[1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

[Februar '19]

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Jacques Benoît
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Der Alte hustete trocken und würgte etwas hinunter, was vermutlich die Konsistenz von überkochtem Brei hatte, bevor er sprach. Dann kicherte er wissend und verschränkte die Arme. "Ich hab so manchen tapf'ren im Angesicht des Todes rennen sehen. Vollmundige Worte begleiteten sie alle zuvor, aber als sie den Hauch des Endes spürten, nahmen sie die Beine in die Hand! Ich unterstell' Dir nichts, Bursche, ich kenn' Dich nicht und weiß nicht aus was für einem Holz Du geschnitzt bist." Sein Kopf rückte näher in die Richtung des Hirten, während der Körper zu bleiben schien wo er war. "Aber was Abscheulichkeiten angeht, habe ich genug gesehn, daß ich sie an ihrer Arbeit erkenne - und wenn mich nicht alles täuscht, ist der süße Duft des Todes hier im Hafen nicht von Menschenhand."

Er machte eine Geste zum Ufer hin, wo er das Wrack vermutete. "Was den Bader betrifft, dem hat man die Geschicht' herangetragen, wieder und wieder. Von Blut und von Gesang war da die Rede. Von etwas was kein Tier ist, aber jagt wie ein Tier. Von etwas was wie ein Mensch singt, aber kein Mensch sein kann. Von etwas was wie ein Fisch schwimmt, aber kein Fisch ist. Schuppen und Zähne!" Der alte schüttelte den Kopf. "Was es auch ist, es hat hier nichts verloren. Es gibt genug Schrecken die die Stadt des Nachts durchschreiten, wir brauchen nicht noch mehr davon. Als ich noch jünger war, erzählte mir mein... Vater... von einem, der Verrückt geworden war, ausgestoßen wurde, weil er sich wie ein Tier benahm, um bei den Tieren unter seinesgleichen zu leben. Einen nach dem anderen holte er sich dafür. Nicht als Rache, denn denken konnte er nicht mehr klar. Sprechen konnte er nicht mehr. Er ward ganz zur Bestie geworden. Verwildert. Unwiederbringlich. Und es begann ähnlich wie es hier war..."

Langsam begann der Hinkende in Richtung Wrack zu ziehen. "Und wenn ich ruhig schlafen will, muss ich nachsehn. Drin herumstochern. Mir was mitnehmen. Die Träume lassen einen sonst nicht los. Köder, Kamerad oder Komplize, such's Dir aus wenn Du mit willst, mir soll's einerlei sein. Wenn nicht und wir uns nicht erneut hier begegnen, sieh Dich vor, dann hat mich die Kreatur in seiner Sammlung und nagt mir mein Fleisch von den Knochen."
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Seresa
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Seresa »

Die weißen Knöchelchen an den Fingern des Hirten waren deutlich hervorgetreten, als der Kopf des Alten nähergekommen war und das rechte Bein hatte sich in einer halbkreisförmigen Bewegung lautlos etwas nach hinten bewegt. Der vermeintliche Jüngling wirkte achtsam und bereit sich zu verteidigen, doch weder aggressiv noch angriffslustig in seinen Bewegungen oder seiner Haltung.

Stumm, aber aufmerksam und zugleich mit einer nachdenklichen Falte auf der ansonsten faltenfreien Stirn blickte der vermeintliche Jüngling auf sein Gegenüber, während sich die braunen Augen regelmäßig öffneten und schlossen. Der Brustkorb hob und senkte sich weiter langsam, doch die scheinbare Atmung wurde nicht schneller, als der Alte sich genähert hatte. Angst verspürte er sichtlich keine oder aber er hatte seinen Körper ungemein gut im Griff für das junge Alter.

Einen Moment zögerte der vermeintliche Hirte, als der Alte sich von ihm wegbegeben hatte, bevor er mit ungemein schnellen Schritten zu dem Mann aufgeschlossen hatte und neben ihm ging. Den Blick auf ihn gerichtet.

„Dann sagt mir wenigstens, welchen Namen ich auf Euren Grabstein schreiben soll, nachdem mein Bruder, seine Männer, ich und Gleichgesinnte, Eure Knochen von der Kreatur zurückgeholt haben, nachdem wir sie erschlagen haben.“

Fragend blickte sie auf den alten Mann.

