Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

[November 16]
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Sousanna
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Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Sousanna »

Mit leicht angewiderter Miene streifte Sousanna durch die Straßen dieses Viertel. Es war schlicht und ergreifend kein schöner Anblick - wenigstens umhüllte die Dunkelheit das ganze Elend und verlieh ihm den Charme einer geheimen dunklen Welt. Vielleicht noch ein wenig dunkler als die ihre. Immerhin hatte ich das Glück, dass sie sich keine Krankheiten mehr einfangen konnte und somit bestimmt nicht so elend dahin siechen würde, wie diese Leute hier. Dazu hatte sie eindeutig die Zeit dazu irgendwann so viel Vermögen anzuhäufen, dass sie nur noch durch sanfte Gärten voller wohlriechender Kräuter wandeln konnte wie Sappho, und ihre Untergebenen sich mit solchen Orten herumschlagen mussten.

Doch bis dahin half es ja nicht, sich zu beschweren. Reichtum braucht nun einmal viele Mühen - und noch nie auf dieser Welt gab es Dinge umsonst. Darum war sie nun hier auf der Suche, nach Menschen, Blutsaugern oder sonstigem Gesocks, mit denen man Geschäfte machen konnte. Denn wenn es hier tatsächlich niemanden gab, mit dem man sich auf den Transport und den Verbleib von Waren unbestimmter Herkunft einigen konnte, dann wäre sie selbst eine Heilige.

So huschten ihre Blicke immer wieder über die schäbigen Bauwerke, die Straßen und alles was ein Zeichen für die Diebeskunst sein konnte. - Zumindest für etwas mehr Diebstahlskunst als nur irgendwelche Straßenkinder, die sich mit Freuden auf alles stürzten, was glitzerte. Sie wartete auf Anzeichen für Orte, an denen Leute arbeiteten, die wertvolleres erkannten als nur das Schimmern eines gefälschten Rings an den Fingern eines protzenden Händlers.

Mit einem leisen Schmunzeln sah sie sich noch weiter um. Vielleicht hatte ja auch irgendjemand Bedarf daran, sie zu bestehlen. Das würde die Sache schon einmal etwas leichter - und vor allem spannender machen. Allerdings kamen die Bewohner solcher Viertel auch manchmal auf ganz andere Ideen (vor allem wenn man den Geschichten über diesen Ort glauben konnte), darum hatte sie dafür gesorgt, dass sie nicht allzu auffällig gute Kleidung oder wertvolle Gegenstände bei sich trug. Denn auch wenn man sie nicht wirklich abstechen könnte, waren solche Ereignisse doch schlicht und ergreifend hochgradig unpraktisch.
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Maria Penthesilea
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Maria Penthesilea »

Es war nicht üblich, dass Frauen alleine unterwegs waren. Nicht zur Nachtzeit - und vor allem nicht in einem so schäbigen Viertel, wie es Broglio in den letzten Jahrzehnten geworden war. Die Schwemme der Bettler, die aus den anderen Sestieri hierher geströmt war, getrieben worden war, hatte nur den Anfang markiert. Konflikte zwischen der Miliz, die gerüchteweise selbst aus Verbrechern bestand, und Banden aus den benachbarten Clavicula, hatten ihr Übriges getan.

Daher war es nicht verwundert, dass die Frau, die Sousanna plötzlich unvermittelt gegenüberstand, sie mit großen Augen ansah.

Die Ravnos war um eine Ecke gebogen, in einer der Nebengassen des Viertels. Es war vielleicht eine Laune gewesen, vielleicht Schicksal. Ihr Gegenüber - eine schlacksige, trainierte Erscheinung in den unauffälligen Kleidern einer Städterin - verlor jedenfalls keine Zeit. Sie sprang zurück, ein geübter, trainierter Reflex offenbar, denn die Reaktionszeit war unmittelbar gewesen.

Dann erst kniff die Städterin ihre Augen zusammen und musterte ihr Gegenüber von oben bis unten. Ihre Hand war an ihren Gürtel geglitten, wo sie auch weiterhin verharrte.

