[1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

[Juli'20]

Moderator: Toma Ianos Navodeanu

Benutzeravatar
Signora Achilla
Nosferatu
Beiträge: 1472
Registriert: Do 7. Feb 2019, 23:24

[1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Signora Achilla »

Salvos Schänke in Clavicula war ein raues Pflaster. Sie hatte die Feuer recht gut überstanden und zeichnete sich im Allgemeinen dadurch aus, dass das Haus fast ständig voll war. Es gab ein paar Kammern mit Strohsäcken voller Läuse zum Übernachten, aber das Hauptgeschäft war doch der Schankraum.
Fast jeden Abend gab es den einen oder anderen Musikanten, der für Unterhaltung sorgte. Wein und Bier waren zwar nicht gut, aber dafür billig, und man konnte alle Tage auch irgend etwas zu bekommen - meist einen einfachen Getreidebrei mit irgend etwas darin, von Zwiebeln bis zu Äpfeln, manchmal sogar mit etwas Salz und mit Glück konnte man auch mal einen Fetzen Fleisch darin finden.
Salvo selbst war wohl der Wirt des Ladens und seine Frau und Kinder halfen aus. Es lief eben und könnte auch schlechter sein, für die Verhältnisse von Clavicula. Dem zuträglich war wohl, dass ein paar örtliche Schläger und andere zwielichtige Gesellen für Ruhe hier sorgten und wahrscheinlich dafür auch ihren Teil kassierten. Auch das war nicht eben neu oder außergewöhnlich.

Es war einer von den Musikanten, ein dürrer Bursche mit einem dünnen Bärtchen, das noch nicht so richtig wachsen wollte, der sich an einem Abend zu Martina gesellte, die die Schänke mittlerweile wohl gut genug kannte.
“Ich hab’ eine Nachricht für dich”, sagte er ihr, während er sich gerade mit einem Becher verwässerten Wein von seinem letzten Auftritt erholte. “Eigentlich eher eine Einladung, für deinen Herrn wohl?”
Er grub ein wenig in einem losen Stoffbeutel, den er am Gürtel trug und der sonst wohl eher dafür da war, den einen oder anderen Lohn für sein Spiel schnell einzustecken. Dort zog er einen kleinen Lumpenfetzen hervor, den er auf seiner Handfläche aufschlug, so dass Martina sehen konnte, was darin eingewickelt lag. Das war eine Motte, schon lange tot und trocken, ein wenig ausgefranst in den Flügeln. Der junge Musiker legte ihr das Ganze hin.
“Zum Platz der Wunder läd ihn die Signora ein, wenn er denn in den nächsten Nächten kommen mag. Er findet sie bei Maestro Mauricios Truppe.”
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
Benutzeravatar
Federico Augusto
Nosferatu
Beiträge: 177
Registriert: So 7. Jan 2018, 15:26

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Federico Augusto »

Die Kräuterfrau, die seit einigen Jahren bereits in der Stadt und der Schänke ein und wieder aus ging, stellte ihren Kelch ab. Sie lehnte sich vor, so dass sie aus ihren kleinen Augen gut in den Lumpen sehen konnte, runzelte dann die Nase und nickte.
Mit einer erstaunlich flinken Handbewegung ließ Martina die Motte verschwinden, um sie später ihrem Herrn zu übergeben.
"Ich richte es ihm aus", sagte sie. "In drei Nächten sollte er dort sein."

Drei Nächte später war von Federico Augusto Leonardo di Brianza nichts zu sehen. Auch am Hof der Wunder war keine Spur von ihm. Keine Martina ließ sich blicken und kein in Lumpen gehüllter Mann mit der Gestalt des drahtigen Federico zog über den Platz.
Der Maestreo Mauricio aber mochte bei irgendeiner Arbeit im Laufe der Nacht, in einem Moment, da er sich unbeobachtet fühlte - als er sich gerade erleichterte ein plötzliches Unwohlsein verspüren.
Nur die Nackenhaare stellten sich ihm auf, wie als ob neben seinem Ohr die Dunkelheit seufzte. Eine Ahnung umspielte ihn, dass ein Brodem durch die Nacht zog, ungesehen, aber böse, falsch. Wie etwas, das der Teufel selbst aus der Hölle geworfen hatte, weil selbst ihm von diesem Anblick übel wurde.
Und wirklich war ihm, als ob ein böser Wind dem Schausteller zuflüsterte:
"Achilla."
Es besteht kein Grund, dass Ihr eure Hände beschmutzt, mein Herr. An meinen klebt genug Dreck für uns beide.
Benutzeravatar
Signora Achilla
Nosferatu
Beiträge: 1472
Registriert: Do 7. Feb 2019, 23:24

