Im Frühjahr des Jahres 1035 erschien ein Bote gen Mittag vor den Pforten des Palastes am Meer. Er übergab ein versiegeltes Pergament und machte sich dann umgehend auf den Heimweg.
Das Pergament war beschrieben mit schnörkellosen Lettern, versehen mit dem Siegel der Contarini, ergänzt um einen römisch anmutenden Adler.
"Werter Alain,
In anbetracht der unruhigen Stimmung unter den Menschen und zum Wohl der Stille verzichte ich in diesem Brief auf die komplette Aufzählung von Titeln und Abstammung.
Uns wurden die gemeinsame Pflichten übertragen um über die unsrigen zu richten dort wo es am schmerzlichsten ist, um erste gemeinsame Schritte zu besprechen und unserer Stellung den gebührenden Einfluss zu sichern, seid ihr eingeladen in mein Domizil in Mascharana. Nach alter Sitte würde ich auch gern willkommen heißen zum nächsten Neumond.
Bis dahin,
Ilario Contarini
Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen.
- persisches Sprichwort
Einige unausgeschlafene Flüche, eine längere Suche, eine Vorlesestunde mit Nicolo und etwas Bedenkzeit später sendet Alain seinerseits einen Boten. Diesmal ist die Nachricht mündlich und noch weniger komplex, was zumindest dem Wunsch nach Heimlichkeit gerecht werden dürfte. Der Herr Alain wünscht dem werten Herren Ilario mitzuteilen, dass er durchaus Interesse an einem solchen Treffen hegt und die freundliche Einladung gerne annimmt. Der Bote katzbuckelt und kriecht dabei auch ganz vorzüglich, sofern er auf Ilario trifft.
Und so kommt es, dass in der Neumondnacht eine kleine Gruppe von Staglieno entlang der Stadtmauer gen Mascharana wandert. Alain, seine beiden Leibwächter, sein Leibdiener Luca und zwei Fischerwachen aus seiner persönlichen Leibgarde. Leibwächter und Gardisten sind mit Lederpanzern gerüstet und bewaffnet. Sergio trägt sogar Speer zusätzlich zu seinem Kurzschwert. Alain selbst und Luca sind dagegen fein gekleidet, Alain natürlich deutlich feiner als Luca. Brokatstoff, bunte Beinlinge und ein Seidenschal, edle Wildlederschuhe mit Stickereien und lederne Handschuhe.
Zielsicher führt sie ihr Weg bis vor Ilarios Anwesen, wo Luca seinen Herrn ankündigen wird.
Sie wurden eingelassen und gebeten einen Moment im Garten zu verweilen. Nach etwa zehn Minuten führte dann eine der Hauswachen Alain und seine Entourage in die Villa, genauer in den großen Saal. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, ebenso erhellten einige Lampen den Raum in dessen Mitte sich eine große, mit allerhand Spiesen und Getränken gedeckte, Tafel befand. An deren unteren Ende speisten bereits, offenbar erst seit kurzem, ein halbes Dutzend kriegerisch wirkende Gesellen. Ihren Gewändern und den Schwertern nach nicht irgendwelche Schlagetots, sondern besser ausgebildete Männer.
Ilario selbst saß rechts am Kopf der Tafel, ihm gegenüber ein leerer Stuhl und zwischen ihm und den Männern einige Meter Freiraum. Hier wäre ein leises, ungestörtes Gespräch wohl möglich. Wie üblich betonte eine gut geschnittene Tunika seinen schlanken Leib, ergänzt um Beinlinge und wildlederne Schuhe. Alles von der Farbe tiefster Nacht und mit silbernen Stickereien am Saum versehen.
Als Alain und seine Männer den Saal betraten wurden Letztere zu Ilarios Leuten geführt um sich zu diesen zu gesellen. Ilario hingegen deutete Alain ihm gegenüber Platz zu nehmen.
"Es freut mich, dass ihr meine Einladung angenommen habt werter Alain. Es wird Zeit, dass wir den ungehobelteren Kreaturen der Domäne beibringen, dass man sich benimmt. Dass man sich nicht in schlammigen Gassen mit Äxten und Knüppeln schlägt, sondern dass es Möglichkeiten gibt seine Zwiste zivilisiert und vor allem raffiniert zu regeln. Mit Stil."
Eine Frau, nicht mehr ganz jung, aber in den besten Jahren, trug eine Amphore herbei und stellte zwei Kelche auf den Tisch.
"Die Reise war sicher anstregend und euer Gaumen ist trocken. Wie wäre es mit einem guten Roten? Platealongaer Spätlese habe ich mir sagen lassen."
Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen.
