[Fluff] alieno [Giada]

Geschichten über Monster

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

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Giada Salvaza Rossi
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[Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Ich bin blind.

Das ist die erste Erkenntnis, die mich getroffen hat wie ein Schlag, eine schallende Ohrfeige. So weit ich meine Augen auch öffne: Ich bin blind und werde blinder. Sie sehen nur diese Welt, diese grelle, lärmende, stinkende Aufstellung von Unvollkommenheiten. Für die Wahrheit bin ich blind.

Ich kann nirgendwohin mit meinem Hass. Ist es noch Hass? Manchmal ist er gleißend hell und heiß, dann mag dies wohl sein. Doch die längste Zeit über, Nacht für Nacht, ist es nur die starre, drückende Erfrierung all dessen, was ich sehe, was zu mir kommt, was an mir vorüber zieht. Ist dies Hass?
Es ist kein Raum für ihn, nicht hier, nicht irgendwo sonst. Und so bleibt er allein mein.

Doch ich greife allzu weit voraus. Ich will geordnet beginnen:
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Es gibt Erlösung. Für viele Jahre habe ich sie im Frieden der Kirche gefunden. Ein Gotteshaus besitzt eine eigene Art von Stille. Selbst wenn die Bettler und Siechen seinen Boden bedecken, wenn die Armen und Heimatlosen seinen Boden mit ihren Knien und Bäuchen blank reiben, selbst dann gibt es in alledem diese Stille. Sie erklingt in der Seele, sie betäubt den ewigen, ruhelosen Hunger in meiner Kehle und Brust.

Ich habe lange nicht begriffen, woher sie stammt. Ich habe dem Haus und seinem Herrn, seinen Priestern und Dienern die gebührende Achtung gezollt, doch ich habe nicht verstanden.
Was ich nun verstehe, ist dies: Es ist die Bedingungslosigkeit. Gottes Liebe ist allumfassend, Sein Verzeihen unermesslich, Seine Macht übersteigt den Horizont. Wenn ich in Seinem Hause Schutz suche, so stehe ich blank und bar vor ihm, ohne Bedingung, ohne Worte, ohne Schutz.
Dies ist der freie Fall. Ich kann niemals tiefer fallen als in die geöffnete Hand Gottes.

Dieses ursprüngliche, ja, kindlich unschuldige Wissen gab mir jenen Frieden und noch heute, noch jetzt, bin ich dankbar dafür. Es soll ein jeder gute Christenmensch diesen Frieden im Herzen kennen.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Meine Herrin Mutter im Blute ist eine Heilige. Nicht in der Welt der Menschen sondern in unserer, in welcher die Heiligen noch um so vieles seltener sind und sein müssen.
Wenn ich mich in der Gesellschaft anderen vorstelle, dann hören die meisten den Klang des Namens meines Blutes und entscheiden bereits. Jene, die ein wenig mehr zu wissen glauben, hören den Klang des Namens meines Großerzeugers und entscheiden dann. Sie glauben, damit alles zu wissen.
Sehr, sehr wenige hören den Namen meiner Herrin Mutter im Blute. Und noch weniger hören die Stille zwischen jenen beiden Namen, dem der Santa Noellina und dem des geborenen Fürsten Totila.

Ich will und ich kann die Errungenschaften des Fürsten nicht schmälern: bereits im Leben ein König, der das einst so große Rom in die Knie zwang, nur um es leer und gebrochen zurück zu lassen. Was er nach seiner zweiten Geburt tat und erreichte, stellt seine Siege im Leben in den Schatten - und dies wortwörtlich.

Es erscheint sehr leicht, neben solcher Größe zu übersehen, was in diesem Schatten wuchs. Ich bin eine notwendige Folge von diesen Dingen, die diese Welt sieht und die sie nicht sieht. Und dies ist auch mein Fluch und mein Segen zugleich: Ich selbst sehe die Fäden der Macht und die Konturen wahrer, zeitloser Größe. Und zugleich sehe ich die klaffende Leere dazwischen.
Ich will ein anderes Bild finden, um es zu beschreiben: Wenn ich in den Sternenhimmel hinaufblicke, dann kann ich die Finsternis zwischen den strahlenden Sternen klarer sehen als die um Blicke heischenden Lichtpunkte am Dach unseres Himmels.

