[Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Geschichten über Monster

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Signora Achilla
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[Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Signora Achilla »

Das zweite Hungerjahr zog sich hin. So mancher hohe Herr trug steile Sorgenfalten auf der Stirn. Stimmte das Gerücht, dass ganze Schiffs- und Wagenladungen mit Essbarem von Pisanern weggekauft wurden? Oder waren es die gierigen Geldsäcke aus Savona oder gar Nizza? Hieß es nicht aber, dass der Hunger im Norden schon besiegt war? Dass er von Süden her neu entbrannte? Dass die Ernte auch dieses Jahr bereits zu verdorren und verfaulen begann? Oder dass sie so gut werden würde wie noch nie?

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Es war Mai und es stank zum Himmel. Die Hundegasse in Clavicula hieß so, weil sich hier immer die Köter herumtrieben und sich um Essensabfälle aus der schmuddligen Schänke nebenan balgten. Doch die Abfälle waren längst ausgeblieben, das Essen ohnehin. Die Hunde waren weniger geworden. Zuletzt hatte es gar keinen mehr gegeben.

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Maria schob und zog ihren kleinen Handkarren durch den Unrat der Gosse. Auf dem Karren lag in einem Nest aus Lumpen ihr kleiner Sohn, Aldo. Seine Augen waren riesig in dem viel zu schmalen Gesicht. Der Junge hatte schon vor Tagen aufgehört, zu schreien. Er hatte keine Kraft mehr und Maria hatte keine Milch. Ihre Brust war wund und blutig. Manchmal wünschte sie sich, er würde schreien. Manchmal hatte sie Angst um ihn und weinte, weil sie ihm nichts zu geben hatte.
Und manchmal, so wie jetzt, sah sie ihn an und fragte sich, ob er schon tot war. Und, wenn es so war, ob es dann eine Sünde wäre, wenn sie für sich zurücknahm, was sie in diese Welt gegeben hatte?

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Drei Jungen standen sich im Hinterhof gegenüber. Seppo hatte einen Stock, auf den er eine Ratte gespießt hatte, noch ganz frisch. Ihr Blut tropfte auf den staubigen Boden. Rico starrte hungrig darauf, während Ardo in die Hocke ging, um ein paar trockene Hölzer und getrocknete Scheiße für ein Feuer aufzustapeln.
Von den dreien war Rico der Kleinste und zugleich auch der Hungrigste. Bei allen dreien konnte man die Rippen unter der schmutzigen Haut zählen, doch Rico war so hungrig, dass er an nichts anderes mehr denken konnte als das Fleisch am Stock. Und darum bemerkte er auch nicht, dass Ardo, als der sich umgedreht hatte, um noch mehr zum Verbrennen zu suchen, mit einem Stein in der Hand zurückkam.
Er bemerkte es erst, als er den scharfen Schmerz am Hinterkopf spürte. Seine Welt blitzte grell auf und wurde dann schwarz.
“Hehe”, machte Seppo und wedelte mit dem Stock und der Ratte. “Ein Maul weniger zu stopfen.”
Das war eine einfache Rechnung in diesen Tagen.

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Nichts höhlt einen Menschen so sehr aus wie der Hunger. Es beginnt schleichend, vielleicht geht es sogar für eine Weile, doch mit dem Wissen, dass es nichts zum Essen gibt, kehrt der Hunger zurück. Er ist eine Ohnmacht, ein Schmerz, ein Wahnsinn. Irgendwann ändert sich der Blick auf die Welt, bis er nur noch zwischen zwei Dingen unterscheidet: Essbar und nicht essbar. Und auch das ändert sich weiter, denn was “essbar” ist, das dehnt sich immer weiter aus.

In dem bauchigen Topf über der großen Feuerstelle köchelte Wasser vor sich hin. Ein paar trübe Streifen Seetang schwammen darin, Baumrinde, Gras, Moos. Ella rührte lustlos um. Es roch nach Erde und Dreck, nicht nach Suppe. Doch was sollte sie sonst tun? Es gab nichts anderes!