- persisches Sprichwort
Alain tritt an die Tafel heran, wie es sich einem Gast gehört und neigt seinen Kopf exakt so weit, dass er beinahe Gleichberechtigung gegenüber Ilario andeutet. Beinahe. Eine Nuance tiefer, um das Alter des Lasombra zu würdigen, vielleicht. Aber er tut es nicht auf herausfordernde Weise, sondern mit einem neutralen, sondierenden Gesichtsausdruck. Das letzte Jahr hat alte Strukturen, alte Gewissheiten erschüttert und Beziehungen müssen erst neu austariert werden. Und wer, wenn nicht die Harpyien Genuas, sollte damit anfangen? "Ich danke euch für die Einladung, werter Ilario." Er beobachtet die Reaktion seines Gegenübers auf die Anrede sehr genau. "Und für die Verköstigung." Er nimmt den Becher entgegen und hebt ihn. "Auf Genuas Zukunft."
Dann lehnt er sich zurück, den Mundwinkel in einem ironischen Lächeln hochgezogen. "Und außerdem waren es Speere, werter Ilario. Knüppel und Äxte hat nur der Mob genutzt. Speere sind so viel... eleganter."
Die Anrede ließ Ilario kalt, noch war die Zeit nicht gekommen. Er lächelte sogar, wenn es auch nicht die Augen erreichte. Wozu sollte Alain sich auch vor ihm selbst erniedrigen, immerhin schien der Tzimisce die Etikette zu verstehen. Im Gegensatz zu so vielen anderen."Ganz recht, wir sollten damit anfangen. Schließlich sollten wir geeint agieren wenn wir Richter und Henker sein sollen auf den gesellschaftlichen Parkett dieser Stadt. Wobei dies bisher eher einem brachliegenden Ackerland gleichkam." Die Speere und ihre vermeintliche Eleganz bringen den Lasombra dann doch zu einem halbwegs echten Lachen."Ha, das sind sie in der Tat werter Alain. Speere und Schwerter sind um so vieles effizienter und eleganter als alles was der Pöbel aufbieten kann. Doch werden wir alle, auch wir, in Zukunft wohl für eleganten und effizienten Schutz selbst sorgen müssen... Was wir wohl diesen Stillebrüchen, aber auch und vor allem der speziellen Weltsicht unseres sehr verehrten Seneschalls zu verdanken haben."
Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen.
- persisches Sprichwort
"In der Tat", erwidert Alain. "Sousanna hat das Amt jeglicher Autorität beraubt. Ihre Qualitäten lagen auf anderem Gebiet." Er schweigt für eine Sekunde und lächelt ein träumerisches, melancholisches Lächeln. Dann blinzelt er und blickt wieder Ilario an. "Es ist allerlei Unkraut auf diesem Acker gewachsen, um euer reizendes Bild fortzuführen. Man fragt sich, ob die Bäuerin es mit Absicht hat sprießen lassen, in Erwartung der Schatten." Ein Schulterzucken. "So wie sie auch, im Moment ihrer Bedrängnis, ihre Schläger auf mich und den armen Dottore der Verborgenen gehetzt hat. Wohl wissend, dass dies die Stille brechen würde." Alain nickt Ilario zu. "Und natürlich kann ich verstehen, dass die höchst verehrte Herrscherin und ihr sehr verehrter Seneschall nun die Schuld bei denen suchen, welche nicht vor ihren Vergehen aus der Stadt geflohen sind. Es war ja auch meine Entscheidung, dem Dottore beizustehen und ihn nicht in die Hände der Sterblichen fallen zu lassen."
Der Tzimisce legt die Hände übereinander. "Dennoch: Für mich sind Blutsdiener wie Werkzeuge. Oder Waffen. Wenn jemand verletzt wird, straft man nicht die Waffe, sondern die Hand, welche die Waffe geführt hat. Offenbar haben die Alten in ihrer Weisheit entschieden, dass wir nicht reif genug für Waffen sind. Wir müssen ihnen also zeigen, dass wir verantwortungsvoll damit umzugehen wissen. Dass wir besser sind als meine Clansschwester oder alle anderen, die die Kontrolle über ihre Diener verloren haben."
Alain schweigt erneut. Sieht Ilario mit einem nachdenklichen Blick an. "Ich muss euch etwas fragen, werter Ilario", sagt er dann langsam. "Ich habe tatsächlich an eure Vision einer Stadt in der Balance geglaubt, die ihr mir und dem Gangrel eröffnet habt. All die großen Mächte, in Genua vertreten, aber nicht dominant. Nun habt ihr und Brimir beide auf Seiten der Schatten gekämpft. Seid versichert, dass ich euch deswegen keinen Groll hege. Ich möchte nur wissen, was euch zu diesem drastischen und... nun, diesem Schritt gebracht hat, der eurer früheren Vision so sehr entgegensteht. War es von vorneherein eine List, um mich zu lenken?" Da liegt eine gewisse Anerkennung in Alains Blick.