„Nun, zumindest sofern sie Eure Knochen zurücklässt und sie diese nicht zu Knochenmehl vermalt. Und sofern ich sie von den womöglich unzähligen anderen unterscheiden kann.“

Ihr Blick wanderte dabei scheinbar abschätzend und begutachtend über den Körper des noch immer Fremden, ganz so als würde sie sich diesen in diesem Moment gut einprägen.

„Und nein, ich habe keine Angst vor dem Tod. Dafür habe ich ihm zu oft und in zu vielen Formen ins Gesicht geblickt. Trotzdem bin ich der Meinung, man sollte stets wissen, ob es sich lohnt zu kämpfen oder ob es womöglich bessere Herangehensweisen gibt. Zumindest sofern wir die Wahl besitzen, ob wir einen Kampf suchen und führen wollen oder nicht.“

Seresa zuckte leicht mit den Schultern.

„Aber ich werde Euch nicht davon abhalten, so Ihr Eure Vernichtung im Kampf gegen eine Sirene finden wollt, trotz allem, was Euch Euer Vater lehrte. Doch denkt Ihr nicht, es gäbe weitaus bessere Wege dieses Problem anzugehen, so Ihr bereits ahnt, was Euch dort erwarten könnte?“
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Jacques Benoît
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Mit einem Seitenblick, brummte der Buckelige. "Jacques werde ich geheißen. Aber ein Grabstein ist Verschwendung für mich, da wo ich hingeh'n werd, wird er mir nichts mehr geben und die meisten meiner Sippe sind schon vor langer Zeit dem Seuchentod und den Hungersnöten anheim gefallen. Der Tod kennt keinen Müßiggang, er hat seinen Krämerladen immer geöffnet." Dann wurde der Robenträger etwas langsamer, blieb letztlich stehen und drehte sich zu dem vermeintlichen Hirten um. "Dem Tod entgegengetreten bist Du? Ein Kriegsrückkehrer, womöglich von den Inseln?" Sein Interesse war geweckt. "Erzähl mir, wie hast Du den Tod erlebt. Was machte er mit anderen, was machte deren Tod mit Dir und vor allem, wie stehst Du zu Deinem eig'nen Tod bisher? Hast Du mit ihm eine Absprache, daß er Dich nicht vor dreißig Sommern holt? Ich hörte das ist bei Lanzenvolk so üblich." Er hustete etwas hoch und spie es an die Kante zum Wasser, bevor sie weitergingen. "Jemand, der sich mit solchen Worten schmückt ist entweder ein Glückskind oder ein Aufschneider. Wenn Du ersteres bist, ist mir Deine Begleitung heute um so eher willkommen. Glück werden wir brauchen. Und Können, deswegen hoffe ich trägst Du Deinen Stecken nicht bloß zur Zierde."

Jacques schüttelte den Kopf. "Sicher gibt es bess're Wege, die Sirene oder was auch immer das ist, anzugehen. Himmel noch eins, ich müsste mich eigentlich noch nicht einmal drum scheren, aber das tu ich. Auch wenn diese Stadt ihr eigenes Leben hat, was mich vergessen kann, bin ich doch noch hier. Es ist auch meine Stadt. Und warum sollt' ich andere bürden oder erwarten, daß sie etwas tun? Du bist doch selbst schon skeptisch, Bursche - was meinst Du was andere erst sagen, die mich nicht am Hafenbecken fischen sehn? Oder denen es einerlei ist? Nein. Von all den Fallen und Spähungen der letzten zwei Jahre, alledem zum Trotz, gibt's jetzt diesen Weg. Und nur diesen. Und ich bin kein Feigling, der sich von einem 'Vielleicht' ins Bockshorn jagen lässt. Dafür hab ich genug geseh'n." Er blickte den Hirtenjungen noch einmal an. "Aber sag mir, Bursche, wie nennt man Dich? Oder soll ich Dich weiter so nennen?"
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Seresa »

Der vermeintliche Hirte passte sich den Bewegungen des Alten mühelos und gänzlich ohne Furcht zu zeigen an. Er begleitete ihn, während dieser weitersprach, ganz so als wäre es ganz und gar unhöflich oder unverschämt gewesen, einfach stehen zu bleiben. Und so hatten sie sich immer weiter in Richtung des vermeintlichen Wracks begeben.

