[Fluff] Veneratio [Giada]

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Giada Salvaza Rossi
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[Fluff] Veneratio [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Was ist das Schicksal? Ein feines Geflecht aus “hätte sein können”, “sollte geschehen”, “hoffentlich”, “vielleicht”. Wenn daraus harte, unabwendbare Gegenwart wird, erscheint es unabwendbar.
Doch in Wahrheit ist dieses Gespinst leicht, seine Fäden unendlich fein verwoben und schon eine winzige, zarte Verschiebung, Verflechtung und Veränderung in ihnen setzt sich in Kaskaden fort. Vom Kleinsten bis ins Größte kann sich so ein vollständig anderes Muster der Gegenwart ergeben.


Diese Nacht war kalt und dunkel, neumondschwarz. Giada und ihre Begleiterin hatten sich in wetterfeste, dicke Mäntel gehüllt und die kleine Laterne, die ihre Kammerdienerin trug, flackerte im Wind und Regen. Doch Giada scheute weder den Regen noch die Kälte. Beides erschien wie eine Läuterung durch die Elemente, eine Nachttaufe zu Beginn ihres Werkes.

Der erste Weg der beiden Frauen führte sie nach San Giorgio. Giada hatte eine Spende mitgebracht, die ihre Dienerin einem Kirchendiener in die Hände gab, wenn es auch in der Nacht noch jemanden auf den Beinen gab, der die Kerzen am Brennen hielt oder zur Mitternacht die Glocke läutete.
Sie selbst kniete in der Kirche nieder, um zu beten. Gewohnte Worte, tausendfach gesprochene Gebete, die Formeln für den Geist geworden waren. In ihnen glitt ihr Verstand durch feste Formen und fand zu der Ruhe vor Gott und der Welt. Erst aus dieser Ruhe heraus wurden die Sinne des Geistes fein genug, dass sie den Fluss der Mächte und Kräfte in der Welt erfahren konnten. Und dies war, was Giada in dieser schwarzen Nacht benötigte.

Von nun an schwieg sie, denn jedes Wort hätte diese Stille nur gestört, hätte das Heilige besudelt. So war es später, auf dem Weg hinaus aus der Stadt, auch ihre Dienerin, die das Gespräch mit den Wächtern übernahm, die den Männern einige Münzen und gute Worte zudachte und so den Weg für ihre Herrin bereitete.

Vor der Stadt folgten die beiden eine Weile der Straße, bis die Gegend ein wenig wilder wurde, weniger geprägt vom Treiben der Stadt und der Menschen. Erst hier traten sie zur Seite und Giada fand einen ruhigen Platz an einem Hang, geschützt von einigem Gesträuch und regennassen Felsen. Hier schritt sie einen Kreis ab, der groß genug war, dass sie ihre Arme ausbreiten und doch nicht seine Ränder zugleich hätte erreichen können: Groß genug, dass seine Grenze ihr Schutz gewähren würde, wenn sie ihren Geist öffnete.


Was in dieser Nacht vor ihr lag, war keine der Kräfte des Blutes wie sie in den Dreizehn Linien von Generation zu Generation hinab gereicht wurden. Es war ein Ritus der Mächte dieser Welt wie ihn auch die Sterblichen wohl zu tun vermochten: Die Heiligen und Teufel, die Priester, die Magier, die Hexen oder Seher. Und so begann er auch mit dieser Welt, mit dem Kreis auf der bloßen Erde, den Giada mit bloßen Füßen abging und dann mit Wasser aus dem Meer nachzeichnete, denn das Wasser schwemmte die Kräfte fort, die an diesem Flecken Erde als Echo von Vergangenem klebten, und das Salz wurde zum Wall gegen neuerliche Unreinheit solange nur der Kreis erhalten blieb.

Erst dann ließ sie sich dort im Kreis nieder, ehrfürchtig auf Knien und begleitet von den Gebeten, die weiter und weiter in ihren Gedanken klangen. Sie hob ein kleines Holzplättchen aus einer Tasche an ihrer Seite, gemeinsam mit einem splitter-scharfem Messer aus schwarzem Stein. So ging eine der Lehren des Zosimus von Panopolis, des Träumers, und aus den Fragmenten der Tabula Smaragdina, deren in der gelehrten Welt verstreute Zeilen den Aufbau der Welt enthielten: Eisen störte den Fluss der Kräfte, Blei hielt ihn auf, Stein wie dieser aber war der Atem der Erde.

Erst jetzt hob sie wieder ihre Stimme zu Worten des Gebetes. Und was sie sagte, war eine Veneratio, die Verehrung eines der Heiligen, dessen Schutz und Macht sie in dieser Nacht anrief:
“Geheiligt bist du, Johannes Chrysostomos,
vom Herrlichen gesegnet mit der goldenen Zunge
vom Himmlischen ausgesandt in die Welt mit dem Wort.”