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Signora Achilla »

Der Maestro, Mauricio der Jüngere, der noch damit rang, in die großen Fußstapfen seines ehrenwerten, alten Vaters zu treten, erstarrte vor Angst, als er das hörte. Er war ein etwas untersetzter Mann mit wilden, dunkelbraunen Locken und einem geölten Vollbart, den er wohl zu gabeln versuchte, aber so recht wollte es noch nicht werden. Ein guter Bart braucht eben Pflege.

Doch gerade nun waren all solche Gedanken für ihn verflogen und er wurde weiß wie eine frisch getünchte Wand. “Wer… wer ist da?”, fragte er nach. Mauricio besaß, genau wie sein Vater, eine wohl geübte Bühnenstimme, die allerlei Stimmungen und Tonarten annehmen konnte. Gerade jetzt klang sie einfach ein wenig dünn. Trotzdem raffte er sich zu einer Art von wackligem Mut auf: “He, meine Brüder sind gleich um die Ecke und wenn ihr mir was wollt, dann gibt’s das nicht umsonst!”
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
Benutzeravatar
Federico Augusto
Nosferatu
Beiträge: 177
Registriert: So 7. Jan 2018, 15:26

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Federico Augusto »

"Der Wind", gurgelte selbiger.*
Die Worte tropften wie Gift in seine Ohren. Sie schmerzten, dort wo der Wind seinen Nacken berührte. Erst auf der einen Seite, dann auf der anderen, als ob er um ihn her schlich wie ein Wolf um seine Beute. Und wie der Wind war nicht immer ganz klar, von wo sie kam.
"Fürchte dich nicht, kleiner Mann. Deine Seele treibt mich nicht um."
Als der Maestro das nächste Mal vor sich blickte, lag vor ihm ein Fetzen und darauf ausgebreitet eine Motte, ausgedörrt und leblos. Niemand hatte sie dort hingelegt. Niemand hatte ihn darauf hingewiesen. Wie von unsichtbarer Hand war die Motte dort platziert worden, als ob sich der Schleier der Nacht von ihr gelöst hätte.
"Lauf geschwind zur Signora und sage ihr, ihr Bruder macht seine Aufwartung", flüsterte der Wind. er klang beinahe freundlich, mit einem vergnüglichen Ton in der Stimme. Ganz so, als ob ihm sein grausamer Spaß Vergnügen bereitete.

*Willenskraft für's verdunkelt bleiben
Es besteht kein Grund, dass Ihr eure Hände beschmutzt, mein Herr. An meinen klebt genug Dreck für uns beide.
Benutzeravatar
Signora Achilla
Nosferatu
Beiträge: 1472
Registriert: Do 7. Feb 2019, 23:24

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Signora Achilla »

Mit aufgerissenen Augen starrte Mauricio auf die tote Motte und er verstand wohl nur allzu gut. Er rührte den toten kleinen Leib jedoch nicht an sondern schluckte trocken und tat dann wohl das Klügste, was ihm einfiel: Er lief.

Weit laufen musste er auch nicht, denn das Häuflein Schausteller, Musikanten und Tagediebe, das sich unter seinem Namen versammelte, war nicht weit. So spät in der Nacht wie jetzt waren nur ein paar von ihnen wach und lungerten um ein niedriges Feuer in einer Grube am Rande vom Platz der Wunder herum. Ein Krug mit Wein kreiste in der Runde, begleitet von ein paar gemütlichen Bemerkungen vom einen zur anderen, zurück und über Kreuz. Doch als Mauricio erschien, immer noch blass um die Nase und aus der Fassung gebracht, sahen die zwei Männer und zwei Frauen auf zu ihm.
“Ich hab’ Pech und Scheiße am Stiefel kleben”, brachte der Maestro hervor und das rüttelte die Runde auf. Es hieß, dass er Verfolger hatte - und nicht unbedingt die friedliche Sorte. Die Leute um das Feuer her standen langsam auf. Eine der Frauen zog sich etwas zurück, so dass sie außerhalb des Feuerscheins über ein paar Schlafende steigen und zwischen zwei Bretterverschlägen verschwinden konnte. Einer der Männer griff nach einem soliden Knüppel, der nicht allzu weit entfernt an dem Häuflein Feuerholz lehnte, das sie wohl für das Feuer zusammen getragen hatten. Der andere zog einen einfachen Sack von seinem Gürtel los, in dem zwei oder drei ordentliche Steine leise aneinander klapperten, als er ihn prüfend einmal schwang.