Leise sagte sie: "Guten Abend", ohne den Blick zu senken, ohne aus ihrer wachsamen Pose zu geraten. "Oder besser: Gute Nacht." Es lag eine unausgesprochene Frage in den Worten - was machte diese Fremde hier, jetzt, um diese Zeit?
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Sousanna
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Sousanna »

Im Moment des Zusammentreffens war auch Sousanna kurz zurück gezuckt und war dann zwei Schritte zurück gewichen. Ihre Hand war nicht gezuckt. Um ehrlich zu sein hatte sie dafür, dass sie als Frau in einer solchen Gegend nachts jemanden getroffen hatte, der sie völlig überraschte, relativ wenig reagiert. Anstatt sich nun in eine Abwehrhaltung zu begeben lächelte sie die Andere so freundlich und offen an als ob sie sich gerade auf einem sonnendurchfluteten Marktplatz getroffen hätten. "Ich würde den Ausdruck guten Abend bevorzugen.", erklärte sie mit scheinbar tiefer Entspannung. Fast klang es als wäre sie nur in diese Seitenstraße gekommen um mit exakt dieser Frau eine philosophische Diskussion über den Unterschied zwischen beiden Grußformeln zu führen. "Immerhin ist es zwar schon recht spät, aber gute Nacht erscheint mir doch eher wie ein Wunsch vor dem Schlafengehen. Was denkt Ihr darüber?"
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Maria Penthesilea
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Maria Penthesilea »

"Ah?" sagte die andere nur und blickte nachdenklich Sousanna an. "Und du bist nicht auf dem Weg? Zum Schlafengehen?" Dann, plötzlich, grinste sie. "Das ist gut", fügte sie hinzu. "Gut. Aber wohin denn dann? Es ist spät. Das Viertel gefährlich. Ein Risiko!"

Sie machte eine Geste mit den Armen, als wolle sie ein Schreckgespenst darstellen. Sousanna hatte nicht das Gefühl, dass die andere über sie lachte. Eher mit ihr, so, als würden sie gemeinsam einen vor der Welt verborgenen Scherz teilen. Auch wenn die Kainitin die Pointe nicht kannte.
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Sousanna
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Sousanna »

Sousanna hob leicht in Gedanken verloren die Augenbrauen und schmunzelte dann über den Scherz, den sie nicht wirklich kannte. Vielleicht bezog sie sich auf die Gerüchte über dieses Viertel, vielleicht hatte sie auch schlicht und ergreifend den Verstand über all dieses Elend hier verloren. "Ich könnte auf dem Weg sein, Freund zu besuchen, ich könnte hier aber auch nach meinem verloren gegangenen Verlobten suchen...", erklärte sie dann als wäre sie sich selbst nicht sicher, was genau sie hier suchte.

Dann aber Schlug ihr leichtes Lächeln, das dann in ein verschlagenes, recht undamenhaftes Grinsen ausartete. "Oder aber ich bin hier, um dieses Risiko nur noch zu vergrößern." Kurz ließ sie sich Zeit die andere Frau zu mustern, um irgendwelche Anhaltspunkte über deren Gründe für das Herumstreifen in diesem Viertel zu finden, dann aber sinnierte sie mit einem gelassenen Schulterzucken: "Aber genaugenommen könnte ich dich dasselbe fragen..."
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Maria Penthesilea
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Maria Penthesilea »

Die Städterin nickte. "Sehr weise. Immer eine Tarnung. Das macht es leichter." Sie lächelte Sousanna an, ein selbstsicheres Lächeln. "Wir... vergrößern das Risiko. Für einige. Das macht es für andere sicherer. Denn: Ich rede von Verbrechern." Vorgebeugt flüsterte sie: "Die Hexe von Broglio. Und ihre Diener. Hast du davon gehört?"