---

Von der anderen Seite des Feuers her sah Biagio herüber zu seiner Schwester. Ella war einmal hübsch gewesen, mit hellem und feinem Haar und feiner Haut, mit ihrem Lachen, das ihr direkt aus dem Herzen schien und direkt zu anderen übersprang. Jetzt war ihr Haar glanzlos unter der dreckigen Haube und sie hatte ewig nicht gelacht. Doch Biagio war froh, dass sie noch da war.
In den letzten Monaten waren Frauen verschwunden, so hieß es. Mädchen. Räuber stahlen sie direkt aus den Häusern heraus, aus den Gassen, von den Brunnenplätzen. Die Räuber hatten auch einen Namen: Die Bastieri. ‘Bastarde’ traf es wohl viel eher. Sie stolzierten gern umher, verlangten dies und das. Was man ihnen nicht freiwillig hergab, das nahmen sie sich einfach. Ihr Anführer, so hieß es, fraß Menschen.
Ob das stimmte? Biagio wusste es nicht. Doch er wusste, dass er auf seine Schwester aufpassen musste und wenn es galt sich zwischen einem von denen und ihr zu entscheiden, dann war die Entscheidung einfach.

---

“Ich hab’ die Schnauze voll!”, rief Isabella über das Feuer hinweg, als sie sah, was dort in dem Topf köchelte.
“Ne, voll ist anders”, murrte Biagio, immer noch mit seinen düsteren Gedanken beschäftigt.
“‘s gibt nichts anderes”, flüsterte Ella. Sie war den Tränen nahe. Es war die Verzweiflung, blank und bar. Es gab nichts anderes.
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Angelique
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Angelique »

Wohl gerüstete Söldner, sowohl Normannen, als auch Einheimische mit guter Ausrüstung, brachten auch einen Karren vom Hafen auf einen Platz.
Eine Fahne hing an einer Stange daran.

Sie zeigte einen Bären mit einem Taukreuz. Die Ältesten mochten sich noch Geschichten über einen Söldnerführer mit diesem Wappen erzählen, aber die meisten kannten es von den Wimpeln, die vom Turm der Nacht unter dem Georgskreuz Genuas flatterten.

Es waren Condottieri, deren normannischer Sippe die Armbrustsöldner der Stadtwache ausbildete und stellte.
Die disziplinierten und gepanzerten Soldaten stellten sich rings um den Wagen auf und pflanzten ihre tropfenförmigen Schilde auf den Boden.
Schützen gingen dahinter in Position.

Das martialische Auftreten verwunderte den müden Pöbel, machte ihn aber auch neugierig.
Ein charismatischer, sonnengebräunter, blonder Mann stieg auf den Karren und zog die Plane davon ab.

Säcke wurden dabei enthüllt. Ein weißes Tuch war über sie gebreitet, um zu zeigen, dass es Ware dritter Wahl war, die zu normalen Zeiten nicht angeboten werden durfte und selbst in dieser dunklen Zeit der Hungersnot gekennzeichnet waren, konnten sie doch verdorben sein oder zum Antoniusfeuer führen.

Aber das war egal, Ausschussware hin oder her! Denn es waren Säcke mit Getreide! GETREIDE!

Kein Wunder, dass der Wagen so geschützt wurde, als sei Gold in ihm! Leben und Gier und Hoffnung kam in dem Pöbel.
Der Normanne grinste verwegen und warf dem erstbesten überraschten Hungernden einen kleinen Sack zu.

"Alosier! Eine Spende des noblen Hauses Ors! Den Capitan dauert es, Euch hungern zu sehen! Greift zu! Solange wir noch etwas zu verteilen haben, gehört es Euch! Es ist unsere Christenpflicht, Euch zu ernähren, so wie wir vom Hause Ors Euch gegen Eure Feinde verteidigen!