Als Jacques geendet hatte, blickte sich der Bursche kurz um, ob sie allein waren und wie weit die Männer, welche den seltsamen Angler beschattet hatten, entfernt waren, bevor der Überwurf auf seine Schultern zurückfand, welcher bisher sein Haupt bedeckt hatte. Darunter wurden kinnlange, braune und glatte Haare sichtbar, sowie ein jugendliches Gesicht, welches den alten Mann mit einem gewissen Schalk in den ebenfalls braunen Augen anlächelte, bevor er ihm zunickte.

„Erfreut Eure Bekanntschaft zu machen, Jacques, auch wenn ich Euch enttäuschen muss. Ich bin kein Bursche. Mein Name ist Seresa.“

Ihr Lächeln wurde etwas breiter, während sie seelenruhig und entspannt die Reaktion ihres Gegenübers betrachtete.
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Jacques Benoît
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Jacques hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen! Er war anscheinend so sehr aus dem Konzept gebracht worden, daß er für einen Augenblick vergessen hatte, die Partie oberhalb seiner Nase im Schatten der Kapuze vergraben zu halten und so konnte Seresa jetzt zum ersten Mal seine Augen erkennen, die sie weiß und kränklich anstarrten, wie zwei gekochte Eier - ohne Farbe oder Mittelpunkt. Sie schienen auch hinter doppelten Lidern versteckt, zumindest die äußeren schlossen sich nicht. Bei näherer Betrachtung wirkte es sogar so als sei es Haut, die gar nicht zu ihnen gehörte. Sie war gut auf das dahinterliegende Material gespannt und sah nahezu echt aus, aber in diesem Licht, bei dieser Unachtsamkeit und diesen Sinnen, war es klar, daß es sich um eine Maske handeln musste. Zu starr die Mimik die den Augen und dem Körper widersprach.

"Ha... ha... hallo. Hallo Seresa." Das falsche Gesicht verzog keine Miene. Aber dafür wuselten die langen behandschuhten Finger wie zwei Weberknechte umeinander, wo sie sich soeben noch gehalten haben in aller Ruhe. "Kein... kein Knabe also." Sein Geist war wach und schwer beschäftigt sich an die neuen Informationen anzupassen. "Für eine Kriegswitwe auf Rache zu jung...", murmelte er. "Für eine als Knappe verkleidete Mitgiftmogelei zu auffällig..." Er schien im Kopf alle Optionen durchzugehen, die ihm zumindest wahrscheinlich schienen. "Für eine abenteuerlustige Adelsausreißerin zu arm bewaffnet..." Und langsam schienen ihm auch die Ideen auszugehen.

"Du hast bestimmt eine eigentümliche Vergangenheit, wenn das hier und jetzt das ist, wohin sie Dich geführt hat.", nickte er schlussendlich.
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Seresa »

„Dort.“

Seresa deutete mit dem Zeigefinger der Hand, welche den Stab hielt, auf die Stelle am Gürtel des alten Mannes, an dem er zuvor den Schürhaken befestigt hatte, während ihre Stimme warm und hilfsbereit klang.

„Zumindest so Ihr Eure Waffe sucht.“

Sie zuckte leicht mit den Schultern, während sie ihr Gegenüber aufmerksam verfolgte.

„Auch wenn ich wahrlich nicht weiß, womit ich Euch derartig verschreckt habe. Ich sagte Euch doch bereits zuvor, dass ich mich nicht als Köder für Eure Jagd eigne. Zudem ist es gefährlich für ein Mädchen allein unterwegs zu sein. Einerlei ob nun bei Tag oder bei Nacht. Es gibt zu viele Einfältige, welche meinen sie können sich nehmen was sie wollen, einzig weil sie die Macht dazu besitzen. Sie erkennen das Wort des Herrn nicht an. Respektieren weder ein Nein noch eine Weigerung. Stattdessen nehmen sie einen mit Gewalt, so man nicht willig und bereit ist. Als Bursche ist dies zwar nicht zwangsweise besser, doch die wenigsten Mächtigen interessieren sich für einen einfachen, kleinen und gewöhnlichen Hirtenjungen.“

Ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor ihr Blick und ihre Stimme wieder ernster wurden.