Sie begann im langsamen Rhythmus ihrer Worte das Messer an das Holzplättchen anzusetzen: Schnitt für Schnitt, halbrund gefächert, immer und immer wieder. Sie wiederholte ihre Worte Schnitt für Schnitt. Mehr und mehr nahm der Talisman in ihren Händen die Form eines Bienenkorbes an, des Zeichens des großen Bischofs und Heiligen Patriarchen Chrysostomos, der Goldzunge.

“Gewähre mir deinen Segen und Schutz für meine Taten”, bat die Knieende.
“Gewähre mir in diesem Talisman mit deinem Zeichen einen Abglanz deiner güldenen Rede”, beschwor sie die Gunst des Heiligen auf ihr Werk. Dies war der Moment, in welchem im Ritus das Amulett zum vollen Mond angehoben und im Licht der Welt gebadet wurde, so dass die Kraft sich in den geschnitzten Linien fing. Dies war der Moment im Ritus, in welchem die Hexe mit ihrer Kraft ihren Wunsch und den Fluss der Mächte verband, so dass sie die Fäden des Schicksal ein winziges Stück weit verschob.

Doch Giada war keine Sterbliche und dies war keine Nacht unter dem vollen Mond. Die Nacht war tiefschwarz und sie war tot, seit bald einem Jahrhundert wohl. Und so konnte sie nicht die Kräfte der lebendigen Welt mit ihrer eigenen leiten. Stattdessen zog sie das schwarze Messer über ihre bloße Haut. Denn was sie besaß, war eine andere Macht, verankert im Blut, uralt wie der Fluch darin. Gestohlenes Leben und gestohlene Macht ergossen sich über den Talisman, ihr Werk.
Sie schloss die Faust darum während ihr Blut seine Macht entfaltete.
“Wenn ich mit Gianluca Marchetti, dem Schwager der Embriaci, spreche, dann soll mein Wort so süß und golden sein wie das Eure”, flüsterte sie der Macht des Chrysostomos zu.
“Und wenn mein Werk getan ist, dann soll er sich mir zuwenden so wie einst die Scharen und Scharen von Gläubigen und Ungläubigen sich dem Licht Eurer Rede zuwandten.”

Die Hexe konnte spüren, wie Blut und Holz in ihrer Hand bebten, wie Mächte sich entfalteten. Es war als hinge ihre Seele nur eine Handbreit über einem urgewaltigen Strom und sie spürte, wie diese Gewalt an ihr riss und zehrte. Wie leicht es wäre, nur ein Stück weit tiefer hinab zu sinken und sich für immer zu verlieren! Wie glorreich es wäre, mit beiden Händen aus dem Vollen dieses Stromes zu schöpfen.
Doch Giada hielt der Versuchung stand, mit geballter Faust und eisernem Willen. Selbst ein winziger Schritt weiter, selbst eine Handbreit würde sie davon reißen und ihren Geist zerstreuen wie Sandkörner und Asche im Wind.

Lange kniete sie so, auch als der Moment schon verflogen war. Das Rauschen und Reißen umfing sie und sie musste auf Knien kauern bis ihr Geist langsam wieder zur Stille fand. Erst stockend, dann in alter, tausend- und abertausendfach getaner Wiederholung flossen die Worte ihrer Gebete durch ihren Geist bis die Welt wieder still wurde, neumondschwarz, kalt und verregnet.

Es ging bereits auf den Morgen zu, als die beiden Frauen wieder in die Stadt zurückkehrten. Abermals wechselten Münzen den Besitzer, wurden geflüsterte Beteuerungen ausgesprochen. Ein geheimes Stelldichein bei Nacht, irgendwo da draußen, solche Dinge mussten wohl keinen angehen?
Giada achtete nicht auf die Worte ihrer Dienerin. Sie ging mit verhülltem Haupt und rang um die Stille in ihrer Seele. Es würde dauern bis diese wieder gänzlich rein war.

Spoiler!
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

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“Herrin, ich kann nicht mehr. Meine Hände sind fast taub.”
“Weiter. Dein Werk ist noch nicht getan.”

“Herrin, ich kann nicht weitermachen. Meine Finger sind wund und der Faden ist dunkel von Blut.”
“Ich weiß. Und doch mach weiter. Jetzt erst wird es recht.”

“Herrin, das Bild ist beinahe fertig, doch ich kann kaum noch etwas erkennen vor Tränen, Blut und Eiter.”
“Ich sehe gut genug. Wenn es vollendet ist, darfst du aufhören. Gib all deinen Schmerz in den Stoff. Dann ist es recht.”



In dieser Neumondnacht war das Land erfüllt vom Flüstern des Windes. Vom Meer her wurde er ins Land getrieben, salzig und harsch. Er ließ die Gräser und Büsche flüstern und wispern.
Die Hexe kniete zwischen ihnen, barfuß und im Gebet in dem Kreis, welchen sie um sich gezogen hatte. Ihr Pferd graste einige Schritte weiter als könnte weder der aufziehende Sturm noch die Nacht es bekümmern.

“Geheiligt bist du, Orasia,
als Märtyrerin in den Händen der Heiden,
deine Worte beschworen Blitz und Donner,
dass sich die Mohren in Furcht niederducken mussten.”


