[1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

[November '20]
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Die Geschichte des Erzählers ist wohl besser eine, die ihr lesen solltet, nicht hören.", sprach der Setit geheimnisvoll. Doch als er sich umdrehte und das Hemd abzustreifen begann wurde klar was er gemeint hatte:

Über seinen gesamten muskulösen Rücken erstreckte sich ein große Tätowierung. Zwischen seinen Schulterblättern thront der Kopf einer Schlange mit geöffnetem Maul und ausgestellten Zähnen, deren schuppiger Leib seine Wirbelsäule bis zum Steiß hinabführte. Auf dem linken Schulterblatt war ein runder Schlund zu sehen bewehrt mit Tentakeln und Zähnen, auf der rechte Flanke der Oberkörper einer Frau mit Tentakeln als Unterkörper. Um seine beiden Oberarme ringeln sich zwei Schlangen.

Wer noch genauer hinsah, würde sicher noch weitere Details der Geschichte erkennen:
Spoiler!
Es waren keine Tentakel, die aus den Hüften und Oberschenkeln sprossen, sondern zähnefletschende Wolfsköpfe. Die Schlange war eine Viper, deren Muster auf den zweiten Blick einen Schriftzug bildete: Soter. Links daneben zog sich eine weitere Linie mit einer Spitze die Wirbelsäule herunter - wohl ein Speer. Bei genauerem Hinsehen werden unter den Tätowierungen einige alte Narben von Striemen und Schnitten sichtbar. Und unter der einen Schlange auf dem Oberarm verbarg sich eine alte fast verblichene Tätowierung, zwei Schiffe und zahlreiche stilisierte Schwerter. Viel einfacher und verwackelter gestochen als der kunstvolle Rest.
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Eine Geschichte wie diese wurde in Farben und Form erzählt, auf dem sterblichen Leib auch im Verblassen von beidem - oder unsterblich gemacht in unsterblichem Fleisch. Auch die Signora legte die Worte beiseite, doch sie sah sich den bloßen Rücken ihres Gastes mit Faszination und Staunen an.
Nie zuvor hatte sie etwas derart kunstvolles in Haut gestochen gesehen. Ja, wilde Tättowierungen gab es dann und wann, auch Hautstechereien oder kunstvolle Brandnarben. Doch dies? Auch wenn sie diese Symbole nicht kannte, so konnte sie sofort verstehen, dass all dies mehr bedeutete als es den ersten Anschein hatte.

Behutsam, Finger für Finger, zog sie ihren linken Fingerling ab. Der abgewetzte Stoff gab die Hand darunter nur mit Widerstand preis, der Stoff hatte sich längst hier und da in der brüchigen, verrotteten Haut verhakt. Eine Reihe seidig grauglänzender Kokons saß mitten in einem Loch in der Handfläche und die Spinnfäden schienen zusammenzuhalten, was sonst einfach auseinanderfallen wollte. Die Signora sagte ihrem Gast nicht, was sie da hinter seinem Rücken tat, doch er konnte es spüren, als er ihre bloßen Finger auf seiner Haut fühlte. Sie waren trocken und knochig, schmal und brüchig. Langsam fuhr sie die Linien nach, die sie sah, und begann auf dem linken Schulterblatt, bei jenem zahnbewehrten Schlund.

“Was ist dies für ein gieriges Maul?”, fragte sie. “Was will es verschlingen? Und wird es jemals satt?”
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

Mit geübter Stimme rezitiert Valerios:

"Doch weit niedriger ist der andere Felsen,
Und dem ersten so nahe, dass ihn dein Bogen erreichte.
Dort ist ein Feigenbaum mit großen laubigen Ästen;
Drunter lauert Charybdis, die wasserstrudelnde Göttin.

Dreimal gurgelt sie täglich es aus, und schlurfet es dreimal
Schrecklich hinein. Weh dir, wofern du der Schlurfenden nahest!
Selbst Poseidon könnte dich nicht dem Verderben entreißen:

Darum steure du dicht an Skyllas Felsen, und rudre
Schnell mit dem Schiffe davon. Es ist doch besser
Sechs Gefährten im Schiff zu vermissen, als alle mit einmal!"


und fährt dann mit eigenen Worten fort:

"Bestimmt ein Dutzend Mal haben wir die Enge bei Messina durchquert,
wir stolzen Kaperer mit unserer stolzen Pamphile, die wir Skylla getauft hatten, nach dem Ungeheuer auf der anderen Seite.
Doch beim dreizehnten Mal, kamen wir nach bestimmt 30 Jahren auf dem Meer in eine See, die Sie nicht mehr bezwingen konnte.

