Nach guten zwei Stunden und einer halben Fußmarsch - zumindest so man den direktesten Weg vom Hafen Genuas aus nahm - hatte Raul festgestellt, dass der beschwerlichste Weg hinauf zum Monte Bisagno noch vor ihm lag. Die Begrifflichkeit Wachturm, hatte indes mit dem auf was er sich zubewegt hatte, wenig gemein. Eine hölzerne Palisade mit Steineinlassungen dominierte den äußeren Anblick der Wachstation nahe der Bergspitze. Zwei hohe Türme im Inneren überragten die ohnehin bereits hohe Mauer und boten einen guten Blick über die Gegend. Der Diener des Lasombra hatte sich sicher sein können, dass er bereits aus einer guten Meile vor seiner Ankunft von dort oben gesehen worden war.
Als Raul nähergekommen war, hatte er erkannt, dass die Palisadengänge bemannt waren. Ein Tor hatte auf einen Eingang zur Wachstation hingedeutet, welches von zwei Männern bewacht worden war. Als er nähergetreten war, hatte er gestählte Gestalten erkannt, welche wohl schon länger am Kämpfen waren, als mancher Krieger am Leben war. Narben, welche die Geschichten vom Krieg erzählten, waren auf ihren Gesichtern zu erkennen. Einer hatte das Tor rechts, der andere links flankiert, solange bis Raul nähergekommen war. Dann hatte sich einer der Männer von seinem Posten gelöst und war langsam und bedächtig auf den einsamen Wanderer zugegangen. Als dieser sich als Bote entpuppt hatte, welcher eine verbale Nachricht an Seresa überbringen sollte, wurde er mit wenigen Worten ins Innere der Wachstation gebeten. Was Raul dort gesehen hatte - und was von den Palisaden zuvor verborgen gewesen war - war ein Trainingsplatz mit kleineren Barracken, sowie ein größeres zweistöckiges Gebäude.
Nachdem der Bote in Begleitung von einer anderen Wache den Hof überquert hatte, kamen die Beiden an einem Wachhaus an. Vor diesem stand eine weitere Wache zur rechten und zu linken war eine Fackelhalterung befestigt. Ohne dass weitere Worte gewechselt wurden, folgte der Wachhabende mit in den Raum, während die andere Wache Raul verließ. Auffällig war, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine unnötigen Worte zwischen den Männern gewechselt worden waren.
In der Stube, welche der Diener des Lasombra betreten hatte, hingen kleine Laternen, die ein wenig Licht spendeten. Mehrere Stühle waren um einen Rundtisch gestellt worden und es ging eine weitere Tür von diesem Raum ab. Es war einige Zeit vergangen, in der er alleine mit der an der Tür stehenden Wache war, bis ein älterer großgewachsener, schlanker, hager Mann mit schütterem, kurzen, braunem Haar und gewöhnlicher, aber guter Kleidung - welcher so gar nicht in das Bild dieses harten Haufen der anwesenden Bewaffneten zu passen schien - zum Diener des Lasombra gekommen war. Er hatte ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass es noch etwas dauern würde, bis seine Herrin Zeit für ihn fände. Er könne die Nachricht bei ihm hinterlassen oder so er warten wolle, dürfe er gerne Platz nehmen. Auch war Raul gefragt worden, ob er etwas zu Essen und Trinken wünsche, unabhängig davon, ob er gedachte zu warten oder nicht. Insgesamt machte der Diener des Herolds einen überaus freundlichen, höflichen, charmanten und guterzogenen Eindruck dabei.
Unabhängig davon, wie der Bote sich in jener Nacht entschieden hätte, wäre die Antwort an Rauls Herrn durch den Herold selbst - in jener oder einer der nachfolgenden Nächte - erfolgt. Dessen Anblick hätte wohl für weitaus mehr Verwirrung bei dem Diener des Lasombra gesorgt, hätte nicht der bereits kennengelernte Diener Seresas sie entsprechend angekündigt. In den Raum war ein kaum ein Meter und einen halben großer, schmächtig wirkender Jüngling getreten, dessen Alter irgendwo zwischen sechszehn und einundzwanzig Jahren zu schätzen war. Die braunen, glatten Haare waren Kinn lang, während der Körper von einer einfachen, dunklen Robe bedeckt war. Die Brust war ungewöhnlich flach und wäre der Kainit nicht mit einem weiblichen Namen, sowie dem Beiwerk Signora vorgestellt worden, wäre es wohl schwergefallen, ihn von einem jungen Knaben zu unterscheiden. Das Fehlen von Schmuck, hübschen Zierden, Duftölen oder kunstvoll geflochtenen Haaren, taten ihr übriges den fälschlichen Eindruck zu verstärken. Das Fehlen all dieser Dinge verstärkte jedoch in gleichem Maße den aufrechten Gang und die befehlsgewohnte Art der Untoten, denn nur ein stummer Blick genügte, um die Wache aus dem Raum zu schicken. Den abgedunkelten, langen Hirtenstab, welchen sie bis zu jenem Zeitpunkt ruhig in ihrer rechten Hand geführt hatte, hatte sie wie beiläufig neben der Tür abgestellt, bevor sie auf den nunmehr einzigen Sterblichen im Raum zugegangen und in gewissem Abstand vor ihm stehen geblieben war.