Sie begann, mit dem Messer aus schwarzen Stein in ihrer einen Hand über ein schmales Holzplättchen in ihrer anderen zu ritzen. Das Zeichen war einfach: ein gezackter Blitz quer über die Rückseite des Plättchens, auf dessen Vorderseite das Bild einer jungen Frau mit Heiligenschein um ihr Haupt aus dem Holz geschnitten war.

Als der Blitz vollendet war, hob sie den Talisman dem schwarzen, leeren Neumond entgegen. Ein weiterer Schnitt und ihr eigenes Blut floss über das Holz.

“Gewähre mir deinen Segen und deine Macht für meine Taten”, flüsterte sie.
“Wenn ich Adamo Manacres seine Tücke zurück in seinen Rachen schiebe, dann verleih mir die Stärke deines Wortes, Blitz und Donner, dass auch er sich niederducken muss.”

Macht durchfloss Blut und Holz. Sie spürte den dunklen Sog, die Verlockungen der Macht, die an ihrem Verstand rissen. Doch dieses Mal war es leicht, ihnen stand zu halten: Es war ihr kalter Zorn, der ihr die Kraft dazu verlieh.

Erst später, als sie wieder zurück in die Stadt ritt, ebbte das Gefühl ab. Doch ihr Zorn verklang nicht und würde es auch nicht bis sie die Grenze gezogen hatte, welche gezogen werden musste.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Zwölf Münzen, sorgfältig in Ruß und Fett geschwärzt, lagen um die Hexe her im Kreis. Zwölf: Die Zahl der Apostel, die Zahl der Monde im Jahr, die Zahl der Stämme Israels, die Zahl der Kleinen Propheten des Alten Testaments. So errichtete die Säulen, auf welchen ihre Bitte zu den Himmeln getragen werden sollte.

Neun erloschene Kerzen standen in einem engeren Kreis innerhalb davon. Neun: Drei mal die Heilige Dreifaltigkeit, die Zahl der Novene der Gebete, die Zahl des Alpha und des Omega aus dem Evangelium des Johannes, Eins und Acht, Neun für die Vervollkommnung der Kreise, die die Hexe hier zog, 360 Grad in Zahlen, Drei und Sechs und Nil, Neun.

Sechs schwarze und weiße Schachfiguren lagen in einem weiteren, noch engeren Kreis um sie her. Sechs: Die Zahl der Tage, in welchen Gott die Welt erschuf, die Zahl des Gleichgewichtes, Zwei mal Drei, die Zahl der Tage, an welchen ein rechtschaffener Mensch in der Welt arbeiten darf, die Zahl der Jahre, in welchen nach dem zweiten Buch Moses’ im einundzwanzigsten Vers ein Sklave bis zur Freiheit zu dienen hat.

Drei weitere Gegenstände lagen direkt um die Hexe her: Ein Kelch, das Messer aus Schwarzem Stein, ein sanft gerundetes Stück vom Schädelknochen eines fetten Ochsen, der jüngst geschlachtet worden war. Drei: Der Vater und der Sohn und der Heilige Geist, die Zahl von Aarons Segen, die Zahl der Tage, nach welchen Jonas aus dem Bauch des Wals entkam, die Zahl der Tage zur Wiederauferstehung von Gottes Sohn.

Die Hexe hob den Knochen an und ließ den Nachtwind die letzten Erinnerungen an Fleisch und Leben davontragen. Dann setzte sie das Messer an und begann, kleine, runde Kerben in den Knochen zu ritzen. Jede Kerbe stand für eine Münze, für den Schatz, Reichtum und Glück. Um sie her, in vier langen Schnitten, ritzte sie eine Kiste, die all dies hielt. Während ihre Hände arbeiteten, betete sie:

“Deine Krone gabst du nicht auf, selbst in der Not,
Deine Krone war nicht aus Gold gemacht und doch unendlich kostbar,
Dein Glaube krönt dich zur Heiligen unter den Menschen,
Dein Mut und die Klarheit Deiner Worte erhebt dich vor den Heiden!

Heilige Stephana Korona, steh mir bei!
Ich werde im Wettstreit und Turnier gegen andere kämpfen,
doch wo ich allein beim Spiel auf dem Brett verzagen müsste, da lenke Du meine Hand,
Verleihe mir die Sicherheit, den Mut und die Klarheit deiner Krone!”


Als sie fertig war, legte sie den Knochen nieder und führte das Messer über ihre eigene Haut. Dunkles, altes Blut rann über ihre kühle Haut, hinab in den Kelch. Diesen hob sie mit beiden Händen an, zum Himmel hin, um ihn dann über dem Knochen zu entleeren. Es war als würde ihr Blut eine Pforte zur Welt auftun, durch welche sie die lebendigen Mächte fließen spürte. Es ließ sie schaudern, beinahe trunken vom Reichtum des Lebens und seiner Mysterien. Für einen Augenblick, einen Herzschlag lang, wollte sie sich fallen lassen. Wohin, das konnte sie selbst nicht sagen, denn für sie gab es keinen Weg zurück ins Leben. Doch ihr Wille war stärker, die Rituale folgten einer Ordnung, die sie hielt.


