beharrten darauf, dass die Milizionäre versucht hätten, einen ertappten Lebensmitteldieb vor gerechter Strafe zu schützen. Beide Parteien warfen sich die Ausnutzung eines tragischen Unfalls für eigennützige Interessen vor.

Der Bau des Castelletto näherte sich rapide seiner Fertigstellung. Nicht nur wuchs das Dörfchen vor den Mauern immer weiter an und umfasste bald hunderte Schmiede, Stallburschen, Baumeister, Tagelöhner, Eisenschmelzer, Köhler, Lederer und Handlanger, sondern auch die Mauer erstreckte sich schon um die Hügelkuppe, dick und aus hohen Steinen geformt. Die eigentliche Wehrburg selbst erhob sich nun stolz in den Himmel, nur ein einzelner Eckturm war noch zu errichten. Vertraute des Grafen versicherten noch bis zum Pfingstfest nächsten Jahres werde die Feste stehen und kein Sarazene sich mehr auf diesem Wege in die Stadt wagen.

Im Hafen ging die Restauration der wichtigsten Anlagen endlich voran. Vorangetrieben durch die Handelsflotte der Brigori und das großzügige Angebot ihres Patriarchen erwuchs langsam ein Lagerhauskomplex im am schlimmsten zerstörten Gebiet der nördlichen Anlegstellen. Tagelöhner, Verzweifelte und Diebe sammelten sich darum an, um Lohn und Brot von der wohlhabenden Handelsfamilie zu erbetteln.
Die anderen Familien der Stadt sahen sich gezwungen, nachzuziehen und verkündeten, in ihren Geschäften ebenfalls den Ärmsten eine Möglichkeit bieten zu wollen.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 939
Im Umland griff eine Plage um sich, die wie Ratten und Raben unweigerlich auf Tod folgen: Aasfresser.
Menschen verschwanden aus den Dörfern vor den Stadtmauern, einer, vier, dutzende - nacheinander und ohne eine Spur zu hinterlassen. Wölfe, sagten sie, und die Ungeheuer des Waldes. Die Wachen ließen sie allein, sagten sie, und kämen nur noch zum Beschlagnahmen des Zehnten. Selbst die heilige Kirche ist nicht sicher vor den Monstern der Wildnis: Giacomo di Luccoli, Meßdiener des Herrn Sebastiano von Luccoli und Macelli, war spurlos verschwunden. Aus dem Bett geraubt hieß es, wie von Geistern entführt.

Ein kleiner Trost war es da, dass der alte Wachturm in Burgus wieder in Betrieb genommen worden war. Nach Jahren der Unachtsamkeit und Faulheit wurde binnen weniger Monate der Turm mit Holz neu ausgekleidet und repariert und eigens der Posten der "Vigilante della torre del mare", des Türmers vom Meer, geschaffen, dessen einzige Aufgabe es ist die guten Bürger Genuas vor den Schrecken der Meere zu warnen.
All das "auf Betreiben und Unterhalt der guten Christen des Klosters der Heiligen Sixtus und Viktorius", die unter der Führung von Bartolomeo di Firenze auch Maßnahmen zum Wiederaufbau ergriffen hatten. Zu diesen zählte auch der Flecken Kirchenland, der einer Gruppe von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt wurde. Langsam und beständig wuchs die kleine Gemeinde, die am Fluss zwischen Santi Sisto e Vittorio und San Marcellino besiedelt wurde und sich nicht länger auf Milde stützen wollte.

Stolz und erhaben steht auch das Castelletto nun da, reckt seine Wachtürme und hohen Mauern in den Wind und überblickt das ganze Land zwischen Burgus und Luccoli von seinem Hügel aus. Mit großem Gefolge zog der Sohn des Grafen von Mailand, Oberto Obizzo, in die Feste ein und nahm sie in Besitz. Zwei Dutzend Reiter folgten ihm nach, angeführt von dem Hauptmann seiner Garde, Luccio Il Onnivoro, gefolgt von sieben Adligen, deren Weibern und Dienern, siebenundsiebzig Fußsoldaten, einhundert Schmieden, Lederern, Rüstungsmachern, Zimmerern, Bogenmachern und Musikanten, Knappen, Dienern und Mägden.
Bischof Romberto selbst weihte die Kapelle der Feste ein und sprach auf dem Feld vor ihren Toren einen Segen über den Beschützer der Stadt aus.