Braune Augen verfolgten anschließend das Verhalten des Mannes und so der Bote gewartet hätte, um Seresa selbst die Nachricht seines Herrn zu überbringen, so hätte dieser, als er die letzten Namen der Ahnenreihe genannt hätte, bei dem Herold ein deutliches
Erkennen bemerkt. Seresas Hand beschrieb anschließend eine hebende Geste, um dem Diener zu signalisieren, dass dieser aufstehen solle. Geduldig wartete sie, bis er aufrecht stand und als sie sprach war ihre Stimme klar, deutlich und ruhig.
„Von einem Boten genügt mir eine tiefe Verneigung.“
Kein Tadel war in ihren Worten zu hören, galten sie jedoch offenkundig Raul selbst. Sie wirkten wie eine schlichte Information zur Kenntnisnahme an ihn, welches Verhalten sie künftig erwartete und welches nicht nötig war. Dass sie nun da er stand mehr oder minder dazu gezwungen war, zwangsläufig zu ihm aufzublicken, schien sie nicht weiter zu stören. Sie kannte es offensichtlich nicht anders. Nach einem kurzen Moment des Schweigens fuhr sie fort.
„Die altehrwürdige Ahnenreihe, aus welcher dein Herr entspringt, ist wohlbekannt. Das Treffen mit ihm wird mir eine Freude und Ehre zu gleichen Teilen sein. Teil deinem Herrn folgende Worte von mir mit.“
Die Brujah pausierte für einen kurzen Moment, bevor sie mit einer ruhigen Stimme, welche es einem leicht machte, ihr zu folgen zu ihm sprach. Offenkundig hatte sie selbst wohl oft genug Botschaften überbringen müssen oder viele diktiert, denn die kurzen Sprechpausen wirkten gewählt und überaus passend gesetzt.
An
Riccardo, Neugeborener vom Blute Lasombras,
Kind des Marcus, Ancilla vom Blute Lasombras,
Kind des Kaeso, Ancilla vom Blute Lasombras,
Kind des Appius, Ahn vom Blute Lasombras,
Kind der Marcellina, Ahnin vom Blute Lasombras,
Kind des Eli, Ahn vom Blute Lasombras,
Kind des Saadi, Ahnherr der Schatten,
Kind des Tubalcain, Ahnherr der Schatten,
Kind des Lasombra, erster seines Blutes
Die Einreise in die Domäne Ihrer Majestät Aurore, principessa bianca, Prinz von Genua und seiner Vasallen, Ahn des Clans der Könige und Enkelin Alexanders, Kind Ventrues, ist Euch hiermit gewährt.
Meldet Euch nach Eurer Ankunft am fünfzehnten des Monats August im ´A Tarda Ora´ im Sestiere Broglio, um ein erstes Gespräch über Euer Anliegen zu führen. Dies ist keine Vorstellung gemäß der zweiten Tradition. Diese erfolgt gesondert und erst wenn Ihre Majestät Aurore die Zeit für Bittsteller findet.
Es ist Euch bis zur Entscheidung über Euer Gastrecht untersagt, Euch innerhalb der Mauern der Stadt zu nähren. Bedenkt bei Eurer Anreise, dass von sterblicher Seite aus, das Führen von Waffen im Sestiere Broglio die Erlaubnis der Stadtwache benötigt, sowie dass alle Tore der Stadt nachts stets geschlossen sind. Solltet Ihr eine kurzzeitige Unterkunft in der Stadt benötigen, so lasst mich dies wissen.
Seresa,
Herold im Dienste ihrer Majestät Aurore,
Neugeborene vom Clan der Gelehrten,
Kind von Fabrizio Piccolomini, Ancilla vom Clan der Gelehrten
Seresa endete mit ihrer Nachricht an den Schatten und schwieg entsprechend für einen Moment, um dies deutlich zu signalisieren. Auch der darauffolgende Wechsel vom Euch zum du, machte klar, dass sie nachfolgend an Raul gewandt sprach.
„Hast du noch Fragen?“