[1005] Hör auf die Stimme [Angelique, Seresa]

[Seresa]

Inzwischen waren etwas mehr als eineinhalb Jahre vergangen, seitdem Seresa regelmäßig im Alla Murra ein- und ausging. Es war für sie noch immer kein Ort, an welchem sie nach getaner Arbeit gerne verweilte. Zu verschieden waren die Welten der Ravnos und der Brujah. Dennoch blieb Seresa gelegentlich im Alla Murra, um die Gerüchte in der Stadt aufzufangen. Dafür war die Lokalität durchaus gut geeignet. So auch in dieser Nacht.

Seresa hatte sich an einen der Tische gesetzt. Sie hatte die Arme vor dem Körper überkreuzt und vor sich abgelegt. Dann hatte die Brujah ihren Kopf seitlich gedreht und auf die Unterarme gelegt. Der Anschein eines einfachen Botenjungens war entstanden, der des Nachts mit einer dringlichen Nachricht zur Herrin des Hauses geschickt worden war. Einem erschöpften Boten, dem man es scheinbar gestattete zu warten, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Dem man es gestattete, die müden Knochen in der Wärme auszuruhen, während er auf die Antwort für seinen Herrn oder seine Herrin wartete.

Ruhig wanderte Seresas Blick über die Anwesenden, während sie den Gesprächen lauschte.

[Angelique]

Ein ihr wohlbekanntes Mi-Parti-Gewand eines Possenreissers fiel ihr auf. Unzweifelhaft war es die wahnwitzige Angelique von den Malkavianern, die auf der Bretterbühne der Alla Mura eine beißende Satire auf die Wucherer und Kriegsgewinnler zum besten gab und sich hinter der gschnitzten Teufelsmaske verbarg.

Der kleine Hellekin ließ keinen Zweifel, dass der Teufel irgendwann die holen käme, die mit der Not der Ärmsten Geschäfte machten. Natürlich bezog sie die Zuschauer mit ein und hieb eine Schweineblase auf Köpfe arger Zecher und Spieler, immer einen beissenden Spruch speziell für den Betreffenden hinterherschickend.
Es kam bei der Menge gut an.

[Seresa]

Als Seresa die Malkavianerin entdeckt hatte, hatte sie ihren Oberkörper sogleich aufgerichtet und ihr respektvoll zugenickt. Aufmerksam und sichtlich interessiert verfolgte sie das Bühnenspiel des ewigjungen Vampirs. Seresa schüttelte dann und wann leicht den Kopf über die Themen, welche Angelique anschnitt. Seresas Hand am Kinn verbarg das Schütteln jedoch größten Teils, sowie das sanfte Lächeln, dass auf ihren Lippen lag. Offensichtlich amüsierte etwas an dem Bühnenspiel Angeliques die Brujah überaus. Dennoch schien sie sich alle Mühe zu geben, dies nicht offen zu zeigen. Den Moment der Zerstreuung genießend, sah sie der Malkavianerin und ihrem Treiben weiter interessiert zu.

[Angelique]

Nach dem Auftritt, huschte die kleine Maskierte davon und ein unscheinbares Mädchen mit abgerissenen fadenscheinigen Lumpen eines Strassenkindes, barfüssig und nur wegen eines gelben Bandes am dünnen Ärmchen überhaupt hineingelassen, gesellte sich zur wartenden Seresa.

"Schiavo", piepste das barfüssige Mädchen und setzte sich ungefragt neben die Brujah.

[Seresa]

Seresas Stirn legte sich in Falten bei dem Wort, welches das Mädchen ausgesprochen hatte. Für einen Moment blickte sie ihr Gegenüber fragend an, als hätte es gerade in einer fremden Sprache mit ihr gesprochen. Seresa kniff die Augen zusammen und musterte Angelique von oben bis unten, während ihre Körpersprache deutlich ihre Verwirrtheit wiederspiegelte und nur eine Sache zu sagen schien: Bitte wie nennt Ihr mich gerade?!. Dann schien Seresa sich langsam wieder zu entspannen. Ihre Augen taxierten das kleine Mädchen jedoch weiterhin.

„Seid gegrüßt, werte Angelique, es ist mir eine Ehre und Freude Euch wiederzusehen. Bitte verzeiht meine kurzweilige Verwirrtheit. Ich gestehe, Ihr hattet mich überrascht mit der Wortwahl Eure Begrüßung.“

Die Brujah wirkte nicht verärgert, was sich in ihrem erneuten höflichen Nicken der Malkavianerin gegenüber wiederspielte. Für einen kurzen Augenblick schwieg sie, bevor ihre Stimme vorsichtig fragend wurde.

„Ich hoffe Ihr seid wohl auf, werte Angelique?!“

[Angelique]

Das Mädchen verdrehte die Augen. "Können wir wenigsten so tun, als wären wir normale Menschen, die sich normal unterhalten?", fragte sie raunend und sah sich misstrauisch um, ob irgendjemand auf die seltsame Szene aufmerksam wurde, dass ein Erwachsener ein Gossenkind hofierte wie die Gräfin von Mailand.