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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

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Die Hexe kniete in einem Kreis auf blanker Erde, dreifach gereinigt, Wind, Wasser und Salz. Drei Schalen standen in unregelmäßigem Abstand um sie herum, flach und mit Wasser gefüllt, das so still war, dass es den Mond und die Hexe gespiegelt hätte. Doch der Himmel war neumondschwarz und die Hexe hatte kein Spiegelbild.

Dennoch wandte sie sich der ersten Schale zu und beugte sich darüber. Nichts als Schwärze erwartete sie dort, glatt und unberührt. Sie hob ihre bleiche Hand über das Wasser und zog die scharfe Kante eines Keils aus Vulkangestein über ihre Fingerspitzen. Der Schmerz war exquisit. Schwarzes, kaltes Blut tropfte in die erste Schale.

“Chrodohara, Geheiligte,
Vor mir klafft ein Abgrund auf und ich verzweifele - steh mir bei!”


Die Hexe konnte den Sog der Macht spüren als die Alten Kräfte des Landes und des Himmel um sie her erwachten. Nein, es waren nicht die Kräfte, die erwachten. Es waren ihre Sinne, die sich weiteten. Diese Kräfte waren der Strom der Macht der Schöpfung selbst, so alt wie diese Welt, so alt wie das Wunder des Werdens und des Seins, das Wunder des Schaffens, das Wunder des Chaos und der ordnenden Hand, die daraus etwas schafft. Der Strom riss an ihr doch in dieser Nacht schreckte sie nicht zurück. Sie konnte nicht, denn sie war verzweifelt.

“Chrodohara, Geheiligte,
Vor mir wartet eine Prüfung, welche ich nicht bestehen kann. Mein Wille ist zu schwach, mein Verstand zu jung. Doch ich will nicht zerbrechen, ich will nicht fallen. Geheiligte, steh mir bei, wenn ich meinen Willen stählen muss.”


Sie wandte sich der zweiten Schale zu und hob den blutigen, scharfkantigen Stein in ihrer linken Hand wieder an. Ihre Hände, alle beide, waren bereits voller Schwielen und Narben. Wie oft waren die Knochen darin zerbrochen in den letzten Jahren, Monaten, Wochen? Ihre Verzweiflung hatte sie getrieben. Fleisch und Knochen waren zerbrechliche, vergängliche, weiche Dinge.

“Chrodohara, Geheiligte,
Vor mir wartet ein Schatten, der mich verschlungen sehen will. Er will mich gebrauchen, als eine Trophäe und einen Triumph gegen die meinen. Sein Hochmut kennt keine Grenzen. Steh mir bei, wenn ich meinen Willen stählen muss, um mich gegen seinen Hohn zu stemmen.”


War es ihre Verzweiflung, die sie weiter trieb? Etwas stimmte nicht und sie wusste es. Sie wusste es, tief in ihren Knochen, so sicher wie sie die Macht des Neumonds spürte, wie sie die Kraft der Erde unter ihren nackten Füßen spürte, wie sie die Weite des schwarzen Himmels über ihr fühlte.
Sie wusste, dass sie nicht nach diesen Dingen greifen konnte - nicht mehr, denn sie war tot. Ihr Leib war bleich und verflucht, ihre Seele verdammt, ihr Verstand mit Faust und Kette, Drohung und Schatten geformt. Es gab kein Zurück mehr und auch dies wusste sie.

Und trotz alledem wandte sie sich der dritten Schale zu und schnitt auch über ihr ihre Finger blutig. Der Gestank ihrer eigenen Verzweiflung widerte sie an. War das ihre Angst, die sie in diesen Ritus legte?

“Chrodohara, Geheiligte,
So wie du nicht verzweifelt bist, lass auch mich nicht verzweifeln.
So wie du dich über die Verzweiflung erhoben hast,
So wie du deinen Willen niemals hast brechen lassen… .”


Das Blut der Hexe tropfte in die dritte Schale und sie fiel. Der Sog riss an ihr, doch sie war tot und konnte den Mächten des Lebens nicht mehr folgen. Sie schrie als ihre Seele zu bersten drohte.

Und dann schlug ihr Herz. Einmal. Zweimal. Der Schmerz überwältigte sie, als das Leben durch sie raste, Schöpferkraft, Erde, Wind und Wasser, der schwarze Mond am Himmel, der Pulsschlag der Welt unter ihr.
Sie spürte den Rausch der Macht, die sie nicht länger berühren konnte. Sie tauchte darin ein und drohte, zu verbrennen. Die Hexe konnte ihr eigenes Fieber spüren, das Echo ihres Herzschlags, als sie ein zweites Mal starb, verdammt auf ewig.