Ein kleines Wunder ist es da, dass Prediger und Propheten eine Blüte erlebten. Die Stadt quoll über vor Botschaftern der Endzeit, die die Sarazenen als Strafe Gottes für der Menschheit Sünden betrachteten und Vergebung forderten, Beichte und Buße. Der notorischste von sprach jeden Dienstag und Donnerstag im Namen des Herrn auf dem Georgsplatz und erreichte zuletzt eine Menge von hundert Menschen, verarmte und verelendete Seelen, die herangeeilt waren um Erlösung von ihren Sünden zu erfahren.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 940
Pater Domenico di Santa Maria della Croce empfand Wut und Feuer in sich ob des Zustandes und des Elends in Mascharana und auch in den anderen Orten. Noch im grassiert das Leiden, denn obwohl viele Menschen sich Hütten und Zelte errichtet haben und die Kirche jede gnädige Hilfe gibt, so leben sie doch zusammengepfercht in Katen. Krankheit, Kummer und Hunger sind weit unter ihnen verbreitet und kaum ein Mensch weiß noch, was glückliche Zeiten sind.
Die Pisani seien nicht an sich Schuld am Elend, doch die alte Rivalin unterlasse auch ihre Christenpflicht, der geschundenen Genua Linderung zu verschaffen. Wo ist denn der Reichtum und die Mildtätigkeit der Handelsstadt und ihrer Familien, die auch in Genua ihr Geschäft verrichten? Die sich laben und fett fressen am Hunger und Wucherpreise verlangen, die großzügig das Volk ausbeuten? Sicherlich hätte man Pisa beigestanden, wenn es andersherum gekommen wäre!
So predigte der Gottesmann in Mascharana und traf die Herzen der guten Bürger.

Aus dem Westen segelte zwiefach Kunde in die Stadt.
Der Kalif von Cordoba, Abd ar-Rahman III., wurde vernichtend geschlagen. Geprügelt und blutend kehrte der Mohammedaner in seine widerrechtlich eroberten Gebiete zurück und schüttete seinen Zorn auf die eigenen Feldherren. Trotz ihres Sieges kehrten die Soldaten und Söldner aus Katalanien, Leon, Kastilien, Navarra und Galizien geschlagen und dezimiert zurück. Stolze Truppen wie die Märtyrer von Cordoba, die tapfer den 'Feldzug der Allmacht' besiegt hatten, kamen als Bettler und Schläger nach Italien.

Um der anhaltenden Bedrohung durch die Sarazenen zu entgegen, die die Stadt nur ihres armseligen Zustandes wegen seit sieben Jahren verschont hatten, entsandte der Bischof von Genua, Romperto, eine kleine Gesandtschaft, um den König um Hilfe anzurufen. Abermals begannen die Sarazenen ihre grausigen Überfälle an den Küsten im Westen. Keine zweihundert Meilen liegen nun zwischen den geplünderten Ruinen von Frejus bei Nizza und unserer schönen Stadt. Das Volk ängstigte sich, dass Scharmützler und Räuber aus Fraxinetum sich bis nach Padanien gewagt hätten, um zu rauben und zu stehlen - so mancher will einen gesehen haben.
Der König muss zur Hilfe eilen oder uns dem Untergang zum Preis geben. Die Gebete und Gedanken jedes Genovesi sind bei ihm.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 941
Wiewohl der Bischof diese Schmach zu verstecken suchte und den Übeltäter sang und klanglos aus der Stadt hinaus in Klausur schickte, so machten doch Gerüchte die Runde. Hässliche, unschickliche Gerüchte für jeden Mann des Glaubens und der Kirche. Man hätte ihn nämlich gesehen, das Schwein Roberto, den sogenannten Priester von San Donato, der zu seiner Zeit schon als Hurenbock und Trunkenbold bekannt gewesen. Man hatte ihn aus der Stadt schleichen sehen, ein Anblick der Sünde: Gebeugt und aufgedunsen vom Wein, räudig, mit eitrigen Geschwüren und Warzen am ganzen Leib,
Mit einem üblen Mädchen musste er sich eingelassen haben und der Bischof endgültig das Ende seiner Geduld mit ihm erreicht haben.

Wohlmeinender schien da der Herr auf die Händler zu blicken. Die Familie Fieschi berichtete voll Stolz, eine Reliquie der Heiligen Agnes zu Rom gefunden zu haben und mit schweren Worten und leichtem Herzen bestätigte der Bischofsrat ihre Echtheit. Dass diese Lanze, mit der die Heiden einstmals die Kehle der seligen Jungfrau durchbohrt hatten, nun im Besitz der Fieschi auftauchte, konnte nur bedeuten, dass der Himmel wohlfeil auf ihr Leben, ihre keusche Sittlickeit und Mäßigung in allen Dingen herabblickt. Auf der Straße begann man nun auch zu munkeln, dass diese Waffe nun mit dem Blut der Heiligen benetzt gewesen und daher notwendigerweise eine ebenso heilige Waffe sei - mochte dies das Glück der Stadt bedeuten? Dass die Patrizier sich gegen die Heiden mit heiliger Kraft zu Wehr setzen könnten?