Hey, lasst die Frauen da nach vorne und die kleinen Bastarde! Das kann ich ja nicht ansehen, dass starke Männer sich vordrängeln! Es gibt genug für alle! Und sagt auch den Gauklern, der Herr Capitan will sie anheuern für ein Spiel, um die Leute auf fröhlichewre Gedanken zu bringen!"

Vergesst nicht, wenn Eure Sestieri-Anführer fragen, wer Euch gerettet hat, den Namen Ors zu preisen und auch in Eure Gebete einzuschließen! Vergesst nicht, wer Euch half, wenn der Senat neue Sitze zu vergeben hat und Eure Anführer noch nicht wissen, wem sie ihre Stimme geben sollen!"

Die Menge jubelte glücklich.

Der gepanzerte Sergeant, der sich eher im Hintergrund hielt und seine Männer koordinierte, nickte anerkennend. Der Junge machte das sehr gut. Die Angi würde zufrieden sein, wie ihr Spruch "populum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri" umgesetzt wurde. Es kostete zwar jetzt etwas, wenn auch nur Ausschussware und Gaukelspiel, aber es würde sich später in der Gunst des Pöbels niederschlagen, wenn es um Ämter ging!
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Signora Achilla
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Signora Achilla »

Der Aufzug der Soldaten sorgte für einigen Aufruhr. Ein paar Gestalten suchten eilig das Weite, die meisten sahen mit einer Mischung aus Schaulust, Mißtrauen und banger Furcht zu. Einige hatten auch dafür gar nicht die Kraft, streckten nur die Hände aus, mit der Bitte nach einer milden Gabe an jeden, der so kraftvoll und prächtig daherkam.

Doch das alles wandelte sich als die Plane abgezogen wurde und das erste Säcklein in ein Paar überraschter Hände geworfen wurde. Die alte Frau, die dieses Glück gehabt hatte, presste den Sack an ihre Brust und konnte es kaum glauben. Sofort scharten sich andere um sie, einige tasteten über den Sack, andere versuchten, sie wegzuziehen, vielleicht zu verteidigen, andere griffen nach dem Säcklein Getreide. Wieder andere drängten nach vorn, mit ausgestreckten Händen.

“Ors! Gott sei’s gedankt!”, rief die alte Frau mit brüchiger Stimme. Der Ruf wurde aufgegriffen, ging wie ein Lauffeuer durch die nun aufgewühlte Menge, die mit jedem Augenblick noch weiter anzuschwellen schien. “Ors! Der Capitan! Ors!”

Die Normannen konnten bald die Köpfe und Hände nicht mehr zählen, so sehr wurden sie von Menschen umringt. Der Druck wuchs. Blanke Verzweiflung lag in den Blicken der Hungernden und, vielleicht noch um so vieles schlimmer, dieser Funke von Hoffnung. Es war diese Hoffnung, die sie allesamt vorwärtsdrängen ließ, hin zu dem Karren. Sicher waren hier dreimal so viele Leute wie Normannen und durch das Rufen und den Lärm wurden weitere angezogen.

Eine dürre Frau mit einem Kind in einer Tuchschlaufe vor ihrer Brust stand ganz vorn und wurde nur immer weiter nach vorn gepresst, dicht und dichter an die mit Säbeln bewaffneten Männer heran. Ein Rempler drückte sie einem der Männer entgegen, das schreiende, kleine Kind zwischen ihnen.
Ein alter Mann mit faulen Zähnen boxte mit Fäusten und Ellenbogen nach vorn. “Ors! Ors!”, rief er. Und dann: “Heda, ich hab’ zuhause drei Enkel und deren Mutter!”
“Ich auch!”, rief einer neben ihm. Ein anderer: “Ich hab’ seit fünf Tagen nichts richtig zu beißen gehabt!” - “Gras und Leder haben wir ausgekocht!” - “Seid gesegnet! Oh, barmherzige Maria, heiliger Lazaros seid gedankt… .”