Sie hatte zu weit gegriffen. Viel zu weit. Sie würde ein drittes Mal sterben, dort vor dem Tor. Und es war ihre eigene, verdammte Schuld. Der Strom der Mächte spie sie wieder aus, denn sie war eine Fremde geworden, ein totes, verfluchtes Ding, das als Blutegel an der Flanke dieser Welt klebte. Giada weinte, doch selbst Tränen hatte sie nicht mehr, nur Blut und Salz.

Chrodohara war eine Heilige, deren Willen und Größe alle Menschen um sie her überstrahlt hatte. Nein, sie würde der Hexe nicht beistehen, nicht in dieser Nacht und in keiner anderen. Doch sie gab ihr eine Lehre mit auf den Weg, die hart wie ein Peitschenhieb war. Wer weiß, vielleicht würde diese Lehre irgendwann, wenn die Hexe genügend Kraft hatte, sich wieder zu erheben, wertvoller sein als irgendein flüchtiger Beistand.


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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Die Hexe rannte, barfuß über den Waldboden. Sie roch das frische Blut der Beute vor sich, klarer als sie es je im Leben getan hatte. Das Tier war schwach vom Blutverlust und vom Hunger, doch noch hatte es genug Kraft in sich, um zu rennen.

Der Wald war licht und dünn. In den letzten Jahren hatte kaum ein Wald oder Hain den Wachstum der Stadt unbeschadet überstanden. Doch sie war weit genug draußen für dies, für diese Jagd, für den Kreis in dieser Nacht.

Dann sah sie die Beute: ein silberner Umriss im nachtschwarzen Wald. Die Hexe brauchte kein Licht mehr, um zu sehen. Das Tier zitterte. Es wollte fliehen, doch in seiner Flanke steckte Massinos Pfeil. Er hatte das Tier durch den Abend gehetzt. Nun war es an ihr, es zu Fall zu bringen.

Sie sprang. Das Tier schrie in Todesangst, wand sich. Sie griff zu, erst ungeschickt, dann gierig vom Blut und der Jagd. Oh, sie konnte den Puls der Jagd spüren, der selbst das fade Blut harmloser Tiere würzen konnte. Sie spürte die eigenen Fänge in ihrem Mund, wollte reißen und trinken.

Unter ihren Händen brachen Knochen. Ein ersticktes Keuchen, Zittern und Strampeln, dann lag das Tier still. Sie rang mit ihrer Gier. Nein, dieses Blut sollte nicht ihr gehören.
Mit einem unterdrückten Grollen riss sie sich vom Anblick und Duft der Beute los und begann ihre Vorbereitung: Mit den bloßen Händen und einem Kiefernzweig fegte sie den Boden um die Beute her leer und sauber. Mit dem linken Vorderhuf eines weißen Stieres, des gesegneten Tiers im Zeichen des Apostels Lukas, zog sie einen Kreis darum her in die weiche Walderde.
Mit Quellwasser aus einem Wasserschlauch an ihrer Seite reinigte sie den Kreis von fremdem Einfluss und dem Flüstern fremder Mächte. Mit einer Prise Kristallsalz aus einem kleinen Beutel in ihrem Ärmel schloss sie die Macht des Kreises um sich her. Der schwarze Neumond am Himmel wurde ihr Zeuge, als sie sich niederkniete.

“Heiliger Eustachius, zweiter Hiob, einstmals der ungläubige Placidus”, beschwor sie die Namen und Bezeichnungen des Heiligen. Feuchte Walderde, der Schweiß und das Blut der Beute klebten an ihren Händen.

“Euch, den Jäger, der in der Jagd selbst die Erleuchtung fand, rufe ich um Beistand an!”, rief sie. “Steht auch meinem Diener, Massino, bei der Jagd nach seiner mehr als ebenbürtigen Beute bei!”

Sie lachte einmal, als ein Echo der eigenen Jagd in dieser Nacht. Dann umfasste sie den Pfeil, der in der Flanke des Tieres steckte, Massinos Pfeil. Mit einem Ruck riss sie ihn aus dem Fleisch und hob ihn in die Schwärze der Nacht.

“Heiliger Eustachius,
Ich flehe Euch an,
Segnet Massinos Jagd und steht ihm bei.”

“Mit dem Lebensblut dieser Beute schreibe ich meine Bitte
In das Gefüge dieser Welt und das Schicksal von Jäger und Beute
Massino und Lucio.”

Sie zog die Spitze des Jagdpfeils über ihre eigene, bleiche Haut und mischte das süße Blut der Beute mit dem kalten, toten Blut ihres eigenen Leibes. Sie spürte den lockenden Sog des Stroms der Mächte der Welt um sich her, spürte die kalte Verdammnis des eigenen Blutes und wie die Macht darin eine Brücke zwischen beidem schlug, so fein und dünn, dass es kaum zu bemerken war.
Und so schrieb die Hexe ihre Bitte in die Fäden des Schicksals, Glück und Pech, Fügung und Bestimmung.


