1008 - irgendwo nördlich der Grenze zwischen Toskana und der Emilia-Romagna
Das Allerheiligste war ein tief in den Apenninen liegendes Höhlensystem. Im völligen Dunkel schwimmen die Jäger eisige Gebirgsbächer im Felsen empor bis sie zu einer nach Moos riechenden Grotte vordringen. Diese ist sicher fünf oder sechs Meter hoch und fünfzehn Meter im Durchmesser. Von irgendwo dringt ein einzelner Mondlichtstrahl hinein. Die Wände und die Decke, sogar die einzelnen Steine über die Brimir geht, die großen Monolithen und die kleinen Kiesel sind alle mit eingeritzen Ritualzeichnungen überzogen. Jagdszenen, Einkerbungen, Blutspuren. Neben denen die Brimir herführten stehen hier seltsame Gestalten: Einen Mann mit einem Hirschgeweih, eine geduckt dasitzende Gestalt die den Nordmann von einem hohen Stein beobachtete und der Pilze aus dem gesamten, nackten Körper wuchsen, und ein riesehafter Mann mit den längsten Eckzähnen die Brimir jemals gesehen hat. Aber Alle von ihnen halten einen gewissen Abstand und lassen den Normann passieren zu der wunderlichen Gestalt in der Mitte der Höhle.
Eine ewig junge Frau mit zahlreichen Tiermerkmalen - die auffälligsten stammen sicher von Spinnen - wie etwa ihrer Kleidung aus Spinnenseide. Sie kniete gerade auf dem Boden und wäscht sich die blanken Arme mit kristallklarem, eisigen Wasser ab.
... alle vier Arme.
Noch bevor er in der Nähe von Ninurta kam, überfiel Brimir ein Gefühl, dass er schon lange nicht mehr kannte: Er wurde in eine Ecke gedrängt, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben schien... gefangen in einem Spinnennetz. Brimir versuchte sich jeden Schritt einzuprägen... markante Zeichnungen, Blutgerüche... einfach Alles.
Und dann wurde ihm auch klar, warum ihn das hier an das Netz einer Spinne erinnerte. Es gab keine Frage, wer von den Personen Ninurta-Sha war. Das Alter stand ihr auf den Körper geschrieben... in der Haltung. Das Tier in ihm erkannte wer die wahre Jägerin in dieser Grotte war. Und so ging Brimir vor der Spinnenfrau aufs Knie. Aber es war nicht das Knien, dass der Nordmann vor Aurore vollzog. Das hier war Anders, weniger einer 'Adeligen' bestimmt. Es war ein Kauern und Lauern, wie ein Jäger, der seine Beute im Verborgenen beobachtete und doch fand man die Geste der Unterwerfung in der Haltung wieder. Er wusste nicht, ob es besonders schlau war, aber so spiegelte er seinen Pfad bestmöglich wieder: Wir sind alle Jäger und Beute - zur selben Zeit.
Er wartete ab bis ihm erlaubt wurde zu sprechen, ehe er sich vorstellte und dabei ein Jagdmesser mit kunstfertigen Verzierungen - es war seine erste Jagd in Genua darauf stilisiert abgebildet: Der Vasail, Brimir und die Wölfe des Vasails, die sich an den Kettenhemd verbissen haben - auf beiden Händen vor sich präsentierte... als Geschenk offerierte.
"Ich bin Brimir, Kind des Böggvir Bärenklaue aus der Ahnenreihe des Sturmrufers... erster Jäger Genuas... der die Kultbestie Cynolycus in der Jagd bezwungen hat, Häscher des Vasails von Genua und Vernichter des Schattens Allocer, der mir im Kampf in der Dunkelheit des Abyss unterlegen war und nun nur noch Asche ist.
Es ist mir eine Ehre dich endlich zu treffen, Ninurta-Sha, erste Jägerin des Kultes der Jagd... bitte nimm diese Klinge, geschmiedet durch meine eigene Hand, als Gastgeschenk und Opfergabe an die Jagd."