So viele Hände, so viele verzweifelte Rufe und noch immer wurden es mehr. Dem Wagen wurden umgestülpte Hüte, leere Säcke, offene Hände, aufgehaltene Schürzen, Lumpen, Eimer, Töpfe und alles sonst entgegengereckt, was vielleicht ein paar Körner Getreide fassen konnte! Dem Andrang konnte man kaum nachkommen.
Bald schon wurde klar und immer klarer, dass das, was auf dem Karren war, niemals für alle reichen konnte. Keine zehn Karren hätten gereicht. Und immer noch drängten Leute nach, kamen aus den Gassen heran, schoben sich nach vorn. Die, die etwas bekommen hatten, wurden nach hinten gezogen, einigen wurde die Ausbeute schon wieder aus den Armen gerissen.

Langsam begann die Stimmung zu kippen. Schmerzensschreie mischten sich in die lauter und lauter werdende Kakophonie aus Dank, Bitten und Flehen. Es war als hätten die Normannen eine Arena wilder Tiere vor sich und hätten gerade genug blutiges Fleisch zwischen die Bestien geworfen, dass sich ihre Gier entfachte und sie begannen, sich gegenseitig an die Kehlen zu gehen. Fäuste flogen, Leiber pressten gegen die gerüsteten Söldner, der Karren geriet ins Wanken, die beiden Ochsen davor stampften nervös auf, mit in Angst rollenden Augen.
Ein kleines Mädchen, aschblond und schmal, mit schmutzigem Gesicht und aufgeschlagenem Knie war irgendwie nach vorn gekommen. Sie hielt noch einen alten Sack in der Hand, hatte vielleicht gehofft, etwas zu bekommen. Doch hatte sie nur Angst, wollte nicht zerquetscht werden, wollte unter den Karren kriechen...

Eine Frau, der die Tränen über die Wangen rannten, schrie wie am Spieß. “Pietro! Pietro!!”
Doch ihr Sohn war nicht zu sehen, untergegangen in dem Drängen.

Ein junger Mann hatte einen Jungen auf seinen Schultern und versuchte, ihn nach vorn zu werfen, auf den Karren und das Getreide hinauf.

Längst war alle Ordnung verflogen, die Dankesrufe wurden in der Not erstickt. Die Normannen sahen sich umringt: Auf einen von ihnen kamen sicher dreißig, vierzig, vielleicht fünfzig Menschen, die herandrängten.
Grimmige und blutige Mienen waren mittlerweile auch dazwischen. Fäuste waren nicht alles, was die ausgehungerten Menschen hatten. Zähne, Steine, die schweren Enden alter Taue. Knüppel, Stöcker, Gürtel.
Messer, Hunger, Verzweiflung.
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Angelique
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Angelique »

"ZURÜCK!", bellte der Sergeant dem geifernden Pöbel entgegen und die normannischen Söldner überlappten auf einen Wink mit seinem Speer hin die Ränder ihrer Schilde. Steine und andere Wurfgeschosse prallten vom Schildwall ab.
"U-FORMATION!", bellte der in vielen Jahrzehnten Kriegsdienst erfahrene Blutsdiener Angeliques den Männern zu. "Thur aïe!", antworteten die Männer im Chor und stemmten sich gegen die anbrandenden Verzweifelten. Die Hunger geschwächten Leute waren viel zu schwach und noch viel mehr waren sie undiszipliniert, um gegen die Berufssoldaten ankämpfen zu können.

"FLACHE KLINGE!", schrie der Sergeant in der ligurischen Sprache der Genuesen, damit auch der rebellische Mob verstand, was die Stunde geschlagen hatte, und wie ein Mann zogen die Söldner die Langschwerter.

Der Ton von Metall, das aus der Scheide fuhr, alarmierte alle, die so was schon mal gehört hatten.
Als die Normannen aber auf ihre tropfenförmigen Schilde mit den Schwertern schlugen, dass es nur so dröhnte und es den Lärm der Straße übertönte, verstand auch der Dümmste, dass er keine Chance gegen Männer hatte, die schon vor dem siebten Lebensjahr nichts anderes kannten als die Ausbildung zu den besten Kriegern des Abendlandes.