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Giada Salvaza Rossi
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Untermalung


Der Ort war eine Höhle, so lichtlos und tief verborgen, dass kein Sonnenstrahl sie jemals befleckt und entweiht hatte. Sie war kalt und feucht und ihr Grund war durchsetzt mit den Löchern und Furchten, welche die Hexe in Jahren und Jahrzehnten in diesen felsigen Grund gehauen hatte. Einige waren tief und weit wie ein Grab, andere nur eben so groß wie ihre Faust. Die rostigen Reste zerbrochener Werkzeuge waren blinde Zeugen davon, dass die blutig geschlagenen Hände der Hexe dennoch stärker und härter waren als der nasse Fels.

Sie kniete in einem Kreis aus Salz. Vor sich hatte sie mit den schwarzen Splittern ihres Grabens eine Form gelegt, ein Tor, schwarz auf schwarzem Grund, in diesem lichtlosen Loch fernab der lebendigen Welt der Menschen. Doch die Hexe war nicht blind in der Dunkelheit. Sie sah. Sie verstand in jeder Nacht eine Haaresbreite mehr, bis aus tausenden Nächten und tausenden Haaresbreiten Schicht um Schicht eine verwachsene, von der Finsternis besudelte Patina angeschwollen war. Bis daraus eine Last geworden war, die sie nun hier auf ihre Knie nieder drückte.

“Heilige Lucia”, flüsterte sie und die Blasphemie gegen das Licht und die Finsternis ließ sie schaudern. Doch sie war eine Hexe, eine Magierin, eine Flüsterin von Namen.

“Lichtbringerin”, rief sie sie an und schauderte erneut. “Geblendete!”

Giada streckte ihre Hände zu dem Tor vor sich auf dem Boden aus. “Ihr wurdet geblendet und Gott gab Euch das Sehende Auge zurück”, flüsterte sie und ihre Worte hallten verzerrt an den Wänden wider.

“Ihr wurdet von den Schergen der Ungläubigen gefangen, doch Ihr seid standhaft geblieben. Keine Handbreit konnten sie Euch bewegen!” Mit blutiger, knochenbrechender Wucht rammte sie ihre Fäuste links und rechts neben dem Tor auf den Fels. Auch sie wollte nicht weichen. Das Tor klaffte vor ihr auf.

“Steht mir bei, Heilige Lucia, Lichtbringerin, Sehende in der Finsternis, Unverrückbare, Standhafte, Schutzheilige der Torwächter!”, rief die Hexe.

“Steht mir bei, denn auch ich wurde geblendet. Steht mir bei, denn auch ich soll verrückt werden und wurde verrückt und will doch standhaft bleiben!”

“Steht mir bei, denn auch ich will über das Tor wachen, will die Torwächterin sein und nicht jene, die hindurchfällt um niemals wieder hervor zu kommen. Steht mir bei, wenn ich vor dem Tor stehe, wenn ich die Prüfung bestehen muss, von der meine Seele, mein Sein, mein Blut, meine Vergangenheit, die Vergangenheit meines Blutes und unser aller Zukunft abhängt! Steht mir bei, dass ich zur Torwächterin werde.”

Zitternd hob Giada ihre geschundenen Hände und legte sie an die Pfeiler des Tores. Ihre blutigen Handabdrücke blieben unsichtbar dort, Schwarz auf Schwarz auf Schwarz.

“Steht mir bei, denn ich hasse diese Welt und will sie doch nicht brechen sehen. Steht mir bei, denn ich liebe die Letzte Stille der Letzten und Ewigen Finsternis, doch ich will mich nicht einfach lautlos darin fügen. Steht mir bei, ich flehe Euch an, bei meinem Blut, bei der Finsternis und beim Ersten Licht!”

Sie hob zwei der Steinsplitter am Fuß des Tores auf.

“Steht mir bei, wenn ich vor das Tor des Boukephos trete. Steht mir bei, dass ich nicht wanke, dass ich nicht falle, dass ich aufrecht meinen Weg gehe so wie meine Ältesten ihn mir gewiesen haben.”

Die Hexe hatte die Ältesten nicht benannt. Welcher von ihnen? Noellina, die Blutsheilige? Totila, der Tyrannenherr? Himerius, der Weber aller Fäden der Macht? Boukephos, der in den Abgrund ging?
Magie war eine komplizierte Sache, in der Namen Bedeutung hatten und Bedeutungen Namen gegeben wurden. Ein Magier, eine Hexe war nichts anderes als das: Namensgeber, Schicksalsweber.
Die Hexe bat um Stärke für die Prüfung vor dem Schwarzen Tor. Doch selbst das Schicksal, in welches sie diese Bitte und Macht einwob, konnte nicht wissen, was vor ihr lag bis es soweit war.

Magie war auch eine einfache Sache, ein uralter Strom in den Gebeinen der Welt selbst. Vielleicht war sie das natürlichste Prinzip dieser ganzen, strahlenden, zerbrechlichen, Äonen gealterten und doch sicher noch immer viel zu jungen Welt.

Was auch immer die Schritte der Hexe bedeuten würden: Die zeitlose Waage des Schicksals würde nun ein wenig mehr für sie ausschlagen, um zwei scharfe, schwarze Steinsplitter schwerer.