Wie kann meine Herrin Mutter im Blute mit solch einem Blick in die Welt dennoch standhalten? Was ist es, das sie zum Glauben befähigt, was ihre Hingabe größer macht als sie selbst? Wie kann eine sterbliche Frau zu einer Heiligen in der Nacht werden? Dies ist ein Wunder, das direkt vor unseren Augen doch so oft ungesehen verborgen liegt, weil die großen Namen geworfenen Schatten die Blicke lenken.

Ich überlasse es ein jedes Mal meinem Gegenüber, mit diesen langen, langatmigen Vorstellungen, die wir tun, zu beginnen, was er und was sie will. Doch wenn ich ihnen allen einen Rat geben sollte, dann würde ich sie warnen, sich zu sehr blenden zu lassen. Ich würde ihnen raten, auf die leiseren Töne zu lauschen. Und noch mehr würde ich ihnen raten, nach dem zu lauschen, was ungesagt dazwischen liegt. Das Blut meiner Linie hat mich neugeboren. Doch mein Geist wirft einen anderen Schatten.

Und ich selbst? Es ist schwindelerregend, zu solchen Höhen aufzublicken oder gar, sie zu erklimmen. Doch ich stehe hier nicht ohne einen Grund. So wie jene vor mir habe ich die Rivalen meiner Zeit besiegt. Ich war stärker, härter, klüger, besser. Ich habe große Gelegenheiten erhalten und ich habe sie mir genommen. Ich will mehr als diesen bloßen, sinnleeren Tand um mich her!

Doch ich werde nicht den Weg meines höchst verehrten Großvaters im Blut gehen können. Seine Zeit gehörte ihm. Ebensowenig kann ich den meines Mentors nehmen. Seine Fäden gehören ihm. Auch der Weg meiner Herrin Mutter im Blute ist nicht der meine. Ich bin keine Heilige dieser Welt.

Ich bin getrieben: Erwartungen und Ansprüche - es klingt wie bloße Prahlerei wenn ich erkläre, dass vor all diesem Hintergrund doch meine eigenen Ansprüche die höchsten sind.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Asche und Scherben. Sie zeigen sich mir Nacht und Nacht in dem leeren Gerede, den hohlen und schelen Blicken, den zahllosen Eitelkeiten, welche zu nichts führen als zur Selbstschau wie Narziss es einst tat, verliebt in das eigene Abbild im Wasser. Die großen Männer dieser Zeit sind allzu oft nichts als Geschöpfe an den Ketten unseresgleichen, gefangen in Zwisten, in menschlichen Ängsten, in düsterer Verwirrung oder hellster Verblendung. Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit - das ist, was diese Welt, diese Schöpfung Gottes, wahrhaftig regiert. In meinen klarsten, bittersten Augenblicken sehe ich diese Fäulnis auch in mir und ich will sie mir in die Haut und meine Seele schreiben, dass ich die Gefahr dieser Fäulnis niemals vergesse: superbia, avaritia, luxuria, ira, gula, invidia, acedia.

Ich habe nichts als Verachtung und Hass für sie alle und für die Scherben und die Asche. So begann ich hier, doch nun ist es vielleicht verständlich geworden. Und vielleicht auch, dass ich mit beidem nirgendwo hin kann. Der Druck von Anspruch und Erwartung wächst mit jeder Nacht, jedem Jahr, jedem Jahrzehnt und Jahrhundert.

Ich bin alles andere als unfehlbar. Ich war einst ein Mensch und wie alle Menschen bin ich fehlbar geboren. Meine zweite Geburt, die durch Blut und in die Nacht, hat mir große Gelegenheiten geschenkt, doch sie fordert auch einen Tribut: Ich breche, ich stolpere, die blinde Wut drängt sich in den Vordergrund.
Mein Leib ist von Schatten durchdrungen, mit jedem Jahr ein Stück mehr. Ihre kalte Macht merzt jede sterbliche Schwäche aus und ersetzt sie durch die Unerbittlichkeit des Schicksals aller Dinge in dieser sterblichen Welt. Mein Geist wird ebenso durchdrungen: Schon jetzt kann ich den Verstand der Sterblichen ebenso leicht zerbrechen wie meine Faust ihre Knochen zerschmettert. Wie kann ich, wie kann irgend jemand mit diesem Fluch und Segen in Leib und Seele auf ewig stille halten? Wie kann irgendeiner innehalten während sie die Welt um sich her zerfallen sieht?