"Thur aïe!", erscholl wieder der Ruf der Normannen und Brimir hätte seine Freude daran gehabt, denn nichts Christliches haftete ihm an, sondern nur die Kampfeslust der heidnischen Ahnen dieser Männer, die im Ruf "Thor hilf!" noch Jahrhunderte überdauerte, wenn die eigentliche Bedeutung vergessen sein würde.

Der schwer gepanzerte Sergeant ignorierte Steine und andere Wurfgeschosse, die gegen Schild und Rüstung prallten, und gab mit der Lanze den Befehl zum geordneten Rückzug nach vorne, da Zurückweichen nur bedeutet hätte, überrannt zu werden. Das U prallte auf die ersten Rebellen und verformte sich zum Geschenk Odins an die Sterblichen: zum Kriegskeil, der die Menge teilte, wie Moses das Rote Meer.
Mancher der Aufrührer blieb mit Platzwunden oder bewusstlos im Dreck zurück, wenn flacher aber doch schwere Stahlklingen auf Sturköpfe prallten.

"Aufregender Tag!", meinte der junge Ors zum Sergeanten und grinste unter seinem Nasalhelm, obwohl Blut über sein Gesicht lief, wo ein Stein ihn getroffen hatte und sein Auge bereits anschwoll.

"Nie den Helm absetzen, Junge! Auch nicht bei hübschen Reden!", scholt der Ältere, während er mit übermenschlicher Kraft mit seinem Speerschaft gleich drei Rebellen auf einmal von den Füßen prügelte.

"Hah, so habe ich aber eine Maus gefangen!" Der Jüngling hielt das kleine Mädchen, das unter den Wagen geflüchtet war, im Schutz seines Schildes.

"Glückwunsch", meinte der Sergeant trocken. Zu den Armbrustschützen befahl er: "Salve über die Köpfe! Nachladen und tiefer zielen, sollten die es immer noch nicht verstehen!"

Nirgends eine Spur der faulen und feigen Stadtwachen der Sestieri, geschweige denn der Bischofsgarde. Wahrscheinlich dachten deren Hauptleute, es ginge sie nichts an, wenn ihre Kameraden von hungrigen Rebellen gelyncht würden.

Der Sergeant grinste grimmig."Thur aïe!"
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Signora Achilla
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Signora Achilla »

Es waren nicht einmal viele Steine, die flogen. Das Einzige, was den Männern in Waffen wirklich entgegensteht, war der Druck der Menge selbst. Es waren einfach so viele, Verwirrung, aufkommende Angst und dann blanke Furcht angesichts der gerüsteten Männer, Gier nach dem, was es auf dem Wagen gegeben hatte. Ein echter Keil wollte es so recht nicht werden, dafür war es zu eng, zu voll. Ein paar von den hinteren hatten schon damit zu kämpfen, dass Leute nach ihnen griffen und um Hilfe flehten.
“Hilfe, meine Kinder verhungern…!”
“Mein Mann ist schon zu schwach zum Gehen…”
“Kommt ihr wieder? Rettet ihr uns?”
“He, ein starker Kerl wie du sucht doch auch mal Gesellschaft? Wie wär’s…”
“Bitte, bitte, helft uns!”

Ein dürrer, vernarbter Kerl streckte einem der Söldner einen kleinen Jungen entgegen, der nicht älter als vier oder fünf war, nur schrecklich dünn, mit vom Hunger aufgeblähtem Bauch.

Das kleine Mädchen im Zug klammerte sich in Angst an ihren Retter. In all der Kakophonie umher, dem Schreien, den schweren Schritten, dem Geklirr von Waffen und Rüstzeug war sie vollständig still.

Der Platz mit dem Karren leerte sich bereits wieder. Wer etwas bekommen hatte, war eilig davon. Nicht selten war es den wenigen Glücklichen direkt aus den Händen gerissen worden. Einer der Ochsen war durchgegangen, hatte ein paar Frauen und Männer umgerissen bevor man ihn eingefangen und an Seilen fortgezerrt hatte. Den anderen Ochsen hatten die Söldner noch mitzerren können.