Der Maestro bahnte sich dann seinen Weg am Feuer vorbei, auch über ein paar Schlafende und Betrunkene hinweg und zu ein paar noch erleuchteten Zeltverschlägen am Platz der Wunder hin. Musik klang von da, Gelächter und gedämpft auch die Geräusche, die mit der Lust kamen, rhythmisch, dicht an dicht, denn das Leben hier war kurz und wollte ausgekostet werden.

Hier war es, dass er seine Signora fand, im Hintergrund einer Runde alter Gaukler, die ihre Geschichten spannen. Sie sprach dort mit einer alten Frau, gedämpft und im Flüsterton, während die Alte ein paar geworfene, bemalte Knöchel zwischen ihnen begutachtete. Hier wurden Geheimnisse getauscht, echte und schön erfundene - das war, wohinein Maestro Mauricio der Jüngere mit seiner Nachricht platzte.

Und so erhob sich die Signora und beugte sich nur mit einer Entschuldigung noch einmal zu der Alten herunter. Es sah beinahe zärtlich aus, was die beiden tauschten, die Maskierte und die greise Wahrsagerin.
“Dann lass’ uns ein ruhiges Plätzchen finden”, sagte Achilla laut genug zu Mauricio und vielleicht auch für den Bruder. Sie ging von den erleuchteten Zelten fort und mit ihr lösten sich die Motten von den Lichtern um ihr zu folgen als würde sie in Wahrheit viel schöner und heller strahlen. Doch sie tat nichts derlei sondern fand nur mit dem nervösen Mauricio im Schlepptau den Weg zurück zu dessen ursprünglicher Runde am Feuer und von dort durch eine noch ausgebrannte und kaum recht reparierte Ruine vom Brand hindurch in einen kleinen Hinterhof. Hier gab es ein paar Regenfässer, ein paar aufgestapelte und zusammengeklaute Steine und eine alte, angesengte Bank, auf welcher sich die Signora niederließ. Sie drapierte ihr ausgefranstes Kleid um sich her und breitete die Arme aus, so dass die Motten durch die Dunkelheit um sie her tanzten.

“Mein Bruder ist mir stets willkommen”, erklärte sie, vielleicht für Mauricio, vielleicht für ihren Bruder und vielleicht einfach für die Nacht.
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
Benutzeravatar
Federico Augusto
Nosferatu
Beiträge: 177
Registriert: So 7. Jan 2018, 15:26

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Federico Augusto »

Auch die tapferen Männer mit den Knüppeln und den Steinen konnten sich dieses Gefühls nicht erwehren. Es war keine Furcht, die da von ihnen Besitz ergriffen hätte - denn da war niemand, vor dem sie sich hätten fürchten können. Niemand war zu sehen. Niemand war zu hören. Niemand berührte sie.
Und dennoch wurden sie das Gefühl nicht los, dass sich in ihrer Mitte ein Fremder befand. Einer, der so anders war, dass er nicht gesehen werden wollte - aber bemerkt. Einer, dessen Gegenwart ein unumstößlicher Beweis dafür war, dass die Nacht in der Tat lang und voller Schrecken war.

Das Gefühl verließ die Runde, waberte wie ein Nebel dem bedauernswerten Maestro hinterher, und streifte die Männer am Feuer nur kurz für den kurzen Augenblick, da die Signora an ihnen vorbei kam. Es verfolgte den Maestro in der Tat wie Pech und Scheiße, bis sie endlich in dem Hinterhof angekommen waren, den die Signora für diesen Anlass ausgewählt hatte.