Ich richte meinen geblendeten Blick auf diese hässliche Welt und will sie zerschmettern noch bevor sie zerbrechen muss - so wie ein Blitz in einen morschen Baumstamm einfährt, wie ein scharfes Messer die schwärende Eiterbeule in einem todkranken Körper schneidet. Es gibt keine Aussicht auf Heilung.
Im nächsten Augenblick verlässt mich diese rote, verfluchte Laune wieder und ich erkenne sie als die blanke und eitle Narretei, die sie ist. Weshalb sollte ich Hand anlegen? Ich gehe sicher und stark in den Bahnen, die mir geebnet sind, die ich mir geebnet habe.

So oder so, es bleibt kein Raum. Ich muss mich selbst besiegen, vor allem anderen. Ich muss mich selbst zerschmettern und neu zusammen setzen, besser als zuvor.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Ich habe einen Ort gefunden. Er ist still und abseits von allem. Er kennt unsere Ränke und Intrigen nicht und auch nicht den Schmutz und Verfall der Menschen. Er ist unerbittlicher Fels, bitterer Sand, die kalte See. Dort finde ich denselben Frieden, den ich immer seltener im Hause Gottes finden kann: Er ist bedingungslos, gnadenlos, achtlos, wortlos.

Dorthin bin ich gegangen. Zuerst ging ich, um dem Hass Gestalt zu geben. Schaufeln und Hacken habe ich verschlissen in meinem Ringen gegen den Fels. Am Ende warf ich sie fort. Meine Hände und Füße haben mehr Kraft.

In der Luft hängt der Gestank meines eigenen Blutes. Der Schmerz soll mich warnen, inne zu halten. Doch ich werde nicht anhalten. Ich überwinde meinen Schmerz in jeder Nacht aufs Neue und reiße Löcher in den Leib dieser Welt. Lacht, wenn ihr müsst. Seid dankbar, dass es nicht eure Leiber sind, in die ich Löcher reiße. Was ich tue, hat ein Ziel: Hier beginnt meine Herrschaft über mich selbst. Nur das, was ich beherrsche, kann ich auch geben.

Die Knochen meiner Finger sind dünn und brüchig dagegen, gegen diesen Willen zur Herrschaft. Ist es noch ein Wille oder ist es nicht ein Drang, eine Notwendigkeit meines Daseins? Wie kann irgendeiner mit dem Blut der Nacht in den Adern existieren, wenn er nur ein Sklave seiner selbst ist?

Die Löcher, die ich gerissen habe, sind wie Gräber. Sieben Gräber, sieben Sünden. Meine geschundenen, gebrochenen Hände, Nächte an der Grenze zwischen blutrotem Zorn und schwarzer Angst, doch nun klaffen sie auf und warten auf mich.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Untermalung

Was macht einen Menschen aus? Einen Kainiten? Eine Person? Unsere Geburt, unser Leben, Überleben, Erleben prägt uns. Uns Kainiten prägt auch unser Sterben und unser Tod. Doch was ist das alles? Hier und jetzt, in diesem Augenblick, sind das alles nur Erinnerungen.

“Wie lautet dein Name?”
“Ricarda Litta, Herrin–”
“Von woher kommst du?”
“...aus Mailand, Her–”
“Wem dienst du?”
“Allein Euch!”
“Dann erinnere dich an deine Gefangenschaft. Erinnere dich an die Befragungen. Und berichte!”
“Herrin, ich erinnere mich nicht!” Die Stimme der älteren Frau klang rauh und gebrochen von den endlosen Beteuerungen. Ihr Körper war geheilt, doch er trug die Narben der Befragungen, der Folter, die Handabdrücke des Feindes direkt auf ihrem Fleisch.
“Und doch warst du dort. Du selbst hast gesprochen. Bezeugt. Gesehen, gehört. Geblutet. Und nun sagst du, dass du dich nicht mehr erinnerst!” Die Stimme der Herrin war unverändert, hart, unnachgiebig. Doch die Dienerin konnte ihr keine Antworten geben.


Was sind Erinnerungen? Sie formen unseren Blick auf die Welt. Wichtiger noch, aus ihnen entsteht unser Bild von uns selbst. Aus beidem werden unsere Ziele gemacht, dann auch unsere Taten.