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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

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Es war eine Nacht der Gegensätze. Die Nacht war schwarz und dunkel, denn der Mond war am Himmel gestorben und wurde neugeboren. Doch der Garten, in welchem die Hexe stand, war festlich erleuchtet worden. Um sie her waren überall Zeichen von Prunk und Reichtum: der blühende Garten selbst, der kostbar schöne Brunnen, die zahlreichen Lichter, die mittlerweile verlassene Festtafel im zum Garten hin offen stehenden Esssaal. Doch sie selbst war in schlichteste Gewänder gehüllt, grau und ungefärbt, mit einer festgesteckten Haube und ohne jeden Schmuck.

Die Dienerschaft war zu dieser späten, späten Stunde fortgeschickt worden, doch die Reste des ausladenden Festmahles hatten sie nicht abtragen dürfen. Es hatte Murren deswegen gegeben, denn auch sie waren hungrig. Doch die Hexe hatte es verboten, als die gestrenge Matrone, die sie hier war. Und so umgaben sie die reichhaltigen Düfte von Gebratenem und Gebackenem, von Ölen und Soßen, von honigsüßer Köstlichkeit, gerösteten Dekadenzien und fettigen Kostbarkeiten.


Sie trug ein großes und schön verziertes Tablett mit sich, als sie in die stillen Teile des Gartens ging. Es war übervoll beladen mit Essen, so dass von der einen Seite bereits Bratensaft und eine Weinsoße herunter tropften. Von der anderen hingen Weintrauben herunter wie ein blauvioletter Wasserfall der Völlerei. Das Kronstück auf dem Tablett waren aufgehäufte, fettige Innereien, Scheiben aus eingebackenem Kalbfleisch, ein in der Wärme halb zerflossener Käse und all das gespickt mit kunstvoll arrangierten, dann jedoch in der Menge ineinander gepressten Leckereien aus in Öl eingelegtem Obst und Gemüse, in Rahm und Sahne gewendeten Wachteleiern, mit Kräutern, Honig und Ölen angeschmorten Singvogelzungen und mehr, mehr, mehr.

All dies trug die Hexe in ein kleines Rund, das in gewöhnlichen Tagen und Nächten wohl einfach eine stille Gartenlaube sein konnte, in der die Frauen saßen und sich unterhielten, oder in der die Kinder spielen und lernen sollten. Für diese Nacht hatte sie die Laube mit Wasser und Salz gereinigt und gefegt und einen Kreis um sie her gezogen, welchen sie nun brach und mit Sorgfalt wieder schloss, nachdem sie ihn überquert hatte.

Sie kniete sich vor dem Tablett nieder, das nun auf dem Boden stand. Mit Sorgfalt strich sie die grauen Ärmel ihres Gewandes zurück, so dass sie bis zu den Ellenbogen frei waren. Einmal bekreuzigte sie sich und wandte ihren Blick zum schwarzen Himmel dieser Nacht.

“Oh geheiligte Martha, Schwester der Heiligen Maria,
Hüterin der Häuslichkeit, der Köchinnen, des Kochens und der guten Mahlzeiten,
Euch bitte ich in dieser Nacht um Euren Segen”,

begann die Hexe bekreuzigte sich ein weiteres Mal. Doch dieses Mal blitzte ein scharfes, kleines Tafelmesser in ihrer Hand und es zog Blut, wo es ihre Haut berührte: An ihrer Stirn, an ihrer Brust, links und rechts. Vier stechend scharfe, kleine Schnitte, durch den einfachen Stoff hindurch, durch ihre tote Haut und ihr kaltes Fleisch.

Sie hob das Messer mit beiden Händen über das Tablett der Völlerei.

“Gebt mir Euren Segen und schenkt mir Glück”, bat die Hexe und spürte, wie die uralten Mächte der Welt um sie her rauschten und klangen.

“Wenn ich mit Lucio spreche und meine Kunst, meine Worte und meine Kräfte gebrauche, auf dass er isst und isst so wie ich ihm rate, dann stehe mir bei!”

Mit einem satten, feuchten Schmatzen rammte sie ihre Hände und das Messer in den fettigen Berg aus Essen. Soße spritzte zur Seite, Käse und Öle quollen über ihre Finger, Hände, Unterarme. Sie ließ das blutige Messer dort stecken und begann dann, mit vollen Händen das Essen in sich hinein zu stopfen, kaum kauend, einfach nur schlingend. Sahne und Fett rannen ihr Kinn hinab, besudelten das Gewand, besudelten alles. Sie würgte noch während des Essens, doch der Fluss der Mächte verlangte ihr Opfer in Blut, in Willen, in Hingabe. Sie stopfte und würgte und schlang und erbrach sich und schaufelte nur weiter und weiter alles in sich hinein, um den Zauber in das Gefüge von Schicksal, Glück und Pech zu weben.