"Und ich bin stets dankbar für die Gastfreundschaft meiner Schwester", gurgelte der Wind als Antwort auf ihre Worte. Mit einem Mal stand dort vor ihr, nur einen halben Schritt hinter dem unglücklichen Maestro, Federico in seinen Lumpen. Ganz so, als hätte er schon immer dort gestanden und nicht erst seit gerade einem schreckhaften Herzschlag des Maestros.
Es besteht kein Grund, dass Ihr eure Hände beschmutzt, mein Herr. An meinen klebt genug Dreck für uns beide.
Benutzeravatar
Signora Achilla
Nosferatu
Beiträge: 1472
Registriert: Do 7. Feb 2019, 23:24

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Signora Achilla »

Der noch zu junge und unerfahrene Maestro machte ein Geräusch wie ein Hund, den man mitten beim Schlafen auf den Schwanz trat. Er sprang etwas nach vorn und wirbelte herum, nun mit einem Ziermesser in der Faust. Es sah hübsch aus und nicht wie etwas, das zum Kämpfen gemacht war. Vor allem sah es zu teuer aus, um wirklich in die Hand von jemandem wie Mauricio zu gehören.

Auch die Signora wirkte erschrocken, vermutlich zu gleichen Teilen wegen Mauricios ersticktem Aufschrei, dem Messerchen und dem Bruder. Sie legte dann jedoch dem Maestro sacht die Hand auf den Arm. “Es ist gut”, sagte sie ihm. “Zieh’ keine Waffe, die du nicht benutzen kannst und willst. Geh jetzt und gib’ acht, ob wer uns folgt.”

Der Mann wirkte geknickt von diesen Worten - als wären sie ein vernichtendes Urteil für seine Darbietung gewesen. Mit gesenktem Kopf zog er ab, für diese Szene von der Bühne verbannt.
Achilla lud ihn mit einer gezierten Geste zum Sitzen ein, auch wenn die Auswahl dafür nicht die beste war: Die Bank neben ihr oder ein altes, lange schon nicht mehr dichtes Fass.

“Ich will dich bitten, dem jungen Mauricio dies zu verzeihen. Er lernt gerade erst, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der zu alt wird, um meine Leute zusammen zu halten.”
Im schlechten Licht hier konnten die Malereien, mit denen Achillas Maske verziert war, einem leicht Streiche spielen. Sie sahen aus wie ein Fantasie-Gesicht, dessen Augen auf Höhe der tatsächlichen Wangen der Signora waren. Die Löcher für die echten Augen waren im Dunkel aufgemalter und aufgeklebter, wilder Augenbrauen verborgen. Der falsche Mund war unter dem Kinn auf Stoff oder Leder aufgemalt und aufgestickt, die echte Partie von Mund und Nase wohl höher.

“Willst du dich zu mir setzen? Ich denk’, es ist eine gute Zeit, dass wir einander besser kennen lernen. Ich weiß gern, wer diese Brüder und Schwestern sind, mit denen ich hier meine Heimat teile… und das Blut in unseren Adern.”
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
Benutzeravatar
Federico Augusto
Nosferatu
Beiträge: 177
Registriert: So 7. Jan 2018, 15:26

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Federico Augusto »

Der Henker legte den Kopf schief und betrachtete die Bank, auf die sich die Signora gesetzt hatte, mit einem inquisitorischen Blick. Schließlich aber bauschte er seinen Lumpenmantel mit einer Handbewegung auf und setzte sich geschwind, so dass er sich nicht auf den Mantel setzte, dieser ihn aber weiter vor etwaigen Blicken verbarg.

"Habe ich ihn verstimmt?", fragte die Kreatur mit Blick auf den abziehenden Mauricio. "Das tut mir Leid. Ich vergesse oft, dass selbst eingeweihte Sterbliche nicht immer an uns gewöhnt sind." Der leicht schalkhafte Ton ihrer Stimme ließ verraten, dass es ihr nicht halb so leid tat, wie sie behauptete. Mit einem hörbaren Knacken richtete sie sich wieder auf, streckte den Rücken gerade und zeigte sich der Schwester damit so, wie sie gewachsen war: Als durchaus stattliche Kreatur, deren gekrümmte Haltung durchaus ein Spiel war.

"Zugegeben, Signora: Damit du weißt, wer ich bin, müsste ich wohl selbst erst einmal wissen, wer ich bin. Das ist nicht recht leicht, wenn man nicht nur einer ist, sondern viele. Und wenn das Leben - mehr noch: Das Unleben - durchaus so wandelbar und unstet ist, wie das meine... Fällt das schwer."
Unter der Kapuze grinste das Ungeheuer und zeigte damit auch nicht mehr seines lippenlosen Lächelns als sonst auch.
"Aber frag' ruhig, was dein Herz begehrt. Vielleicht fallen mir ein paar Antworten ein, die ich keinem Grab entrissen, keinem Toten gestohlen habe."
Es besteht kein Grund, dass Ihr eure Hände beschmutzt, mein Herr. An meinen klebt genug Dreck für uns beide.
Benutzeravatar
Signora Achilla
Nosferatu
Beiträge: 1472
Registriert: Do 7. Feb 2019, 23:24

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Signora Achilla »

“Ah, ich glaub’, das ist eine Sache, die uns allen ein wenig im Blut liegt”, meinte die Signora mit weicher Stimme. “Wer sind wir noch? Oder wer sind wir geworden? Wir können ja nicht weitermachen wie zuvor. Wir können auch nicht lang unter Menschen sein und so tun als wären wir wie sie.”