Was auf dem Platz übrig blieb, war der umgestoßene Karren. Ein paar Kinder kletterten noch darauf herum und suchten einzelne Getreidekörner zwischen den Brettern hervor.

Was auch zurückblieb, waren ein paar reglose Körper auf dem Boden, menschlicher Unrat. Nicht weit entfernt vom Karren lag jemand anderes, ein Bursche in einer Lache aus seinem eigenen Blut. Er würde es nicht mehr lang machen. Andere hatten vielleicht mehr Glück, nur gebrochene Knochen oder einen Schlag auf den Kopf. Doch dann wieder konnte ein gebrochenes Bein oder ein nutzloser Arm gerade jetzt ein bitteres Ende auf Raten bedeuten.

Die alte Frau, die so glücklich gewesen war, als sie den ersten Sack aufgefangen hatte, lag auch dort, hingefallen und niedergetrampelt, wahrscheinlich. Ihr letzter Blick ging gebrochen ins Leere.
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Valerios
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Valerios »

Ein kleine Bande, vier oder fünf Kinder strolchte durch eine Seitengasse als die Rufe durch die Straßen halten und die Menschenmenge wie ein schmutziges Rinnsal aus den Holzhütten und Zelten Richtung des Platzes strömte, wo die normannischen Soldaten mit Gold um sich warfen. Sie versuchten gar nicht erst zwischen den drängenden Leibern, Tritten und Ellbogen durchzuschlüpfen, denn es war klar, was diese vermeintliche Wohltat bedeuten würde: Krieg!

Und so warteten die kleinen Ratten am Rande des Schlachtfelds, bis das Toben des Mobs abgeebbt war und die normannischen Söldner den Rückzug angetreten hatten.
Dann erst staksten sie über den zerwühlten Boden und über die verwüsteten Überreste. Ihre kleinen Finger glitten zwischen die Glieder der Gestrauchelten und Leblosen. Pickten nach den Habseligkeiten derer, die sie nach diesem Sturm nicht mehr brauchen würden. Schnappten nach den jetzt herrenlosen Lumpen, vielleicht war sogar irgendetwas nützliches dabei? Münzen? Ein Topf? Oder irgendetwas was der Tross hatte fallenlassen?

Doch bald brachen sie ihre Suche in den Überresten ab, denn auch andere Anwohner waren auf die gleiche Idee gekommen und fledderten.
Und so zogen sie die alte Frau durch den Staub an den Rand und hinter sich her in die Gasse aus der sie gekommen waren.
Sie würden heute Nacht keinen Hunger leiden..
"Es ist nicht so sehr die Hilfe unserer Freunde, die uns hilft, als vielmehr das vertrauensvolle Wissen, daß sie uns helfen werden."
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Angelique »

"Sergeant, das war toll!", rief der jugendliche Ors lachend, als sie endlich in Sicherheit waren. "Das machen wir aber nie wieder, ja?"

Der alte Veteran, augenscheinlich in den späten Vierzigern, atmete tief durch, als er das Kettenvisier endlich wagte abzunehmen. "Für Euch junge Leute ist alles ein Abenteuer, was?"

Er suchte seinen alten Kameraden und fand ihn, wie er seine Armbrust nachlud. Sie hatten ihre Differenzen, aber die Liebe zu Angi vereinte sie wie einst Hauptmann Roger und Sergeant Etienné in der guten, alten Zeit.

"Da war was, was lauerte", meinte der Sergeant zu seinem Blutsbruder, "und das am helllichten Tag!"

Der Schütze nickte. "Ich hatte mehr Überblick als du. Ich weiß nicht, ob sie den Pöbel anstachelt haben, aber da waren Profis, die sich nicht von der Masse mitreißen ließen."