[Seresa]

Die junge Frau blickte kurz betreten auf den Tisch, während ihre Fingerspitzen auf dem Holz tippelten. Dann seufzte Seresa schließlich leise und sah Angelique erneut an. Seresas steife Körperhaltung schien von einem Moment auf den Nächsten verschwunden zu sein und die Brujah schien sich entspannt zu haben. Ihre Stimme wurde plaudernder, als spräche sie gerade mit einer langjährigen Spielgefährtin.

„Ach, Angelique. Die Nächte sind doch so schon wahrlich trist und dunkel genug für junge Frauen wie uns. Könnt Ihr mir denn nicht einmalmehr eine kleine Freude lassen?! Tag ein Tag aus müssen wir das Knie vor den hohen Herrschaften beugen, nur um in ihren Schatten leben und um die dahingeworfenen Krumen betteln zur dürfen.“

Ihre Finger wischten wieder und wieder über den Tisch, als versuchte sie ihn mit ihrer Hand von Dreck und Staub zu befreien.

„Ihr wart doch selbst dabei, Angelique. Ihr hattet doch selbst gesehen und gehört, wie unwert mein Leben in ihren erhabenen Augen wahrlich ist. Wie sie mich vor allen öffentlich in den Dreck gedrückt hatten.“

Die Brujah schüttelte kurz betrübt den Kopf.

„Könnt selbst Ihr, die Ihr einst die herzerwärmende Unschuld in Euch getragen hattet, nicht einmalmehr gestatten, dass ich dieser Schmach und der Traurigkeit dieses Umstands für eine Nacht entfliehen darf und ihn vergesse?! Könnt selbst Ihr, die Ihr die Redlichkeit auf Eurer kindlichen Zunge getrangen hattet, mir und Euch nicht einmalmehr das Wunschbild gestatten, dieser grausamen Welt zu entfliehen und sei es nur für einige wenige Momente?! Könnst selbst Ihr, deren Geist keine Grenzen gekannt hatte, nicht länger gestatten hineinzuschlüpfen in eine Welt, in der wir nur für eine Nacht erneut mehr sein könnten, als die schlichten Bettler und Bittsteller der hohen Herrschaften?!“

Seresa blickte in Richtung Angelique, während sie erneut leicht seufzte und ihr zunickte.

„Aber gut, Angelique, dann lassen wir die schönen Spiele der Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Dann lasst uns sein, zuwas der Krieg uns gemacht hat. Junge Frauen, die zu früh erwachsen werden mussten.“

Das Mädchen, welches kaum älter als sechzehn oder siebzehn wirkte, blickte ihr kaum wirklich jüngeres Gegenüber an und lächelte versöhnlich.

„Sagt, Angelique, wie ist es Euch und Euren Lieben ergangen? Seid Ihr wohlauf?“

[Angelique]

"Ach, mach dir nichts daraus", tröstete die kleine Vampirin die scheinbar ältere und hob entschuldigend lächelnd die Schultern.

Dann begann sie an den Fingerchen abzuzählen.
"Mich hat Brimir ins Hafenbecken geworfen, kaum dass ich den Fuss an Land gesetzt habe, die Prinzeps hat mich bei meiner Vorstellung fast vernichtet, mein eigener Klanbruder als Luxuria, Wollust, diffamiert, Maximinianus als Eidbrecherin, mein Liebster einmal im Versteck- und einmal im Liebesspiel fast getötet und die Jagdnonnen haben mich gepflockt.
Habe ich was vergessen? Nein, ich glaube, das war es."

Sie grinste Seresa an. "Das ist nur ihre Art Neulinge willkommen zu heißen."

[Seresa]

Seresas Blick war auf die zählenden Finger der Malkavianerin gewandert und sie hatte kurz erfreut gelächelt, als sie sah, was Angelique tat. Als sie dann jedoch begann aufzuzählen, veränderte sich der Gesichtsausdruck der Brujah binnen weniger Momente mehrmals. Bei Brimir verwirrt. Bei Aurore skeptisch und fragend. Bei Ferrucio seltsam verstehend. Bei Maximinianus überrascht. Bei Alerio betrübt. Bei den Nonnen erneut eher fragend. Als Angelique schließlich grinste, konnte auch Seresa nicht anders, als zu lächeln.

„Vermutlich wollen sie damit nicht mehr tun, als beweisen, dass man ihnen auf eine seltsame Art und Weise nicht egal ist.“

Die Brujah zuckte kurz leicht mit den Schultern und lächelte noch immer.

„Genuesen.“

Gespielt seufzte sie kurz leise.

„Und da heißt es immer, meine Familie sei leidenschaftlich.“

Seresa schüttelte leicht amüsiert den Kopf.

„Aber sagt, Angelique, weshalb hatte Euch Brimir ins Hafenbecken geworfen? Ich hoffe doch, es war ein Versehen.“

[Angelique]

Angelique nickte bekräftigend. "Genuesen", wiederholte sie.

"Oh, nein, das war kein Versehen. Ich machte einen schlechten Scherz über Aurore und Brimir warf mich zur Strafe ins Hafenbecken.
Es war wunderschön! Ich flog wie ein Vogel und stürzte dann in den Morast. Es war wie der Sturz der Engel aus dem Himmel. Sehr lehrreich."

Das kleine Mädchen war begeistert.