„Doch ich bin nicht die Einzige von uns beiden, die vorgibt etwas zu sein, was sie nicht ist, nicht wahr Jacques? Die etwas vor der Welt verbirgt, was diese nicht auf den ersten Blick entdecken soll.“

Ihr Haupt neigte sich kurz leicht zur Seite, wohl um anzudeuten, dass sie unter seine Kapuze geblickt hatte.
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

"Die meisten Mächtigen interessieren sich hauptsächlich und in allererster Linie für sich selbst und ihren Nutzen, Machterhalt und so weiter. Und ja, das ist wahr, wohl weniger für Hirtenjungen. Ist mir zumindest bisher noch nicht untergekommen, aber ich meide 'Mächtige' meist. Sie haben keine Freude an mir und ich habe keine Verwendung für sie. Und es verdirbt sowohl den Charakter, als daß es einem die Sinne stumpft für das wahre, kernige, einfache Leben. Für die Wahrheiten die da draußen sind. Für den Tod." Er wog leicht mit dem Kopf. "Aber ich schweife ab!"

Er drehte sich wieder beiseite und starrte aufs Meer hinaus. "Ich verlor mein Gesicht an den Tod. Er nahm mich nicht ganz, nur Teile von mir. Meine Familie zuerst. Und dann mich, teilweise. Aber jetzt habe ich eine neue Familie. Und ein neues... Gesicht." Man konnte sein Grinsen hören. "Wer weiß, vielleicht habe ich eines Tages sogar einen neuen Tod! Aber nicht heute. Heute jagen wir, was jagt. Oder kneifst Du, Seresa, mit so einem Todgeweihten in Begleitung?" Jacques drehte seinen Kopf erneut in ihre Richtung.
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Seresa »

„Nein. Nein, ich störe mich wahrlich nicht daran. Weshalb auch?! Sind wir nicht alle durch unsere Geburt letzten Endes unweigerlich dem Todgeweiht? Auch wenn ich den Ausdruck geweiht hierfür als nicht gänzlich passend empfinde.“

Für einen Moment betrachtete Seresa schweigend ihr Gegenüber, bevor sie schließlich nickte.

„Gut. Ich werde Euch begleiten, doch ich will meinerseits etwas dafür von Euch. Ich will, dass Ihr mich in drei Jahren, drei Monaten und drei Tagen - zur gleichen Stundenzeit wie wir uns heute hier im Hafen begegnet sind - im ´A Tarda Ora´ in Broglio aufsucht, mich dort trefft und Euch mir wahrlich zeigt. Ich will sehen und erfahren, wie ein Todgeweihter gänzlich aussieht. Nicht nur sein neues Gesicht, sondern alles an ihm.“

Ruhig und abwartend blickte sie auf den alten Mann.

„Seid Ihr damit einverstanden, Jacques?“
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

"A Tarda Ora", murmelte er, sich im Nacken kratzend - noch immer mit Akzent. "'Zur späten Stund'? In Broglio? So soll es sein, in der Jahren drei, der Monate und Tage." Er grübelte noch einen weiteren Moment darüber, ob er bei ihrer Aufforderung tatsächlich ohne Bekleidung erwartet wurde oder das bloß ein Schalk war, beschloss die Entscheidung darüber zu vertagen, um sich nicht abzulenken. Mittlerweile hatten sie den Trampelpfad und den angrenzenden Strand verlassen und waren weiter die Küste entlang gegangen.

Das umgekippte, vom Sand und Schlick umschlungene Wrack war morsch und wirkte wie der Panzer einer riesigen Meeresschildkröte, die noch halb im Wasser steckte. Das nasse Holz glitzerte in dem fahlen Licht des Mondes und die Spiegelung der weit entfernten Fackeln des Hafens waren kaum noch zu erkennen, so weit weg war es. Wie ein aufgerissenes Maul, mit bretterdicken Zähnen, klaffte ein Loch im Rumpf des eins seetüchtigen Schiffskörpers. Es war so nah an der Wasseroberfläche, daß es zu einem Drittel wohl unter ihr verschwand und so groß, daß ein Hund oder etwas größeres Tier hindurch passen könnte. Wenn er denn wollte, denn dahinter lag eine Finsternis und Stille, die einem die Haare zu berge stehen ließ.