Überhaupt war dies Jahr eines der Reinigung und der Geistigkeit gewesen, denn Wunder geschahen allerorten. Das ärmste Volk der gepeinigten Bevölkerung des ausgebluteten Liguriens berichtete von einem Wunderheiler, ein Mann Gottes, mit dem Blute und dem Leib Christi in das Elend selbst herabgestiegen, um allerlei Krankheiten zu heilen. Wundbrand, Nervenfieber, klaffendes, faulendes Fleisch, Parasiten, Pocken - alles heilte der heilige Mann mit der Kraft der Gebete und dem heiligen Sakrament der Kirche.
Ja, selbst die teuflischen Blattern heilte der Mann und befreite den rüstigen Freiherren von der Kreuzung von seiner lebenslangen Plage.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 942
Eine Seuche, eine Geißel Gottes, sollte über das Hafenvierteil hereingebrochen sein und selbst die Edelsten der Edlen nicht verschont haben. Es war an den heißesten Tagen des Sommers, als Fabio Arduinici, der jüngste Bruder des neuen Grafen von Turin, seine Boten entsandte. Eine Seuche ginge um, so sagten sie, in den übelsten Gegenden des Hafens. Ein einzelner Bursche, ein Knabe und Einbrecher habe sie nach Mascharana geschleppt und der Arduinici sei ihr erstes Opfer.
'Morbo della rigidità' nannte man sie und bald fürchtete sich die ganze Stadt vor dieser heimtückischen Krankheit der Starre. Zunächst nur eine kurze Lähmung der Muskeln, eine gewisse Schwere und Distanz zwischen dem Geist, der Seele und dem Leib, kämen die Anfälle schnell in häufigerem Maße und dauerten länger. Eine todesähnliche Starrheit ergreife schließlich den Körper, die für Stunden, ja Tage anhalten könne und schließlich, ja schließlich in einen Zustand übergehe, der dem Tode so täuschend ähnlich sei, dass niemand den Unterschied bemerken und den lebendigen Kranken begraben und töten würde.
Schon berichteten Männer ihren Frauen sehr überzeugend von einem Anfall, Frauen herzten und umsorgten ängstlich ihre angststarren Kinder und keines weisen Mannes Klugheit konnte sie von dem einen, entscheidenden Hinweis überzeugen: Dass noch niemand eine solche Leiche gesehen hatte.

Doch wie der Herr nimmt, so gibt er auch. Denn der Name 'Ambroglio Fieschi' war in aller Munde dieser Tage. Gesegnet waren seine Geschäfte und geheiligt seine Werke! Mit dem Eifer eines wahren Christen und der Gnade eines echten Adligen gab dieser selige Mann. Aus Nizza und aus Parma, aus Florenz und Lucca rollen die Carovane an. Endlos gliederten sich Männer und Wagen aneinander, schwer bepackt mit Waffen und mit Nahrung, mit Roggen, Hafer, Fisch und Pökelfleisch.
Der Lanze der heiligen Agnes schien der Familie Glück und Ehre zu bringen.

Wen scherte es da schon, dass der Prediger vom Georgsplatz da die Echtheit dieser Reliquie in Zweifel zog? Dass das ganze Volk sich ihm anzuschließen meinte? Dass sie Tag und Nacht vor dem Kastell des Bischofs standen, dass der Janusplatz überquoll vor Volk, das tobte und zeterte und keifte?
Es verblassten diese Klagen, diese Weherufe der Menschen vor den ungeheuerlichen Anschuldigungen, die Ferrucio Erminio 'Vates', der Wunderheiler, der Gesandte, der Prediger vom Georgsplatz zu Füßen des Bischofs warf.
Auf offener Straße brachen Schlägereien aus zwischen den Mannen der Fieschi, dem Gesinde der Handwerker aus Mascharana, den Reisenden aus Burgus und dem Dörfchen bei San Sisto e Vittorio einerseits und den ungezählten Lieblingen des Predigers, den von ihm geheilten Krüppeln, den Huren, Dieben und Heimatlosen in seiner Obhut, den Simpelsten der Einfachen andererseits. Nur die Miliz des Peppe Ghiraldi und ihr beherztes Eingreifen verhinderte schlimmeres.
So schrie 'Vates' sich die Lunge aus dem Leib:
Grausamkeit und Hohn seien die Fieschi und ihre falschen Pfaffen in Santa Maria und San Sisto, ein Spott und Schimpf für jeden Christenmensch. Nicht nur fälschten sie Reliquien und lägen bei dem Teufel - sie schlachteten auch die Diener Gottes dahin. Ungeheurlich sei ihre Tat, ein dutzend, dutzende Männer und Frauen dahingemetzelt, am hellichten Tage! In den Hallen des Herrn, auf geweihter Erde hätten Abt und Mönche selbst sich an den blutigen Leibern vergangen, sie verstümmelt und gefressen, die Mauern des Klosters mit ihnen besudelt.
Denn fürwahr, niemand hatte jene Menge wieder gesehen, die vor San Sisto e Vittorio geklagt hatte.
Und alles Volk von Domus und Platealonga schrie mit ihm.
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Re: Die Chronik von Genua