“Wir sind ein wenig wie eine Gestalt aus einem Schauermärchen: Der hungrige Köter, der am Fenster lauert, ob die Köchin nicht doch etwas zum Kühlen auf die Fensterbank stellt. Der Lumpensammler, der bei Nacht um die Häuser zieht und vielleicht den einen oder anderen Blick in die warmen Stuben wagt… .”
Sie neigte den Kopf ein wenig auf die Seite und betrachtete den Henker so wie aus einem anderen Winkel.

“‘s geht mir ähnlich. Was ist nur eine Rolle und was bin ich selbst? Und dann: Spielt das überhaupt eine Rolle, eh?” Sie lachte ein bisschen über das etwas schale Wortspiel, war sich nicht zu schade dafür.

“Fang vielleicht mit dem an, was dich umtreibt. Mit dem Hier und Jetzt. Ich hab’ was von deinem düsteren Handwerk gesehen, doch das ist nicht alles, eh? Ein Mann ist mehr als die eine Sache, die er tun kann.”
Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen. (Seneca)
Benutzeravatar
Federico Augusto
Nosferatu
Beiträge: 177
Registriert: So 7. Jan 2018, 15:26

Re: [1038] Die Rollen, die wir spielen [Achilla, Augusto]

Beitrag von Federico Augusto »

Federico schmunzelte bei ihren Worten, rieb sich mit einer unbedachten Bewegung über das Kinn. Eine von wenigen, derer er noch fähig war, ohne sie zu durchdenken. Oder vielleicht hatte er auch diese irgendeinem Toten abgenommen.
"Um ehrlich zu sein, war ich auch als Setskind ein ziemlich schlechter Mensch. Es macht mir wenig aus, kein Teil dieser Brut zu sein, sondern einer anderen."
Sein glasiger Blick ging über den Hinterhof, so als suchte er irgendetwas, woran er seine Erzählung anknüpfen könnte.
"Ist schwer zu sagen, was mich umtreibt. Ich liebe dich, Signora, wie ich nur das Blut lieben kann. Die Madama Fogna hat mich wohl erzogen, sei dessen versichert. Aber auch für mich muss es Geheimnisse geben. Ich habe einen Auftrag in diesen Landen, der mir wenig gefällt, und doch muss ich ihn ausführen."
Er schwieg einen Augenblick und überlegte wohl, ob er damit bereits zu viel gesagt hatte.
"Was du von meinem Handwerk gesehen hast... Ist schwer zu sagen, wie sehr es mich beschreibt. Es sind kleine Kniffe, die ich hier und dort und überall aufgegriffen habe, bisweilen auch dem ein oder anderen Grab entrissen."
Unter seinem zerlumpten Mantel kam eine Hand zum Vorschein. Sie war - wie der ganze Rest seines Körpers - von eher gräulicher Farbe, die Nägel zersplittert und gelb, eher Klauen als Finger. Er streckte die Handfläche nach oben, drehte den Zeigefinger, als ob er nach irgendeinem Einfall von Gottes Gnaden her wartete. Dann eine rasche Bewegung und mit einem Mal wanderte eine Münze zwischen seinen Fingern umher, hüpfte und tanzte mit sich selbst. Eine römische Sesterze, einige Jahrhunderte alt.
"Ich bin Problemlöser, Dieb von Krankheiten, von Gesichtern, von Erinnerungen, bisweilen auch von Gräbern und Leben. Ich bin ein Arzt, ein Folterknecht, ein Lügner, Betrüger, ein Hetzer und ein Prediger. Ich bin viele Dinge, Signora, wonach auch immer mir der Sinn steht und was auch immer meines Weges kommt."
Es besteht kein Grund, dass Ihr eure Hände beschmutzt, mein Herr. An meinen klebt genug Dreck für uns beide.
Gesperrt

Zurück zu „1038“