Die ältere Frau hatte ihr Leben lang gedient. Sie war aus gutem Hause, hatte einen Namen und einen guten Ruf. Doch sie hatte niemals selbst geheiratet. Stattdessen hatte sie ihr Leben einer anderen gewidmet und gedient. Es war ihr nicht schlecht dabei gegangen, hatte sie sich immer gesagt. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, Kleider und Essen. Sie genoss Ansehen und viele weitere Diener gehorchten ihr aufs Wort.
Und so hatte sie immer gedient.

“Wie lautet dein Name?”
“Ricarda Litta…”
“Du hast niemals Ricarda Litta geheißen. Vergiss das. Dein Name ist Ella.”
“Ella, Herrin.”
“Von woher kommst du?”
“Aus Genua, Herrin.”
“Ganz recht.”


Was geschieht, wenn wir uns nicht mehr erinnern? Wer werden wir dann? Was ist ein Kapitän, der sich nicht mehr an sein Schiff und das Meer erinnert? Was ist ein Mörder, der sich nicht an seine blutige Hand oder die bleiche Kehle seines Opfers erinnert? Was ein Gelehrter, dem alles Wissen verloren ging? Was ist ein Sieger, der sich nur an Niederlagen erinnert? Was ein Bettler, der aus seinen eigenen Erinnerungen her weiß, dass er ein König ist?

Ella hatte nicht immer gedient. Sie war in Armut aufgewachsen, ohne Familie um sie her, als Bettelkind auf der Straße. Ihre Herrin hatte sie von dort aufgelesen, denn diese Herrin war gütig und großherzig. Darum diente Ella ihr, ein Leben lang. Sie erinnerte sich nicht mehr so genau, doch es musste eine lange Zeit gewesen sein. Mittlerweile war sie ihrer Herrin zu einer schweren Last geworden. Sie war von schlechter Geburt und sie hatte getratscht. Daran erinnerte sie sich. Sie hatte Geheimnisse verraten. Darum hatten schon Menschen sterben müssen und ihre Herrin war in Gefahr. Durch ihre lose Zunge war sie zur Mörderin geworden.
Sie schämte sich und es gab nichts, das sie tun konnte um ihre Taten wieder gut zu machen.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Macht. Darauf laufen alle Dinge zu.
Was ist Macht? Sie ist der Unterschied zwischen Taten und Ohnmacht. Zwischen Herrschaft und Dienst. Zwischen Entscheidung und Gehorsam.

Macht hat alle Formen, alle Spielarten. Sie ist flüchtig, ewig lebendig, ewig veränderlich. Wer glaubt, sie liegt allein in alteingefahrenen Bahnen, irrt sich und wird hässlich überrascht so wie jeder Herrscher, der beim Umsturz plötzlich ein kaltes Messer im Rücken spürt.
Doch natürlich liegt sie dort, im Althergebrachten, im Vererbten auch: “Macht der Gewohnheit” ist kein Sprichwort - Menschen folgen altgewohnten Bahnen.

Doch in der Vererbung liegt noch mehr: Das Können, die Befähigung, die Erziehung. Ein Bauer hat nicht, was es braucht, um Macht auszuüben, um diese Welt zu gestalten und ihr seinen Willen aufzuzwingen. Ich habe einmal einen Sklaven gesehen, dessen Ketten zerschlagen wurden. Verwirrt und haltlos stand er plötzlich frei im Leben, unfähig, seine eigenen Schritte zu lenken oder seinem Willen mit Wort und Tat eine Gestalt zu verleihen. Er tat das Einzige, das er kannte, und diente sich sogleich einem neuen Herren an.

Es gibt solche, die geschaffen sind, Macht zu haben, sie ansammeln, sie anwachsen zu lassen und sie zu gebrauchen. Ich gehöre zu diesen.
Dies durch meine eigene Geburt: Ich war niemals eine, die blind folgt. Und durch meine zweite Geburt: Ich erhielt neue Formen der Macht, in Wissen, in Erkenntnissen, in todloser Grausamkeit, in Blut.

Unser Blut, das des Clans der Schatten, ist gesegnet von Macht. Schatten durchdringt unser sein, löscht Schwächen und Zweifel aus. Es ist diese Macht, die meinen Körper stärker macht als jeden Menschenleib. Es ist diese Macht, die meinen Geist mit der Gewalt ausstattet, niedere Geister so leicht zu zerbrechen wie trockenen Reisig.

Mit meiner Faust kann ich einen Menschen in die Knie zwingen. Mit meinem Geist kann ich seinen Verstand beugen oder brechen.