Ninurta-Sha erhob sich langsam zu voller Größe - hochgewachsen war sie. Und sehr schlank. Beinahe dürr. Mit gleitenden Schritten kam sie auf dich zu. Als ob all ihre Bewegungen fliessend stattfinden würden. Es gab kein ruckartiges Geholpere wie es die menschliche Mechanik vorsah. Sie war darüber hinaus. In einer Bewegung die aussah wie ein einzelner Schritt, deren vorraussichtliche Zielposition nicht einmal zu schätzen war, hielt sie schließlich nahe Brimir an.
Er ahnte das solch ein Gegner den fähigsten Nahkämpfer aus der Bahn werfen würde. Gelenke die in nicht vorhergesehene Richtungen funktionierten, völlige Uninterpretierbarkeit ihrer Bewegungen. Erwartete man einen Schlag von oben kam ein Tritt von hinten. Erwartete man einen Tritt von hinten kam ein Biss ins Bein. Die Art wie sie sich bewegte hatte er noch nie gesehen. Kein Wunder das Cynolycus dermaßen von ihr beeindruckt gewesen war. Sie war beeindruckend.
Vor ihm stehend, legte sie den Kopf erst nach rechts, dann nach links und griff dabei mit der linken nach dem Geschenk, während sie eine leichte Bewegung nach hinten machte. Immer bereit angefallen zu werden.
Sie warf einen Blick auf die Opfergabe, strich mit einer ihrer Hände über die Klinge und klopfte auf das Metall. Dann grinste sie und nickte ihm zu. Warf das Geschenk zu einer der anderen Gestalten - dem Mann mit dem Hirschgeweih - hinüber der es auffing und sich seinerseits interessiert ansah.
Ihre Stimme erinnerte an eine Drossel, auch wenn man Reste der ursprünglichen Stimme immer wieder hindurchhörte: "Grüße, Brimir, aus Sturmrufers Linie. Bringst du Neuigkeiten von Cynolycus und Penthesilea? Wir haben schon ziemlich lange nichts mehr von ihnen gehört. Geht es ihnen gut?" die Tatsache das er Cynolycus besiegt hatte führte zu anerkennenden Nicken rechts und links. Und auch Ninurta-Sha schien etwas mehr Raum zwischen sich und Brimir lassend. Ein größeres Kompliment hätte sie ihm nicht machen können.
Es war das Zweite Mal, seitdem er Genua betreten hatte und das erste Mal, seitdem sein Bruder verschwunden war, dass Brimir sich wirklich verstanden fühlte... ausnahmslos sicher auf dem Parkett, auf dem dieser Tanz hier stattfand. Selbst Acacia schaffte es nicht ihm solche Sicherheit zu schenken, wenn sie miteinander sprachen. Diese nonverbale Kommunikation war fühlte sich so vertraut an. Es waren keine Worte zwischen ihnen notwendig, um deutlich zu machen, dass hier gegenseitiger Respekt herrschte. Auch gab es keinen Zweifel darüber, dass Brimir dieses Geschenk verstand... und sich geehrt fühlte. Die Sprache, die hier herrschte war... Instikt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und so vergingen Stunden in dennen Informationen ausgetauscht und Geschichten erzählt wurden. Sie schmiedeten Pläne für das, was auf Brimir zukommen würde. Ebenso trat Brimir mit seiner Bitte an die Ahnin heran, wegen der er die Mühe überhaupt auf sich genommen hat. Doch da schüttelte die Spinne den Kopf. "Ich kann dir das nicht geben, was du suchst, außer als Lohn für eine wirklich große Jagd, wie die, die dir bevorsteht. Aber ich lehre dich etwas Anderes, was dir helfen wird. Wenn du deine Jagd überlebst, finde mich in meinen anderen Unterschlüpfen. Dann werde ich dir das beibringen, was dein Herz so ersehnt."