Beitrag von Il Narratore »

Das Jahr 943
Nach dem Schlachten der Sarazenen ist nun die Hölle selbst in Genua losgebrochen.
Sie konnten nicht das Leben aller guten und wahren Gläubigen in der Stadt beenden, doch die Heiden schienen die Fundamente des Vertrauens auf Gott selbst erschüttert zu haben. Gewalt im Namen des Herrn war überall.

Der traurige Höhepunkt der monatelangen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Fieschi und den guten Bürgern von Platealonga und Domus und Broglio wurde in der Nacht des 8.Juli erreicht. Aufgestachelt von den jüngsten Gerüchten über einen Mordanschlag auf den Bischof, dessen Ansprache auf dem Janusplatze über die Teufel in den Reihen der Kirche, über einen Dämon mit Namen Maximinianus di Firenze, der sich eingeschlichen in dem Kloster San Sisto e Vittorio, und eine Verschwörung niederer Gelüste gegen das Gemeinwohl und den Glauben, waren weitere Gerüchte auf fruchtbaren Boden gefallen.
Der Prediger vom Georgsplatz, Vates, Wunderheiler, hatte die gemischten Gefühle der Menschen in Worte gefasst:
"San sisto et vittorio ist das neue Sodom! Ihr Abt ist ein Teufel, ein Mörder, ein Hurenbock und Lügner!"
Alle Trauer und alle Verurteilung durch Bischof und Grafensohn kamen doch zu spät.
Sechs Mönche, drei Wachen des Grafen, sieben tapfere Männer, die nahebei gelagert und zur Verteidigung des Klosters herangeeilt waren, und zwei Dutzed Männer und Frauen waren tot. Hingestreckt in Raserei und Hass und dem Bedürfnis mit Stumpf und Stiel den Rott auszureißen.

Wenig Trost war da, dass ein Jäger unermesslicher Fertigkeit sich in Luccolli niedergelassen hatte. Nicht nur beendete er wohl endgültig die Gefahr der Wölfe in den Wäldern rund um Luccolli und erschlug mit eigenen Händen Wölfe so groß wie Stiere - nein, der Nordmann, der seit Wochen in aller Munde war, rettete auch die Tochter des Generalino Cornelio von Broglio, des Hauptmanns der Miliz.
Diese war, mitten in der Nacht und wider allen Anstand, in der Nacht aus ihrem Bett gestohlen worden. Ein Teufelskult hieß es, habe versucht sie in den Wäldern zu opfern. Die Jägerbande des Brimir aus Luccolli habe sie gefunden eines Nachts, versteckt in einer Höhle in jenem Teil des Waldes, von dem man Finsterstes munkelt. Besudelt mit Blut sei das kleine Mädchen gewesen und verborgen in einem Haufen von Knochen. Erfüllt von heiligem Zorn wurden ihre Entführer noch an Ort und Stelle erschlagen.