Die Kunst liegt genau darin: zu beugen, zu formen, zu beherrschen. Das Brechen ist schwindelerregend einfach, so habe ich gelernt. Doch wer von uns die Kunst beherrscht, die eigene Macht in Körper und Geist kunstvoller zu gebrauchen, ist auf dem Weg zur wahren Meisterschaft.
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Meine Eltern waren Gläubige. Meine ersten Eltern, aus sterblicher Zeit. Sie glaubten an Gott, an die Geburt Jesu’, an seine letzte Wiederkehr, mit der Er erneut auf die Erde herabsteigen würde, um sie von allen Sünden zu befreien.
Mir wurde beigebracht, in Gott zu vertrauen, in das Licht Seiner Worte, Seiner Schöpfung, an seine gloriose, strahlende Präsenz, an die Erleuchtung durch den Glauben. ‘Es werde Licht’, Sein Wort bannt alle Dunkelheit.

Natürlich hat nichts davon hat meine Eltern einst gerettet. Weder sie noch all die anderen, in deren Gesichter ich gesehen habe, als das Licht in ihnen brach. Ich sah die Angst, die sie immer abgestritten und weit von sich geschoben hatten. Ich sah, wie die Zweifel wuchsen und das Vertrauen in die eigene Erlösung verblasste.

Für die längste Zeit habe ich gehofft, sie hätten dennoch recht und ich unrecht. Ich stelle mir vor, dass sie doch irgendein Himmelreich erreicht hätten, nur um dann festzustellen, dass es nicht ist, was sie sich erhofft haben.
Doch ich habe diese kindische Boshaftigkeit und Mißgunst hinter mir gelassen. Es hat mich einige Jahrzehnte gekostet und selbst nach einem Jahrhundert suchte mich ein Anflug von ihr heim, von Zeit zu Zeit. Doch es wurde seltener und verschwand, als ich mich den wahreren Fragen zuwendete.
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Ich kann den Eifer der Gläubigen verstehen. Sie verehren Gott und seine Schöpfung. Sie verehren die Vollkommenheit dieser Schöpfung und sie verfluchen das Verderben des Verführers, des Teufels, wo sich die verrottenden Geschwüre seiner Umtriebe in die Schöpfung mengen wollen. Je näher die Dinge an der von Gott gewollten Natur der Dinge sind, desto reiner sind sie.

Dies ist, wo ich mich von diesem Denken trenne: Ja, auch ich suche den Ursprung und die Reinheit. Auch ich verdamme Verderbnis und das blasse, wankelmütige Abweichlertum. Doch die wahre, die reinste Essenz des Seins ist nicht Gottes Schöpfung. Der Ursprung liegt noch davor. Der Ursprung liegt in Finsternis.

Wenn ich den Blick in den Nachthimmel hebe, dann sehe ich nicht das kalte, ferne Licht der Sterne. Ich suche nicht die bleiche, pockennarbige Fratze des Mondes. Ich sehe die Schwärze der Unendlichkeit, die nur darauf wartet, dass dieses hässliche, fiebrige Blinzeln, das unsere stinkende, staubige kleine Welt mit all ihren Ländern und Wassern ist, wieder endet.

Der natürliche Zustand des Seins ist die Dunkelheit. Die aus der Tagwelt geborenen Narren behaupten, Licht und Dunkel seien einander Gegensätze. Das ist blanker Unsinn. Das ist törichte Eitelkeit. Sie sind einander nicht mehr Gegensätze als eine Leinwand der Gegensatz zu der billigen, abplatzenden Farbe ist, die darauf geschmiert wurde. Ohne Licht bleibt die Finsternis. Ohne Finsternis aber ist nichts. Sie ist der Urzustand.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] alieno [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Wir sitzen auf unserem kleinen Haufen Dreck. Erbärmlich verzweifelt entzünden wir unsere eigenen, kleinen Sonnen, versuchen unsere kleinen, zerbrechlichen Höhlen und Verschläge zu erhellen. Versuchen, uns vor der Wahrheit unserer Existenz zu verstecken, drängen uns zusammen wie Insektenschwärme, wie Schafherden. Wir verstehen in unserer gott-gegebenen Urangst vor der Dunkelheit nicht einmal, dass unsere billigen kleinen Lichter uns vor den Erkenntnissen beschützen... uns der Erleuchtung berauben, die wir in der Finsternis haben würden.
Dass unsere Augen und Sinne uns an diese groteske Welt ketten, in die wir hineingestoßen wurden.
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