[1012] Narrenschiff [Angelique, Sousanna]

[Angelique]

"Klar!", rief Angelique begeistert. Wie jedes Kind liebte sie Versteckspielen und wie jede Untote liebte sie Geheimnisse. Besonders die von anderen Leuten. Mit neuem Elan sprang sie auf, um ihrer großen Freundin zu folgen.

[Sousanna]

Die Ravnos führte sie wieder unter Deck und begann ihrer gelehrten Freundin die ganzen, kleinen und großen Geheimnisse der bauchigen Heiligen zu zeigen. - Und davon gab es einige. Die Santa Theodora schien nicht ganz so heilig zu sein, wie sie von außen wirkte.
Schließlich aber landeten sie wieder im kleinen Palmenhain und Sousanna grinste das Mondenkind an. "Und?", fragte sie. "Was denkst du?"

[Angelique]

Angelique hüpfte auf und ab. "Tres chic", jubelte sie. "Du hast einfach die tollsten Ideen, Sousanoula!"

Angelique genoß den falschen Hain mit den parfümierten Wassern und den ornamentierten Kübeln für die Bäume.
"Wie die Gärten der Sarazenen", murmelte sie wohlig zufrieden. "Sie sollen das Paradies nachbilden. Wusstest du das? Jedes begüterte Haus versucht dem Garten Eden nahe zu kommen. Das hier ist wie eine Ahnung des Gartens der Lillith. Ewig die Stunde vor dem Morgengrauen eines Tages, der niemals anbrechen wird. Traurig und schön zugleich."

Sie redete wirr. Aber es war so poetisch!

[Sousanna]

Strahlend drehte sich die Ravnos in Mitten des besagten Gartens. Die Arme ausgestreckt wirbelte sie um die eigene Achse und trug das engelsgleichste Lächeln auf den vollen Lippen, das je eine Sünderin gezeigt hatte.
"Ein Paradies", wiederholte sie und lachte vor Begeisterung glockenhell. "Das will ich gern bauen. Ich will es weniger traurig und dafür bunt und prachtvoll machen."

[Angelique]

Angelique sagte nichts. Das alles klang so naiv und wahnsinnig. Aber genau das, war es, was das Paradies ausmachte. Glück im Jetzt für sich selbst und Befeiung von den Ketten der Realität.

Sie hoffte, sie hatte im Laufe der Zeit ihren Beitrag zur Befreiung des Geistes ihrer Freundin geleistet. Endlich wirkte diese zufrieden und glücklich. Hatte etwas erschaffen, das nicht in diese freudlose Zeit passte. Hatte eine Mirage Wirklichkeit werden lassen.

Angelique lächelte leise.

[Sousanna]

Strahlend wirbelte die Ravnos zu der kleinen Angelique hinüber. Sie kniete sich zu ihr hin, so dass sie zu ihrer Freundin empor blicken konnte.
"Was willst du machen?", fragte sie mit strahlenden Rehaugen, die Aufgekraztheit noch immer in ihrer warmen Stimme. "Heute Nacht sind alle Wunder möglich."

[Angelique]

"Dir zusehen, wie du dich erfreust und frohlockst", meinte Angelique glücklich. "Das genügt mir heute nacht."

Sie konnte es Sousanna schlecht erklären, da sie es selber kaum verstand. Für andere da zu sein und sich zu freuen, wenn sie sich freuten, machte sie glücklich. Das hatte sie immer so gehalten. Sie war nichts, meist eigentlich nicht einmal wahrzunehmen. Manchmal wusste sie nicht einmal, ob sie wirklich existierte oder doch nur ein Traum eines Anderen war. Das machte ihr Angst. Anderen zuzuschauen, ließ sie sich als Teil von der Welt fühlen.

[Sousanna]

In einer seltsam liebevollen, vertraulichen Geste strich die größere der kleineren Bestie übers Haar. Ein leises, melancholisches Lächeln lag auf ihren Lippen und Sanftheit lag in ihren dunklen Augen.
"Ach, Angelique, du bist zu gut für diese Welt.", seufzte sie und legte dann den Kopf schief, um sie anzugrinsen. "Sag hast du Lust, diesen Stümpern auf dem Schiff mit mir zu erklären, wie richtige Kunst geht? Damit dieses Schiff noch bunter und prachtvoller wird."

[Angelique]

"Ich kann es gerne versuchen", meinte Angelique begeistert, "aber du weißt ja, wie leicht ich abgelenkt werde. Ich habe die Aufmerksamkeitsspanne eines alkoholisierten Eichhörnchens."

[Sousanna]

Sousanna lachte ihr glockenhelles Lachen. "Das klingt nach den besten Voraussetzungen.", stellte sie fest und nahm die kleine Bestie bei der Hand, sie zur Gestaltung des Schiffs einzuladen.