Er nickte in Richtung des jungen Ors, der das verängstigte Mädchen versuchte zu beruhigen. "Ist die Kleine eine Spionin, die uns untergeschoben werden soll?"

Der Sergeant lachte. "Jetzt werden wir so vorsichtig wie Angi." Todernst meinte er aber: "Aber auch das werden wir ihr sagen. Ihrem Blick wird so etwas nicht verborgen bleiben, wenn es so ist."
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Signora Achilla
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Signora Achilla »

Die Leiche der alten Frau war verschwunden. Die übrigen verschwanden auch, fortgeschleift von den Leichensammlern mit ihrem Karren, der in dieser Zeit zu klein war oder zu voll, ganz wie man es sehen wollte.

In den Stunden nach dem blutigen Aufruhr war eine merkwürdige Stille eingetreten. Die wenigsten hatten Glück gehabt: Eine der Banden hatte sich den einen Ochsen geschnappt, ein paar wenige hatten ihre Getreidesäcke nach hause gebracht, wo das Korn aufgekocht oder mit Steinen zu grobem Mehl zerrieben wurde. Wer nicht die Messer und starken Arme hatte, um diese Beute zu verteidigen, der wagte nicht, heiß zu kochen oder zu backen. Der Geruch würde es verraten.

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“Du kleine Ratte!”, brüllte der wütende, alte Mann den mageren Jungen an. “Ich hab’ genau gesehen, dass du was gekriegt hast!”
Der Junge vor ihm heulte, mit blutiger Nase und blaugeschlagenem Auge. Wenn er je etwas gehabt hatte, dann war es lange fort. “Zu nichts bist du Nutze! Hau’ ab und komm’ nicht wieder bis du was zu beißen gefunden hast!”

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“He, wir verkaufen was vom Ochsenfleisch…!”, sagte eine junge Frau mit feuervernarbtem Gesicht leise. Die Narben waren alt, aus einer anderen Notzeit in Clavicula. Wer hier lebte, musste zäh sein oder verreckte in der Gosse. Sie hatte blutige Hände und eine blutige Schürze und jeder in der Hundegasse wusste, zu wem sie gehörte. Die Männer und ihre Messer waren nicht weit.
Doch wer sie hörte, der machte die Rechnung schnell im Kopf: Was konnte man noch hergeben? Was könnte wohl eine Faust Ochsenfleisch aufwiegen? Einen Becher Ochsenblut? Oder die Zunge? Die Knochen, zum Auskochen?

Still und heimlich lief diese Sache ab. Wenn es möglich gewesen wäre, so hätte mancher wohl seine Seele eingetauscht. Doch so waren es andere Kostbarkeiten: Schuhe, Messer, Kleider, ein Brocken Salz, gestohlener Tand aus der Stadt, Gürtelschnallen, die eigene Tochter als Dienstmagd - alles war recht.
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Nur zwei Gassen weiter lief dasselbe Geschäft. Frisches Fleisch gegen alles, was die Elenden nur aufbringen wollten.

Noch eine Ecke weiter dasselbe.

Längst war schon mehr verkauft worden als je an dem Ochsen dran gewesen sein konnte. So viel Bauchspeck oder Lende oder Nacken hatte kein Tier. Rechnete irgend jemand nach?
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Signora Achilla
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Re: [Fluff] Die letzte Wahl [Sterbliche (Achilla, Angelique, Valerios)]

Beitrag von Signora Achilla »


Der Hunger fordert seine Opfer gerade in den ärmsten Gegenden von Genua. In Clavicula kommt es bei einer mildtätigen Gabe durch die Condottieri unter der Führung von Ors. Die verzweifelten Menschen schwankten zwischen Lobpreisungen, Dank und blankester Verzweiflung. Als das Essen unweigerlich zur Neige ging, kam es zu Ausbrüchen von Gewalt unter den Hungernden und auch zu Toten.
Mehr und mehr drängt die unangenehme, hässliche Tatsache in den Vordergrund, dass die Menschen begonnen haben, sich in der Not gegenseitig aufzuessen.
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
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