Der Rest des Schiffsrumpfs an Land war nach oben gestreckt, der Kiel ragte am Bug mannshoch über die Köpfe und vermutlich ging das Schiff im Innern nach oben hin noch etwas weiter. Gespickt mit mit tausenden scharfkantiger Seepocken, war die Wand aber zu steil und zu unzugänglich, um sie zu beklettern, man würde sich nur alles aufschneiden und mit offenen Wunden ins salzige Wasser klatschen oder auf den Sand. Ein Grund, warum die Menschen sich vermutlich nicht die Mühe gemacht haben, das Wrack zu erkunden. Zu alt war es und zu gefährlich; nichts was dort sein konnte, würde einen derart leichtfertigen Einsatz seines Lebens rechtfertigen. Es war einfach nur ein Wrack, für die Augen jener abseits der Wege wandernder, die es überhaupt hierher verschlug.

Für die geschulten Sinne der nächtlichen Bewohner der Stadt war dies jedoch anders - denn alleine am Geruch wurde ihnen klar, dort lebt nicht nur irgendetwas, dort stirbt auch regelmäßig etwas. Der feine, von der Meeresluft fast zerwaschene Duft alten Blutes lag in der Luft - und er schien aus dieser Öffnung zu kommen. Kalt klatschten die Wellen gegen das Wrack und gegeneinander. Ungeduldig. Gnadenlos. Ohne Unterlass.

"Wir sind da. Das ist es!", flüsterte Jacques und machte eine Geste mit seinen langen behandschuhten Fingern zum Schiff.
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Re: [1024] Aus der Tiefe, in die Tiefe [Seresa, Jacques]

Beitrag von Seresa »

„Gut. Dann ist es abgemacht. Gebt den Wachen am Eingang Bescheid. Ein Diener wird Euch von dort aus auf ein gesondertes Zimmer führen, in welchem wir allein und ungestört sein können.“

Ein freudiges Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau, während sie sich mit dem Alten auf den Weg machte. Sie wirkte während sie gemeinsam wanderten aufmerksam. Schlug den Überwurf ruhig über ihr Haupt zurück, sobald sie anderen Menschen näherkamen. Während sie zum Wrack schritten, plauderte Seresa in gedämpfter Stimme zu Jacques.

„Ich schulde Euch noch Antworten.“

Ihr Blick wandte sich an ihre Begleitung und nach einem Moment des Schweigens war sie fortgefahren.

„Nein, ich war im Krieg nicht an der Schlacht selbst beteiligt, jedoch zwei meiner Brüder, sowie einige entfernte Bekannte. Einer meiner Brüder diente auf dem Feld im letzten Krieg und dem davor. Mein anderer Bruder nur in dem vor zweiundzwanzig Jahren. Ich selbst war in Genua, da ich anderen Orts von einem geringen Wert gewesen wäre, auch wenn die Entscheidung keine einfache war. Familie und Jene, welche einem nahestehen in Gefahr zu wissen und selbst nichts dagegen tun zu können, ist nur schwerlich zu ertragen. Zwar ist mein Bruder ein erfahrener Kämpfer - schnell und klug - doch das macht es einer Schwester nicht einfacher ums Herz. Er tat das Richtige und stand für das ein, woran er glaubt, weshalb ich ihn sehr zu schätzen und zu respektieren weiß. Er war es auch, welcher mir beibrachte mich besser zu verteidigen.“

Die kleine Gestalt zuckte leicht mit den Schultern.

„Ich mag noch immer nicht an seine kämpferischen und strategischen Fähigkeiten herankommen, doch ich bin noch sehr jung im Vergleich zu ihm. Doch ich lerne schnell von ihm, denn er ist ein strenger Lehrmeister und Fehler eine schmerzhafte - wenn auch gerechte - Lektion.“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ein leichtes Funkeln war bei ihren Worten in den braunen Augen zu sehen. Offenkundig empfand sie seine Strenge und die Schmerzen als nichts Schlechtes. Vielmehr klang es so, als hätte eben jenes sie zu dieser furchtlosen und in sich ruhenden jungen Frau geformt, welche ihn nun ganz ohne Scheu ins Ungewisse begleitete.

„Zudem war der letzte Krieg vor acht Jahren. Bedenkt, wie alt ich wohl damals gewesen sein mochte, auch wenn ich mich als ein Bursche ausgegeben hätte und meinem Bruder begleitet hätte.“

Ein fast amüsiertes Lächeln umspielte ihre jungen Lippen. Die Vorstellung eines Acht- bis Dreizehnjährigen auf dem Schlachtfeld schien sie zu erheitern, doch dann wurde ihr Blick ernster und sie schüttelte den Kopf.

