[1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

[November '20]
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Si, verstehe.

Ja, düstere Geschichten hat die vergessene Insel auch viele. Vom Gespenst im Supramonte. Oder von den Jägern der schlafenden Chimäre. Oder von dem Apotheker, der einen Stein heilen wollte. Und ich kenn sogar eine, die hab ich hier in Genua gehört: Die vom Mönch und der Frau, die die Tür offen stehen lies.

Aber vielleicht mögt ihr die erzählen vom Schiff mit den roten Segeln? Oder von dem Bildhauer, der eine Statue sein wollte? Oder die über die Schwalbe von Genua?"
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

“So viele so wunderbare Geschichten”, meinte die Signora verzückt. Nun stand sie auf und lupfte die Zeltplane etwas beiseite um in das Innere zu spähen. Dann winkte sie Valerios mit sich hinein in das leidlich hellere, aber doch deutlich trockenere Innere. Hier drinnen war es nicht unbedingt geräumig, aber es war genug Platz für einige Kissen und einen ausgetretenen Teppich, dessen Farben schon lange verblichen und zu einem Einheitsbraun mit wirren Mustern geworden waren.

“Darf ich wählen…?” Die Frage klang ungläubig und dankbar zugleich. Sie legte die Hand über ihr totes Herz. “Ich würd’ gern die Geschichte mit dem Mönch noch einmal hören! Ich denk’ ich kenn’ sie wohl, doch die Zeit und all die Münder, die sie erzählen, machen doch immer etwas Neues daraus!”
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

Valerios schmunzelt bevor er mit geübter Stimme und großem Spaß die folgende Geschichte erzählte:

"Es war in einer großen Stadt, ein großes Fest. Alle Menschen auf den Straßen tanzten und sangen und feierten und johlten.
Nur auf dem Platz vor der großen Kirche, von der alle wussten, das dort die bösen Geister wohnen, war es still.

Dann kam ein Soldat aus der Kirche, und der war still und sagte kein Wort und ging weg zum Mönch in sein Haus.
Was war da: Ein Soldat mit Schwert auf dem Weg zum Mönch in sein Haus.

Dann kamen zwei Männer aus der Kirche, die sahen beide gleich aus, die sagten kein Wort und gingen dem Soldat hinterher.
Wer folgt wem: Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus.

Dann flog ein Reiher über den Himmel, der war still und sagte kein Wort und flog hinter den beiden Männern her.
Wer folgt wem: Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus..

Dann kam ein Mann aus der Kirche, der hatte eine Maus auf der Schulter, der war still und sagte kein Wort und lief hinter dem Reiher her.
Wer folgt wem: Mann mit Maus dem Reiher in der Luft, der Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, die Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus..

Dann kam ein Zecher mit zwei Huren aus der Kirche, und die waren still und sagten kein Wort, und die liefen dem Mann mit der Maus hinter her.
Wer folgt wem: Zecher mit Huren dem Mann mit Maus, der Mann mit Maus dem Reiher in der Luft, der Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, die Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus..

Dann kam eine Frau im Kleid aus der Kirche und die war still und sagte kein Wort, und die lief dem Zecher mit den Huren hinter her.
Wer folgt wem: Frau im Kleid dem Zecher mit Huren, Zecher mit Huren dem Mann mit Maus, der Mann mit Maus dem Reiher in der Luft, der Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, die Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus..

Dann kamen Gaukler aus der Kirche und die waren still und sagten kein Wort, die liefen der Frau im Kleid hinterher.
Wer folgt wem: Gaukler im Pack der Frau mit Kleid, Frau mit Kleid dem Zecher mit Huren, Zecher mit Huren dem Mann mit Maus, der Mann mit Maus dem Reiher in der Luft, der Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, die Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert zum Mönch in sein Haus..

Und dann wehte er Wind durch die Kirche und das Tor schlug zu und er folgte den Gaukler hinaus in die Stadt.
Und hätten die Leute nicht getanzt und gesungen, gejohlt und gelacht. Hätten sie sich gedacht, wer folgt da wem so still und ohne ein Wort:

Der Wind der Wind den Gauklern im Pack, Gaukler im Pack der Frau mit Kleid, Frau mit Kleid dem Zecher mit Huren, Zecher mit Huren dem Mann mit Maus, der Mann mit Maus dem Reiher in der Luft, der Reiher in der Luft den Brüdern zu zweit, die Brüder zu zweit dem Soldat mit dem Schwert auf dem Weg zum Mönch in sein Haus, denn die Türe steht auf und lässt jeden hinein..."
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Die Signora kam nicht umhin, mit der Erzählung mitzumachen. Jede der Parteien aus Valerios’ Worten erhielt eine kleine Handgeste, so wie sie sich aneinanderreihten: Der Soldat erhielt den Griff nach einem gedachten Schwert an ihrer Seite, das Haus des Mönches die beiden Hände wie ein Dach über ihrem Kopf, der Reiher die nebeneinander gelegten Hände, die sie wie Vogelschwingen schlagen ließ und so fort.

