[1036] Großfamilie [Alain, Federico]

[Alain le Beau]

"Ihr tut recht damit", sagt Alain gönnerhaft. Ob es nun die Anerkennung seiner Wichtigkeit oder der schwarze Humor ist, er scheint in guter Stimmung zu sein. "Ich persönlich sehe die Verborgenen als wertvolle Mitglieder unserer nächtlichen Gesellschaft, insbesondere diejenigen, die ihren Platz kennen und zugleich nützlich sind. Diese Begegnung ist dementsprechend eine angenehme Überraschung, werter Federico." Unbewusst reibt sich Alain seine Hand, während er den falschen Bettler studiert. "Ihr lasst es klingen, als seien die letzten Ereignisse für euch keine Überraschung gewesen. Vielleicht wollt ihr mir erklären, wo die Augen der Wächter blind waren? Hätte der jüngste Konflikt vermieden werden können?"

Die frisch ernannte Harpyie Genuas wirkt interessiert, aber auch amüsiert - offenbar hat Alain schon einige Aufschneider erlebt.

[Federico Augusto]

"Nein", kam schnell die Antwort auf beide Fragen der Harpyie zugleich. Er schwieg dann eine Weile. Schwer zu sagen, ob er nachdachte oder sich an dem Blick störte, der über ihn glitt. Unter der Kapuze war vieles schwer zu sagen. Selbst der Zustand seines Geistes.
"Konflikt kann nicht vermieden werden, nur zum Vorteil der einen oder anderen Seite aufgeschoben", sagte er schließlich. "Möglich, dass ein Teil der Gewalt hätte vermieden werden können. Nur hätten dann wohl die Florentiner oder die Mailänder die Gelegenheit genutzt.
Dieser Brimir ist doch ein gutes Beispiel dafür, was man so hört."

[Alain le Beau]

"Was hört man denn so?" erwidert der Tzimisce mit ernstem Blick, die Augenbraue hochgezogen. Dann beginnt er zu grinsen. "Jede Menge wilder Gerüchte, vermutlich, von denen nur die Hälfte wahr ist - wenn überhaupt. Ich vermute, die wirklich interessanten Dinge weiß kaum jemand unter den Neugeborenen." Alain reibt sich das Kinn. "Ich stimme euch zu, Konflikt ist unvermeidlich. Die drakonischen Maßnahmen, die unsere höchst verehrte Herrscherin nun getroffen hat, um weitere Konflikte einzudämmen, werden ihrerseits wieder Streit nach sich ziehen. Vermutlich weniger als die Alternative. Aber dennoch."

Er verschränkt die Arme. "Bevor er sich auf die Seite der Schatten geschlagen hat, hatte der werte Ilario eine... interessante Vision. Genua in einem Gleichgewicht der Kräfte, einer Art Schwebezustand, Neutralität gegenüber den angrenzenden Mächten. Ein Balanceakt, der offenbar seine Fähigkeiten überstiegen hat."

[Federico Augusto]

"Seine Fähigkeiten überstiegen oder den Hunger der Ahnen unterschätzt hat? Ich verstehe nicht viel von Politik", sagte Federico, "aber ich weiß, dass die Ahnen ein 'Nein' als Antwort nicht akzeptieren. Einer der Gründe vielleicht, warum Brimir jetzt von Ihnen gesucht wird. Weil er dachte, ein 'Nein' würde ausreichen. Ilarios Hochmut also in allen Ehren, aber vielleicht setzte er sich schlicht unmögliche Ziele."

"Hmmmm", brummte die Kreatur und nickte bedächtig. "Möglich. Ehrlich gesagt schert mich das Edikt nicht wirklich. Hatte nie viel übrig für die Lebenden. Möglich, dass die Höchstverehrte es als einen Teil des Konflikts sieht, nicht als dessen Lösung."

[Alain le Beau]

"Es ist möglich", erwidert der Tzimisce nachdenklich nickend. "Ich für meinen Teil schätze die Gesellschaft der Sterblichen über alles, aber ich denke, es fällt mir auch leichter als euch, unter ihnen zu wandeln." Dann tippt er einige Sekunden lang mit den Fingerspitzen aufeinander, bevor er weiterspricht. "Sagt, werter Federico, nun da wir uns kennenlernen - kann ich etwas für euch tun? Oder wollt ihr mir einen Dienst anbieten? Ihr habt ja sicherlich nicht nur für einige freundliche Worte unter unserem toten Freund gesessen."