„Jene, welche im Krieg dienen erfahren und erleben schreckliche Dinge, Jacques. Ich hörte die Geschichten von vielen Rückkehrern, die ihres Lebens nie mehr froh wurden, hatten sie Schatten gesehen, welche ganze Schiffe in die Tiefe gezogen hatten. Doch auch andere Dinge nagen schwer an ihren Seelen und ihrem Verstand. Niemand lässt der Krieg und was dieser mit sich bringt gänzlich unberührt. Es verändert einen. Unausweichlich und für immer.“

Für einen Moment atmete Seresa - beinahe schwer seufzend - aus, während ihr Blick anscheinend ziellos in die Ferne glitt.

„Jemanden sterben zu sehen ist niemals leicht, einerlei in welcher Art und Weise.“

Sie wirkte für einen Augenblick sehr nachdenklich, bevor sie den düsteren Gedanken mit einem Schütteln des Kopfes beiseiteschob.

„Und nein, ich habe keine Absprache mit dem Tod.“

Ihr Blick ging zu dem Mann an ihrer Seite zurück.

„So er kommt und mein Dasein fordert, wird es wenig geben, was ich dagegen tun kann, außer versuchen ihm redlich und mit Würde entgegenzutreten.“

Seresa zuckte leicht mit den Schultern.

„Unser Dasein liegt letzten Endes nicht in unseren Händen, sondern in den Händen unseres Herrn, welcher die Zeit und den Ort kennt, an dem es enden wird und wir nicht länger sein werden. Ich weiß nicht, ob es dann noch Jemanden gäbe, der meiner gedenkt oder gedenken will, doch so Ihr widererwarten in der heutigen Nacht Euer Ende finden würdet und ich nicht, werde ich Eurer gedenken, Jacques, auch wenn es sonst Keiner tut. Ihr seid bereit das Richtige zu tun, wenn auch nicht auf dem besten und schlausten Weg, denn bei Zeiten benötigen wir alle den Schutz und die Hilfe einer Gemeinschaft. Einer Art Familie sozusagen, denn Niemand von uns lebt und stirbt für sich allein. So wir nicht aufeinander achtgeben, sind wir nicht besser als wilde Tiere ohne Sinn und Verstand, die nur auf sich selbst blicken. Ihren eigenen Nutzen sehen und nichts zurückgeben wollen. Sicherlich, Ihr mögt keine bezaubernde Rose sein, deren Nutzen man allzu leicht erahnen kann. Ihr seid vielmehr wie ein Löwenzahn. Widerspenstig und hartnäckig. Ihr fragt nicht um Erlaubnis und es kümmert Euch nicht, ob Ihr etwas dürft oder was andere davon halten. Ihr lasst Euch nicht abbringen und tut was Ihr tut, weil es Euch als das Richtige erscheint. Das mag nicht immer der wohlgefälligste Weg sein, aber ich verstehe Eure Leidenschaftlichkeit in dem was Ihr tut, weshalb ich mich darauf freue, Euch wahrlich kennenzulernen.“

Erneut lächelte sie den Maskenträger an, bevor sie zu überlegen schien, ob sie etwas vergessen hatte, doch ihr fiel nichts weiter ein, worüber sie in diesem Moment sprechen wollte und so Jacques keine weiteren Fragen gestellt hätte, wären sie irgendwann letzten Endes am Wrack angekommen, welches Seresa mit zusammengekniffenen Augen gemustert hätte, ganz so als erwarte sie von dem Schiff, dass es seine Geschichte ihr offenbarte, sofern sie es nur lange genug anblickte. Jedes Klatschen des Wassers auf Holz schien für sie wie ein unbarmherziger Schlag auf ihren Körper zu sein, denn sie zuckte dabei leicht - kaum sichtbar - zusammen, während sie ihn ansonsten schweigend ertrug. Der Duft des Blutes dafür sorgte, dass sich ihre Nase auf Grund der falschen Atmung kurzzeitig kräuselte, während sie nahezu missmutig in die stillen Schatten blickte. Seresa schien das hier nicht zugefallen, denn ihr Atem ging schwer - stockte bei Zeiten gar gänzlich - und ihr Körper war bis zum Zerbersten angespannt, während sie schweigend und starr dastand. Ob Jacques geflüsterten Worte sie überhaupt erreicht hatten in diesem Moment war unklar. Darauf reagieren tat sie jedoch in diesem Moment nicht.
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