Auf die Weise reihte sie ihre erdachten Gesten aneinander so wie Valerios die Worte aneinanderreihte, immer länger und komplizierter doch mit einem großen Vergnügen allein schon daran.
Am Ende aber breitete sie die Arme einfach aus: Die offene Tür, die jeden hinein ließ, wohin auch immer das führen mochte.

Und dann ließ sie die Arme sinken und applaudierte einmal, auch wenn das nur einen eher dumpfen Laut gab, mit ihren stoffumwickelten Fingern.
“Das ist eine wunderbare Geschichte! Und sie ging ganz anders als ich glaubte! Das allein soll mir eine Lehre sein, eh? Ohhh, ich danke Euch!”

Sie legte sich wie in großer Nachdenklichkeit einen Finger an das lederne Kinn ihrer Maske und überlegte laut: “Oh, wie kann ich das nur gut vergelten? Eine Geschichte ist ein Schatz für den Geist und das Herz. Vielleicht wollt Ihr die Geschichte von den Schwarzen Katzen von Clavicula hören?”
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Valerios
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Von den Katzen hör' ich gerne, hatte ich doch eure Schwester bereits gefragt nach dieser Geschichte. Aber die hatte nur ihren Hund im Sinn. Aber das ihr mir keine von den Katzen vergesst, nicht wahr?" zwinkerte er der Signora zu.
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

Da lachte die Signora herzlich. “Ai, der Hund, ja. Das war etwas zum Hinsehen! Oh, ich hoffe, es wird über die Zeit hinweg auch etwas zum Verzeihen sein, das die schöne Iulia nicht ewig mit sich tragen muss.”

Achilla setzte sich ein wenig zurecht und hob den Blick zum dunklen Zeltdach empor. Für einen Moment, in dem die blakenden Talglichter ein wenig heller schienen, konnte man erkennen, dass etwas mit ihren Augen nicht ganz stimmte. Sie waren wohl einmal dunkel gewesen doch mittlerweile waren sie wieder heller, milchig wie bei einer Toten. Vielleicht hatte die Nosferatu es darauf angelegt, dass er dies sah, genau in diesem Augenblick.

Denn also sie den Blick wieder senkte und sich einmal rechts und einmal links ein wenig verschwörerisch umsah, wurde mit ihrer Haltung und ihrem Blick die Stimmung im Raum ein wenig anders. Düsterer, vielleicht unheimlich.

“Clavicula ist das schwarze Herz der Stadt”, begann die Signora leise und ein wenig traurig. “Ihr könnt’s schon im Namen hören, der Kloake: Die stinkende Gosse, wo Unrat und Dreck sich sammeln. Es kann zum Himmel stinken, hier. Selbst am Tage sieht man nicht viel vom Himmel, so wie die Häuser hier wuchern und wie so manch einer in seinem Tagwerk das Licht scheut.”

“Und doch ist sie ein Teil der Stadt, diese Clavicula. Und doch sind die Menschen hier, vielleicht sogar mehr und dicht an dichter als überall sonst. Wir zwängen uns zusammen, Jung und Alt, krank und gesund, faul und verzweifelt. Das ist schön, für eine wie mich, die dies liebt, Haut an Haut mit anderen.” Das wiederrum hatte einen gewissen Unterton, ein wenig belegt, ein wenig anrüchig, entschärft mit einem Augenzwinkern.
Dann aber musste sich die Geschichtenerzählerin einem dunkleren Abschnitt zuwenden:

“Doch eben das ist ja oft eine Plage. Wo Menschen sich so drängen, da nisten auch Krankheit und Hunger, Dreck und Plage. Und mit ihnen? Mit ihnen kommen die Ratten. Sie sind die grauen Herolde all dieser Dinge und sie leiten sie auch ein: Wie oft hören wir die Geschichten davon, dass die kleinen Bestien in der Nacht einer Großmutter die Zehen abgefressen haben? Dass sie der Witwe ihren kargen Vorrat für den nächsten Tag auffraßen? Dass sie die ersten sind, die merken, wenn hier einer stirbt, und die letzten, die die Leiche hergeben wollen bevor die Leimsieder kommen?”
Achilla schauderte einmal kunstvoll und zog ihr buntes Schultertuch enger um sich.