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Martha von Bethanien
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Re: [Fluff] Veneratio [Giada]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Was ist ein Gebet, wenn nicht die Öffnung von Herz und Seele für das Höhere? Was ist ein Gebet, wenn nicht eine Bitte, die in das Gewebe der Schöpfung geflochten wird? Wie oft beklagen die Ungläubigen, die Unseligen, dass Gott und seine Engel schweigen?
Doch es gibt Antworten auf diese Gebete. Und sie kommen auf dieselbe Weise wie die inbrünstig geflüsterten Bitten, eingeflochten in das Auf und Ab aller Fäden jenes Geflechtes, das unsere Welt doch ist. Man muss sie darin nur erkennen.

Die Hexe kniete schon seit Stunden in dieser Nacht. Vor ihr ragten die dunklen Umrisse eines kleinen, hölzernen Wegeschreins in der Dunkelheit auf. Ein paar geschnittene Blumen verwelkten zu den Füßen einer schlichten Engelsfigur, die ihre hölzernen Arme zu einem geschnitzten Kreuz in der Mitte streckte.

Sie hatte den Rosenkranz gebetet, begonnen mit dem Bekenntnis zum Glauben selbst:
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels…. Das Paternoster war gefolgt, tausend- und abertausendfach schon eingewöhnt, dass es von ihren Lippen floss so natürlich wie Atem. Oder so unnatürlich, denn die Hexe war lange schon tot.
Und doch folgte sie dem alten Ritus, dem alten Reigen der Perlen und der Gebete, der Mysterien, die im Rosenkranz verborgen lagen. Gaudii, doloris, gloriae mysteria!

Sie ließ die Gebete durch ihren Körper fließen und suchte jenen Frieden, den sie einst gebracht hatten. Lügen. Sie wischte den frevlerischen Widerstand fort, rang mit ihm, hämmerte mit jedem Wort ihrer Gebete die unheiligen Zweifel nieder.

Sobald die dunkelste Stunde dieser mondlosen Nacht gekommen war, hob sie den Rosenkranz in ihren Händen an.

“Oh Herr, heiliger Remigius von Reims”, sagte sie. “Steh’ mir bei in diesen dunklen Stunden. Die Arianer hast du verfolgt und bekehrt. Den heidnischen Frankenkönig und seine Mannen hast du begleitet und bekehrt. Niemals entglitt dir der Zorn, ewig hast du Sanftmut bewahrt.”

Sie bekreuzigte sich einmal und hob dann eine kleine, schmale Tonflasche an, deren Siegel sie brach. Die Perlen des Rosenkranzes klirrten hart gegen den Ton und sobald das Siegel gebrochen war, verströmte das Gemisch aus Olivenöl und Balsam aus seinem Inneren einen wohligen, würzigen Duft. Die Hexe ließ es über den Rosenkranz fließen und bekreuzigte sich erneut, so dass ölige Spuren auf ihrer Stirn und Brust, bei den Schultern und ihrem Bauch blieben.

“Doch niemals hast du gewankt, niemals hast du gezweifelt und das Schwert deines Urteils war stets scharf. Und selbst als dir deine Mittel fehlten, da brachte deine Zuversicht dir, was du benötigt hast!”

Nun nahm die Hexe ein kleines Messer zur Hand. Der schwarze Stein, aus welchem seine Klinge gemacht war, war splitterscharf und in zwei kurzen, schnellen Stichen ließ sie es in ihre beiden Handflächen fahren: Die Erinnerung an den Heiligen Sohn, der selbst in seinem letzten Opfer nie verzagt war. Hoffnung lag in seiner Gabe an die Verdammten dieser Welt, schwindelerregend leuchtende Hoffnung.

Ihr totes, dunkles Blut mischte sich mit dem Öl und erneut bekreuzigte sich die Hexe, zeichnete sich in Blut und Chrisam für ihr Gebet, ihre flehentliche Bitte:

“Oh Heilige Remigius, steh’ mir bei. Einst werde ich geprüft, doch selbst wenn ich die Prüfung überstehe, werde ich schwach sein wie ein Kind. Und eben in dieser Schwäche muss ich doch die größte Stärke zeigen, denn die zweite Prüfung folgt eben dann und scheitere ich, dann ende ich. Heiliger Remigius, du bist Schutz und Wehr gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben. Schenke mir deine Sanftmut und deine Kraft, hilf’ mir, das Herz meiner Prüfer, meiner Ältesten und der Zeugen umher zu wenden, dass sie nicht gleichgültig gegen den Glauben sind. Dass sie meine Taten, meine Worte, meine Opfer nicht gleichgültig betrachten, dass ich ihnen den Glauben zeigen kann, welchen ich über mich halte wie einen Schild - möge es mich schützen und mein Leben bewahren. Via Caeli, der Pfad des Himmels, soll sie nicht unberührt lassen!”

Sie spürte, wie sich ihr Geist öffnete, wie etwas im Stoff, aus dem die Schöpfung gewoben war, ein wenig nachgab. Eine Fügung, wenn man es so wollte, welche doch den ganzen Verlauf der Dinge, die kommen sollten, ändern könnte.


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Chrisamöl
Remigius von Reims
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