[Federico Augusto]

Der Nosferatu beobachtete den Tzimisce weitgehend reglos. Es schien wirklich, als hätte er die kleinen, natürlichen Bewegungen eines lebenden Wesens völlig verlernt in den letzten Jahrzehnten. Er war ein schwarzer Flecken in der Landschaft, der aus toten Augen heraus starrte. Beobachtete.
"Im Gegenteil, werter Alain", sagte er, Ich bin eine höfische Kreatur und wollte mich euch vorstellen. Nichts weiter. Galeno der Grabräuber erwähnte mir gegenüber kürzlich, dass man mich beinahe vergessen hat in dieser Domäne. Eine unangenehme Erinnerung."

[Alain le Beau]

"Ihr seid eine Zierde für euren Clan", erwidert Alain und es ist gut möglich, dass es tatsächlich nicht spöttisch gemeint ist. "Ich für meinen Teil werde euch in lebhafter Erinnerung behalten. Im Gegenzug für diese Geste erlaubt mir, euch an einen Ort einzuladen, der hoffentlich ebenso Eindruck hinterlässt, wie eine Begegnung unter einem Toten. Wenn es euch genehm ist, so wandert in drei Tagen auf der Straße von Quinto nach Nervi, werter Federico. Jemand wird auf euch warten. Aufgrund der jüngsten, mh, Regelungen seitens der höchst verehrten Aurore wird er von Uneingeweihten begleitet werden, also... nun, ihr wisst schon, was zu tun ist."

Es klingt nicht so, als sei diese Einladung optional oder tatsächlich nur eine unverbindliche Geste. Zumindest macht Alain nicht den Eindruck, mit einem "Nein" zu rechnen.

[Federico Augusto]

Langsam, unendlich langsam, wie um niemanden zu verschrecken, hob sich eine der Klauen des Nosferatu. Schmutzige Lumpen waren um Finger gewickelt, die bis auf die Knochen herunter genagt waren. Scharfe Fingernägel, unter denen der Schmutz der Erde und der Fäulnis klebte, zupften die Kapuze zurecht.
Im fahlen Mondlicht huschten kurz die Zähne des Nosferatu auf. Die Lippen hatten sich von ihnen zurück gezogen und gelbe Rasiermesser offenbart, die Fleisch und Knochen gleichermaßen durchtrennten, wenn es darauf ankam.
"Natürlich", krächzte die Kreatur und deutete eine Verbeugung an. "Ich weiß genau, was zu tun sein wird. Mit einem Gesicht wie meinem wird man sonst nicht alt."

Weiter sagte er nichts. Aber er richtete sich wieder auf und zog die Hand zurück unter den Umhang. Wohl wartete er darauf, ob das Gespräch somit beendet war.

[Alain le Beau]

Alain nickt. "Mögen eure Wege verborgen sein vor der Welt und ihren Grausamkeiten", sagt er leise und macht eine kleine Handbewegung, die von einem zaghaften Winken bis zu einer fortscheuchenden Geste alles bedeuten könnte. "Gehabt euch wohl, werter Federico und auf bald."

[Federico Augusto]

Drei Tage später auf der Via Aemilia Scaura, knapp hinter dem Dörfchen Quinto. Irgendwo hinter einer Biegung, wo sich die Straße vom Strand fortbewegt, um einer seichten Klippe auszuweichen, wartete eine alte Hexe mit Engelsgeduld. Sie hatte eine schweren Tornister dabei - ein Laden mehr, der aus Holz gemacht war und über unendlich viele Schächtelchen und Türchen und Schublädchen verfügte, die alle mit Garn verknotet worden waren -, den sie neben den Wegesrand gestellt hatte. Sie saß darauf, einen weiten Umhang mit einer spitzen, grünen Kapuze über ihren fülligen Leib ausgebreitet, die Faust unters Kinn gestemmt und starrte aus Knopfaugen die Straße hinauf und hinab, als erwarte sie jemanden.