Zu Sousanna schweigt er sich aus, ebenso zu den Ghulen. Des sich leicht verziehenden, bitteren Lächelns nach, ist der Lasombra wohl grundsätzlich anderer Ansicht als sein Ältester in Sachen Blutdiener.
Die andere Angelegenheit die der Tzimisce anspricht, lässt jegliches Lächeln auf Ilarios Gesicht verblassen.
"Man könnte meinen es wäre eine List gewesen, doch dem war nicht so. Vielmehr war es mir damals ernst damit. Die Gemengelage aus Gefallenschuld, Loyalität zum Clan, das gegeneinander Abwägen von Aspekten meines Vasalleneide und von verschiedenen Bedrohungen ließen mich auf Seiten des nunmehrigen sehr verehrten Seneschalls agieren.
Meine Linie hegt keine Liebe zur See der Schatten, noch teilen wir die religiösen Überzeugung des sehr verehrten Lydiadas. Dementsprechend war dieser Konflikt von Anfang an eine Wahl zwischen zwei Übeln, die so oder so unzufriedenstellend ausgehen würde...
Tja, aber wann bekommen wir schon was wir wollen? Wichtig ist, dass man überlebt um das Heute zu leben und das Morgen zu gestalten."
Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen.
- persisches Sprichwort
"Und wir haben nun die Stellung dazu, nicht wahr?" erwidert Alain zwinkernd. "Wisst ihr, meine Gönner waren höchst unzufrieden mit dem Ausgang dieses elenden Konfliktes. Aber ich bereue meine Entscheidungen nicht. Habe ich nie getan - und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Immerhin bin ich nun in Amt und Würden und Vasall der höchst verehrten Aurore." Er legt die Hände hinter den Rücken. "Hättet ihr mich nicht eingeladen, ich hätte euch von selbst aufgesucht. Es gibt einige Angelegenheiten, die besprochen werden sollten. Ein Handel. Eine Einladung. Und die liebe Verwandtschaft."
Dann neigt er den Kopf. "Beginnen wir aber mit dem, was euch auf dem Herzen liegt."
"Seid ihr sicher? Fürderhin sind tedescische und byzantinische Operationen, wie auch jegliche Aktivitäten gegen Domänen an der südfränkischen Küste unverzüglich bei mir oder dem Seneschall anzuzeigen. Das waren die Worte ihrer höchstverehrten Majestät... Die Byzantiner einmal außen vor gelassen, sind die Tedesci ebenso Feinde der See wie auch der Höfe. Zumal mit dem genannten Zusatz auch die südfränkische Küste nun gesichert ist. Ein kleiner Nebensatz mit großer Wirkung, ein Waffenstillstand an dieser Flanke vielleicht? Schwierig zu beurteilen das Ganze." *
Er lehnte sich ein wenig zurück.
"Was mir auf dem Herzen liegt? Nun zuallererst will ich das unser Amt nicht so bedeutungslos bleibt wie unter der werten Ravnos. Wir Hohen müssen das Schwert der Etikette scharf halten."
"Sie haben ihren Worten auch Taten folgen lassen", erwidert Alain und verzieht das Gesicht. "Also ja, ich bin sehr sicher. Es hätte sicherlich schlimmer kommen können, aber erfreut waren sie keineswegs." Er zuckt mit den Schultern. "Was natürlich nicht heißt, dass sie nicht das beste aus der Situation machen werden. Ein Waffenstillstand, das wäre in der Tat möglich."
Auf Ilarios nächsten Satz reibt sich der Tzimisce die Hände. "Exzellent - dann wird euch meine Idee gefallen, werter Ilario. Ich habe vor, eine Festivität in meinem Palast zu geben, einen Abend mit exquisitem Unterhaltungsprogramm, angenehmer Gesellschaft und angemessener Verköstigung. Kurz gesagt: Eine Gelegenheit, für die Neugeborenen der Hohen Clans, einmal unter sich zu sein. Mit einer Ausnahme." Ein Lächeln umspielt seine Lippen. "Die Verborgenen werden ebenfalls die Erlaubnis erhalten, teilzunehmen. Denn es wird eine von ihnen sein, welche die Unterhaltung stellen wird: Die werte Signora Achilla. Für ihren treuen Dienst an den Hohen wird sie ihre Familie einladen dürfen. Natürlich werden wir für eine entsprechende... Trennung sorgen. Schließlich soll der Abend ja von schönen Anblicken erfüllt werden, nicht wahr? Aber sie werden Gelegenheit haben, ein wenig unter ihren Besseren zu wandeln."
Dann neigt sich Alain vor und spricht einige leise Worte. "Ihr seht, wir hatten ganz ähnliche Ideen. Was haltet ihr davon?"