Ein finsterer, nachtschwarzer Sturm hat sich wie Schwärme von Raben vom Ätna hinab auf unser Schiff gestürzt und uns hinab gerissen in die Tiefe.
Nur 3 haben diese Katastrophe überlebt: Francesco, Paolo und ich würden an die Küste von Vulcano Porto gespült.

Damals wussten wir noch nicht, dass in Palermo noch viel schwärzere Nacht, viel tosendere Stürme und viel grausamere Monster auf uns warteten."
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Achilla erschauerte und er konnte es an ihrer Hand auf seinem Rücken spüren. Sie malte sich aus, wovon er sprach, den gierigen Schlund. Wie oft hatte sie schon den Geschichten der Seeleute gelauscht, von all den Schrecken und der Gewalt der See? Ein paar der Namen, die er sprach, klangen vertraut: Poseidon kannte sie aus den alten Geschichten, Charybdis und Skylla, die eifersüchtig aufeinander und ewig hungrig an den Schiffen zerrten, um sie in die Tiefe zu reißen.
“Ja, das ist ein gieriger Schlund”, flüsterte sie und meinte den Mahlstrom ebenso wie die Nacht selbst, in Palermo und anderswo, die einen Mann mit Haut und Haar verschlingen konnte.
“Und doch seid Ihr hier.” Ihre Hand wanderte ein wenig weiter, genau zwischen seine Schulterblätter. “Schwankend aufrecht, wenn auch nicht freier als wir alle.” Kurz stützte sie ihn so, aufrecht und gerade, dann ließ sie ihre Hand weiter wandern.

“Was war Euer Leuchtturm? Wie habt Ihr den Weg gefunden, in solcher Finsternis?”
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Der, der das schwarze Monster, mit dem Speer niederstreckt,
der, der die rote Wüste zu Fuß durchquerte,
der Erschütterer des Olymps, der Herr von Ombos.

Mein Erschaffer, war es, der mich wieder aufrichtete, ich damals noch in sterblicher Gestalt, er eben selbst erst mit dem heiligen Blut des Apophis beschenkt.

Es war so viel Zorn in mir zu dieser Zeit, viele Flammen der Wut hat der Branntwein gelöscht, viele meiner Schmerzen mussten die Huren ertragen, viel von der Verzweiflung verwandelte sich in blaue Augen, gebrochene Nasen und angeknackste Rippen. An dem Abend als ich den Bänkelsänger kennenlernte, hab' ich einen Mann fast totgeschlagen für ein verschüttetes Bier.

Ich war ein gebeugter Mann, entstellt von seinem erbärmlichen Leben, gezeichnet von der Tragödie, verfault und leer.
Doch Er hat die Schwärze von mir genommen, mich ins Auge des Sturms gestellt, da wo es still und friedlich ist. All die zerborstenen Planken wieder zusammengefügt, alle Tränen getrocknet und alle Wunden geheilt. Wie Asklepios den Glaukos wieder vom Tod erweckt hat, hat Er mich wieder erweckt. Zu einem neuen, einem besseren Dasein."


Doch dann unterbricht er sich selbst, die schwelgende Stimme wird wieder klar und nüchtern: "Wir verlieren uns im Reich der Geschichten, nicht wahr.."
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

“Wie können wir uns damit verlieren, wenn wir uns so erst kennen lernen?”, fragte die Signora heiter. Sie fuhr mit der Hand die Formen auf seinem Rücken nach und meinte dann: “Vieles davon kenne ich gut: Den Zorn, die Faust, den Rausch.” An ihm vorbei machte sie eine ausschweifende, verschnörkelt anmutende Geste. Es wäre hübsch gewesen, hätte er so nicht einen Blick auf ihre nun bloße Hand bekommen: Braun verrottendes, brüchig-trockenes Fleisch, durch das hier und da die helleren Sehnen und zähen Muskeln hindurch schienen. Die Geste ließ das wundersame, feine Zusammenspiel all dessen in der Hand nur zu offenbar werden, für den flüchtigen Moment sichtbar im Schein der Talglichter. Zart gesponnene Seide glänzte hier und da zwischen den dürren Fingern.
War es ebenso eine Hand, die ihm gerade auf der Haut lag, direkt in seinem Rücken?

“Und anderes aus Eurem Munde klingt fremd und verlockend zugleich. Noch nie habe ich den Namen “Ombos” gehört und “Asklepios” kenne ich als einen Zauberer und Wunderheiler aus alter Zeit.” Sie lachte ein wenig über sich selbst und es klang ein wenig traurig. “Wenn wir uns die Geschichten nicht erzählen, dann gehen sie verloren.”
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Ombos, die ferne Oase in der roten Wüste. Der Brunnen für die Durstigen. Der Baum, an dem tausend süße Früchte wachsen. Der Palast, der den vierzig Winden trotzt. Die Schatzkammer zweier Königreiche. Kräutergarten des Wunderheilers. Das Delta des stromaufwärts fließenden Flusses. Diese Stadt hat tausend Namen und abertausend Geschichten, die niemals vergessen werden.