Fürwahr, die Hölle hatte sich aufgetan in Genua und vieles Volk sah die um sich greifende Häresie und Apostasie als sicheres Zeichen für die letzten Tage der Welt. Eine Welt in Hysterie und Seuche. Denn eine Krankheit schien um sich zu greifen, die von den Bürgern 'Morbo della rigidità', die Starrekrankheit genannt wurde. Angeblich begann sie leicht, mit einem Zucken der Muskeln und fortwährender Erlahmung, wie nach zu großer Aktivität. Mit Fortschreiten der Krankheit käme es schließlich zu Anfällen, momentaner Erstarrung des ganzen Leibes, die länger und länger dauern mochten, bis schließlich die Seele eingeschlossen im Fleisch sei. Ein Miasma verbreite der wie tote aber doch lebende Körper dann und steckt somit alle anderen in der Umgebung an.
Panik brach aus in den reichsten Vierteln der Stadt und täglich mussten Priester und Quacksalber die Unsinnigkeit dieser Behauptung erklären, täglich wurden Leichen aufgebahrt und ihr Gestank in der Stadt unerträglich, nur aus Furcht davor einen lieben Verwandten vorzeitig zu beerdigen.
Und obgleich Fabio Arduinici, der zuerst in jeder Kirche der Stadt nach dem Bruder Benedetto wegen der Heilung dieser Krankheit hatte fragen lassen, jedes solcher Gerüchte abstritt, obgleich er in blendender Verfassung war und überall an jeder Stelle dem verwirrten Mönchen von San Sisto e Vittorio die Schuld an diesen Phantasmen und Lügen gab, so hörte die Menge doch nicht auf ihn und fürchtete weiter die Seuche. Die Plage, die die Teufel aus dem Kloster ihnen gebracht hatten, die von einem fetten Alchemisten und einem Teufel namens Maximinianus gestreut worden sei.
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Die Erinnerungen des verflossenen Jahres 2

Beitrag von Il Narratore »

Die Jahre 944 bis 958
Die letzten fünfzehn Jahre waren geschäftige Zeiten für die Stadt Genua.

Der Trubel um den grausam gemordeten Bischof Rompert wurde leiser, starb aber nicht.
Eine Delegation aus Rom kam, um die Gemeinde für den Mord an einem hohen Geistlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Man begann Fragen zu stellen und die Spur des teuflischen Dämonen Maximinianus aufzunehmen.
Glücklicherweise ist es wieder einmal der Miliz von Luccoli gelungen, unter der Führung ihres neuen Hauptmannes, der die Fußstapfen des edlen Helden Brimir ausfüllt, der ganzen Stadt einen Dienst zu erweisen. Man ergriff den Mörder und verurteilte ihn zügig zum Tode, da er überaus geständig war, von mehreren Zeugen als eben jener Maximinianus benannt worden war und überdies offenkundig dem Irrsinn verfallen war.
Doch das Volk in seiner Wut, aufgestachelt von Predigern und Wanderern und der Kirche selbst, ließ sich die Rache nicht aus der Hand nehmen.
Der Wahnsinnige wurde auf dem Wege zu seiner Hinrichtung in Stücke gerissen.
Von dieser Wiedergutmachung durch die Bürger besänftigt zog die päpstliche Delegation von dannen.

Auch begab es sich zu dieser Zeit, dass Genua - allen Kontroversen zum Trotz - in den Rang einer ordentlichen Stadt erhoben wurde von König Berengar II. von Italien.
Nicht nur gab es fortan das Recht eines jeden Bürgers, an der Politik und Verwaltung seiner Stadt teilzunehmen, es wurde auch freier Bürger, wer auf Jahr und Tag in den Mauern Karls des Großen verweilte. Ein Bürgermeister wurde zunächst eingesetzt vom Grafen, es war der edle Elio Embriaci, damit die Organisation der Verwaltung schnell und ohne Komplikationen von statten gehen könne.
Ein Senat wurde gebildet von den klügsten und vornehmsten Männern der Stadt und jeder Bezirk machte sich daran, als strahlendes Beispiel voranzugehen in der Gemeinschaft mit seiner eigenen Kompanie der Edlen.

Nicht alles schien aber so günstig, denn mit der neuen Freiheit kam Verantwortung einher, deren rechtmäßige Verwendung nicht jedem offenbar war. So zerstritt die Miliz, die in den Jahren zuvor und durch die bestehenden Unruhen und Ausschreitungen rund um den Mord am Bischof und die Hinrichtung des wahnsinnigen Maximinianus zu ein wenig Ruhe und Einheit gefunden hatte, sich wieder.
Die Hälfte der Bezirke, Platealonga, Raveccha und Broglio, fand zu einem Konsens und erklärte einen ständigen Rat der Milizhauptmänner sowie unbedingte Zusammenarbeit der Bezirke zum Wohle dergesamten Stadt.
Die andere Hälfte, Mascharana und Domus, verkündete ihre Loyalität zu Graf Oberto und seiner rechten Hand, Luccio Il Onnivoro, und hörte seinen Rat und Wünsche.
Clavicula hingegen verweigerte jede Zusammenarbeit mit irgendwem und beharrte auf der Unabhängigkeit seiner Rechtsprechung.
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