Ein erwartungsvoller Blick traf Sousanna, so, als müsse die Ravnos bereits wissen, von wem die Rede war.
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Sousanna
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Sousanna »

Sousannas Augenbraue wanderte noch höher. Diese Dame hatte doch tatsächlich einen großen Schaden. Natürlich hatte sie von der Hexe von Broglio gehört. Aber das waren doch Mären für kleine Kinder. Absolut lächerlich. Kainiten ja, deren Existenz hatte sie ja selbst am eigenen Leib erlebt. Aber Hexen und deren Gefolgsleute? Das waren doch lächerliche Geschichten, um die Jugend eines gefährlichen Viertels ungefährlicher zu halten.

Wahrscheinlich sah man ihr ihren Zweifel an, denn ihre Antwort dauerte noch einige Augenblicke. "Ich habe ... davon gehört.", erwiderte sie leise und ihre Worte sehr genau bedenkend. Während sie sprach spielte sie wieder mit der Kordel ihres Kleides. Diese Frau war offensichtlich irre - und tendenziell waren Irre und Leute, die dachten, irgendwelchen Fabelwesen zu dienen immer gefährlich. Was die Kombination anging, so konnte Sousanna nur mutmaßen. "Allerdings war ich bisher der Meinung, dass das eher in die Kategorie - Geschichten am Feuer gehört. Gehörst du etwa zu diesen Dienern der Hexe?"
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Maria Penthesilea
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Maria Penthesilea »

Die Städterin schaute einen Moment verwirrt, dann winkte sie lachend ab. "Nein. Und du missverstehst. Diese Hexe ist keine Hexe. Aber! Sie ist böse. Sie verdreht Männern den Kopf. Sie nimmt deren Geld. Sie tötet deren Familien." Die Arme verschränkt, zog die Frau ihre Augenbraue hoch.

"Bist du neu in der Stadt? Die Hexe... der Werwolf... diese Dinge sind schon lange Gespräch." Eine kurze Pause. "Der Werwolf etwa: Soll Menschen getötet haben. Wurde nie gesehen. Aber Verbrecher wurden gesehen. Mörder. Und nun? Die Liebhaber der Hexe: Sie sagen, wir brauchen Schutz. Gegen den Werwolf. Also machen sie die Verbrecher zur Wache. Zur..." sie verzog das Gesicht "...Miliz."

Wieder ließ sie der anderen Zeit, das Gesagte zu verarbeiten. Dann nickte sie. "Das macht es schwerer. Für mich. Vielleicht auch für dich. Ja?"
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Sousanna
Ravnos
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Sousanna »

Das waren nun wirklich alles keine Dinge, mit denen die Ravnos tatsächlich ein Problem hatte. Köpfe zu verdrehen, Geld zu kassieren, das war schlicht und ergreifend normales Handwerk. - Und auch wenn Morde nie wirklich ihre Lieblingslösung gewesen waren, um Angelegenheiten zu lösen, so waren sie manchmal eben unumgänglich. Genauso wie Spaziergänge durch dieses Viertel. Allerdings war sie sich tatsächlich nicht so ganz sicher, was diese Frau eigentlich von ihr wollte.

Nachdenklich fuhr sie sich durchs Haar und erwiderte leise. "Das Leben ist schwer und ja, ich bin neu hier. Ich fürchte, dass ich nicht abschätzen kann, ob es hier schwerer ist, als an andren Orten."
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Maria Penthesilea
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Re: Bilder erblindeter Spiegel (Maria)

Beitrag von Maria Penthesilea »

Die andere zuckte mit den Schultern. "Je schwerer die Jagd..." Ihre Augen weiteten sich nur ein ganz klein wenig, so, als würde sie über etwas ausgesprochen Wichtiges sprechen. "...desto lohnender die Beute."

Dann verschränkte sie die Arme. "Frauen wie dich... ich suche sie." Sie beugte sich vor und sprach leise weiter. Sousanna konnte den Geruch von Moos, Erde und feuchtem Gras riechen, der von ihr ausströmte. Ein seltsamer Geruch, hier, in der Stadt. "Für ein besseres Leben. Ein wahrhaftiges Leben."
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