“So, wie Clavicula nicht ist wie andere Teile dieser schönen, strahlenden Stadt unter dem Licht der ewigen Morgenröte, so hat es auch andere Schutzheilige und -geister, die sich um das Wohl und Wehe in den engen Gassen sorgen. Und dies, lieber, großzügiger Gast, sind die Katzen von Clavicula.”
Für einen Moment ließ sie die Worte so im Raum stehen und wirken und entspannte sich auch ein wenig nach all dem nur zu alltäglichen Grauen, das ihre Worte gemalt hatten.

Dann neigte sie sich etwas vor und erklärte leise, vertraulich: “Es ist eben auch so, dass die, die aus Clavicula kommen, nicht viel auf Träumereien geben, die sich hier eh keiner leisten kann, eh? Und so ist’s wohl auch mit unseren Schutzheiligen. Wir haben die, die tatsächlich anpacken, und wir ehren sie auch. Denn das ist, was die Kätzlinge machen: sie treiben sie aus, die Ratten und Todesboten, halten das übelste Wuchern von hier fern.”
Sie neigte den Kopf ein wenig auf die Seite, so dass ihre Worte beinahe zärtlich klingen wollten:
“Und dafür kann man sie wohl lieben. Über die Jahre sind es viele geworden, denn hier finden sie auch reichlich Beute. Und zugleich gibt es hier kaum jemanden in den Gassen, der ihnen Übles will, denn wer tritt schon nach den eigenen Schutzheiligen? Wer wirft einen Stein nach denen, die selbst bei Nacht mit Katzenaugen und auf leisen Pfoten über den Schlaf von Mensch und Tier wachen, eh…?”

Mittlerweile war ihre Stimme zu einem Flüstern abgesunken, vertraulich, nur mit scharfen Ohren zu verstehen oder wenn er sich ebenso wie sie ein wenig vorbeugte.
“Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg, so heißt es, haben sie hier ihr Reich begründet. Es geht die alte Geschichte, dass es stets einen unter ihnen gibt, den prächtigsten, den stärksten, den vernarbtesten und kampferprobtesten Kater in den Gassen, der ihr König ist. So scharf sind seine Krallen und so eifersüchtig seine Wacht über das Wohl und Wehe hier, dass man sich selbst unter Leuten auf zwei Beinen vorsehen sollte, dass man es nicht zu übel treibt.”

Nun lehnte sich Achilla wieder ein wenig zurück und lachte ein bisschen. Die Spannung entwich etwas und machte einer Warmherzigkeit platz, die wohl selten jemand für Clavicula als Heimat zeigte - oder hatte.
“‘s ist nur eine Geschichte, mein lieber, großzügiger Gast. Doch es ist eine, die einen etwas ruhiger hier gehen lässt, wo die Gassen verwinkelter und enger werden. Und es lohnt sich allemal, die kleinen Jäger wohl zu behandeln, denn es sind vielleicht die einzigen Schutzgeister, die die Leute und das Leben hier haben.”
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Die grauen Ratten und der Katzenkönig.. für wahr eine poetische Geschichte", erwiderte Valerios, sich versichernd, dass er den Kern der Geschichte erfasst hatte.
"Wusstet ihr, das es im längst vergangenen alten Ägypten vier heilige Katzen gab, allesamt mächtige Wächter: Hathor, Bubastis, Mafedt und Sekmet. Aber keine einzige Ratte."
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Signora Achilla
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

“Ha, wenn es gleich vier Gottkatzen gibt, dann wird sich wohl keine Ratte mehr hervorwagen”, meinte die Signora darauf. “Doch von solchen Göttern und so einem Land habe ich noch nicht gehört! Wo lag es? Und warum ist es vergangen?”
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Valerios »

"Weit weit im Osten, meine Teure. Viele viele Tausend Jahre weit weg. Ich kann euch auch von dort eine Geschichte erzählen, wenn ihr mögt?"
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Re: [1042] Die Bretter, die die Welt bedeuten [Achila, Valerios]

Beitrag von Signora Achilla »

“Ohhh ja!”, bat die Signora entzückt. “Das ist der Segen einer Stadt wie Genua, mit dem Meer und Hafen, die die Geschichten aller Herren Länder hierher tragen können. Von Konstantinopels Pracht und der Wildheit der Nordlande kann man hier hören. Von weiten Steppen und von den Bergen, die so hoch sind, dass an ihre Gipfel den Himmel berühren.”

Sie lehnte sich träumerisch ein wenig zurück und meinte dann ein wenig vertraulicher: “Doch auch von Euch selbst will ich gern hören. Vom Erzähler wird selten gesprochen und doch ist er stets eine der wichtigsten Figuren in der Geschichte.”
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