Er legt seine Hand auf die Schulter, und wenn er dort wirklich eine Hand vorfand hielt er sie fest.
"Aber wie sind eure Namen, Herrin des Staubs? Zarteste der Unsterblichen? Was bleibt von euch, wenn das letzte Schiff nach Westen ablegt?"
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Seine Hand legte sich über ihre. Das Gefühl konnte einen schaudern lassen: Ohne den Handschuh dazwischen war es als würde man altes, trockenes Leder und dünngeschabtes Pergament berühren, hier und da aufgeplatzt, so dass tiefe Rissen entstanden waren. Vielleicht spürte er etwas von den feinen Muskeln, Sehnen und zarten Knochen, die in ihrem Zusammenspiel eine Hand erst zu einer Hand machten. Vielleicht spürte er auch die Seidenfäden dazwischen, verborgene, gesponnene Kokons und darin wartendes Leben. Vielleicht berührten seine Finger auch die Larven, die hier und da im Fleisch krochen, die sich nährten und stärkten, um dann ihre eigene Chrysalis zu formen. Und sicher war da auch das Gefühl, dass ein allzu starker Händedruck genügte, um all das zu zermalmen und in Puder und Staub zerbrechen zu lassen. Das konnte eine Versuchung sein: Dieselbe, die einen dazu verlockte, einen Stein in einen vollkommen stillen Teich zu werfen.

“Ich habe alle Namen all meiner Rollen”, meinte die Signora leichthin. “Sogar dieser: ‘Signora Achilla’. Es ist eine gute Rolle, über all diese Jahre und Jahre hinweg. Wenn man eine Rolle lang genug spielt, dann wird man dazu.”

“Und was bleibt? Ich hoffe: nichts! Eines Nachts werde ich in einen Schwarm aus tausend mal tausend Träumen, Wünschen und Begierden aufgehen und mich in alle Winde zerstreuen. Ich werde in jedes Ohr, jeden Verstand kriechen, alles kosten, hören, sehen und erfahren. Nichts wird mich fleischschwer mehr zurückhalten und ich lache über die schreckliche Schönheit dieser Welt.”
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

Es durchfuhr ihn plötzlich ein Gedanke, als er die Berührung des fasrigen Stoffes auf seiner Haut spürte. Eine Angst, eine Ahnung.

"Hasst ihr das Leben so sehr, das ihr vergessen werden wollt, Signora? Das ihr das Fleisch vergessen wollt, das ihr seid? Wollt ihr es deshalb hinter euch lassen?
Oder liebt ihr das Leben, das Schwelgen in allen Farben und Formen und wollt am liebsten eins sein mit ihnen allen?
Fürchtet ihr zu lange in einer Rolle zu verharren? In Ewigkeit zu erstarren im Gefängnis eines beschränkten und gezügelten Seins?"

sinnierte er mehr zu sich gewandt, als zu Achilla. Sie schien einen Nerv getroffen zu haben, etwas das auch ihn beschäftigte.

Er wandte sich zu ihr um: "Welche Rolle war euch die Liebste, meine Teuere?"

Während er - ihr ganz nah - in ihre Augen blickte, atmete er unhörbar durch die Luft ein. Seine Nase suchte einen ganz spezifischen Geruch: Erdpech, Weihrauch, Zeder, Myrrhe, oder Radieschen..
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Ein paar dieser Dinge waren da: eine Ahnung von Zedernharz, Bienenwachs und auch der schärfere, harte Unterton von Erdpech. Aber auch anderes: Lavendel, getrocknete Blüten, Leder. War das alles genug, um den süßlichen Gestank der verrottenden Fäulnis zu vertreiben? Mal ja und mal nein.

“Oh, ich hasse das Leben nicht!”, protestierte die Signora aus tiefstem Herzen. “Ich liebe es, will alles davon sehen.” Sie spreizte ihre bloßen Finger und nun sah man zu viel vom Leben: All die feinen Stränge, Fasern und das Gebein, all die wimmelnden Maden, versponnenen Kokons, hier und da eine bereits geschlüpfte Motte die mit der kunstvollen Maserung ihrer Flügel fast bis zur Unsichtbarkeit auf dem Leichenfleisch getarnt schien.

“Ich habe keine liebste Rolle, denn das Leben hat auch keine. Versteht Ihr? Um alles davon zu kosten darf man keine Vorliebe haben, darf man sich nicht verschließen. Anfangs war es schwer, doch heute? Ha. Heute ist die Gefahr viel eher, dass ich sie allesamt zu sehr liebe, all die Formen und Farben. Selbst die, die so tödlich sind wie wir.”
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