[1046] Des Schäfers liebster Zeitvertreib [Angelique, Davide]

[Davide]

Sie waren einander ein paar Mal begegnet, wenn Angelique zu einer Stippvisite den Wachturm besuchte. Sie hatten Neuigkeiten ausgetauscht und Davide hatte ihr von den Fortschritten berichtet die Iliano machte. Der Junge hatte Talent und Willen. Und er machte sich gut. Sehr gut sogar.
Als sie heute Nacht den Hohlweg hinauf ging kam er ihr entgegen. In letzter Zeit immer ohne Assunta die sind sein ständiger Begleiter war. Aber im Moment war es sicherer für die Herde sie bei den Schafen zu lassen. In der Hand hielt er ein gefaltetes Bündel.
"Ciao Angelique. H... hast du es eilig? Oder ha... hast du ein p... paar Minuten Zeit für m... mich?", begrüßte er sie mit einem Lächeln auf den Lippen. In ihrer Nähe hatte er nicht das Gefühl jedes Wort überdenken zu müssen. Und das konnte man ihm ansehen.

[Angelique]

"Auch dir Schiavo! Eine wunderschöne Nacht für einen Spaziergang, nicht wahr?"

Sie lächelte fröhlich und man sah ihr die Last der Jahre nicht an, sondern konnte sie mit einem Kind verwechseln, wären nicht die bleiche Haut und die unheimlichen Augen, die selten zu blinzeln schienen.

"Für dich habe ich immer Zeit, Davide. Wie kann ich dir helfen? Ich hoffe, dein Lehrling macht sich gut."

[Davide]

"Oh, er m... macht sich sehr g... gut. Er ist ein f... fleißiger Schüler. Ich b... bin sehr zufrieden.", antwortete Davide. Das war keine Schmeichelei in ihre Richtung, weil sie ihn ausgewählt hatte. Iliano gab wirklich sein Bestes und Davide wusste das zu schätzen.
"Ich h... hab etwas für dich."
Er streckte ihr das Bündel entgegen. Als sie es entfaltete hielt sie zwei schlichte, graue Wollbeinlinge in den Händen. Er zählte selten die Nächte die er an etwas arbeitete. Es war sein Zeitvertreib wenn es keine wichtigeren Pflichten gab. Und in diesen Nächten war Wachsamkeit seine oberste Pflicht. Trotzdem waren sie irgendwann fertig geworden.

[Angelique]

Angelique bekam große Augen, als sie die Wollbeinlinge entfaltete.
"Für mich?", fragte das Mädchen erstaunt.

"Gestricke!", meinte es ehrfürchtig. "Die geheime Kunst der germanischen Damen! Bei uns im Dorf konnte das damals keiner. Es wird mit Nadeln hergestellt, nicht wahr?"
Sie lachte hell. "Und selbst wenn, ich hätte es nie lernen können. Ich war furchtbar ungeschickt im Heimwerk der Frauen."

Angelique strahlte Davide an. "Oh, danke schön!"

Sie zog sie sogleich über die schmalen Füße und schlanken Beine. "Oh, sie sind so schön und warm! Danke noch einmal! Vielen Dank!"

[Davide]

Die Freude mit der Angelique sein Geschenk entgegen nahm entlockte Davide ein Lächeln. Es war schön sie so strahlen zu sehen. Denn das war noch seltener geworden in dieser dunklen Zeit.
Er nickte bestätigend.
"Ich h... habs von meinem V... Vater gelernt. Und d... der hats von einer M... Magd aus dem Dorf. Sein V... Vater hats noch mit einer Na... Nadel gemacht."
Wolle in kleinem Rahmen auch zu verarbeiten gehörte zum Handwerk dazu und die Männer waren stolz darauf, auch wenn Spinnen, Weben und derlei Dinge sonst den Frauen überlassen war.
"Ich k... kanns dir zeigen w... wenn du möchtest."
Er hielt sich noch immer nicht für einen guten Lehrer, auch wenn Iliano beständig versuchte ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Doch so schwierig war das ganze nicht. Er hatte es ja schließlich auch irgendwie gelernt.

[Angelique]

Angelique war für einen Moment sprachlos. Etwas lernen, wo es doch immer sie war, zu der die anderen kamen, um belehrt zu werden!

Dann nickte sie vehement. "Oh, ja, oh, ja", meinte sie begeistert. "Dann hätten meine Hände was zu tun, wenn ich ein Buch lese! Sie sind immer so nutzlos und machen nur Unsinn, wenn ich nicht aufpasse und sie sich langweilen."

[Davide]

Der Schäfer schmunzelte. Manchmal war es schwer in dem jungen Mädchen die Unsterbliche zu erkennen. Sie wirkte so unbedarft und begeisterungsfähig. Und doch war er auch ihrer ernsten, erfahrenen Seite oft genug begegnet um zu wissen dass es sie gab. Er konnte sie ihn ihren Augen sehen.
"W... wir können gleich anf... fangen wenn du Zeit hast.", schlug er vor, ließ sie zugleich aber auch wissen dass es ein später geben würden wenn es ihr jetzt ungelegen kam.
"Ich h... habs immer bedauert nicht l... lesen zu können.", fuhr er fort.
"Aber bei uns im Dorf konnte das damals keiner.", wiederholte er exakt ihre Worte. Ein Funke von Humor der ab und an mal aufblitzte wenn er in Gesellschaft war in der er sich wohl fühlte.

[Angelique]

Angelique musste lachen bei dem kleinen Scherz.

"Ich kann es dir beibringen, während ich das Gestricke lerne."

Sie tat so, als flüstere sie ihm ein Geheimnis hinter vorgehaltener Hand zu. "Es ist in Wahrheit gar nicht schwer. Es gibt gar nicht so viele Buchstaben.

Und weiß man erst die, dann weiß man jeden Text zu lesen. Der Rest ist Übung. Und kann man erst die Buchstaben lesen, dann kann man sie auch nachmalen. Du wirst sehen, das wird einfach.
Ich verspreche dir, heute Nacht noch kannst du deinen Namen schreiben."

[Davide]

"Oh, w... wirklich nicht? Es sieht a... aus als ob es v... viele wären.", antwortete Davide ehrlich überrascht. Natürlich war ihm klar dass es nicht unendlich viele verschiedene Zeichen gab. Einige wiederholten sich sogar recht häufig. Aber alles in allem war es fast unmöglich ein Gefühl dafür zu bekommen wie viele es wohl wirklich sein mochten.
So wie Angelique darüber sprach klang es so einfach. Für ihn fühlte sich Lesen und Schreiben eher wie ein großes, unlösbares Mysterium an. Denn anders als bei anderen Dingen fand er daran so garkeinen Ansatzpunkt es zu durchschauen.

Er ging voraus und führte sie vom Hohlweg weg zur Weide hinüber wo er es seinen Mantel im Gras ausgebreitet hatte. Dort lagen auch sein Bündel und sein Stab.
"S... setz dich.", lud er sie ein.
Assunta die in einiger Entfernung mit halbgeschlossenen Augen gedöst hatte erhob sich und kam mit pendelnder Rute herüber um das Mädchen zu begrüßen.

[Angelique]

Angelique setzte sich und man konnte sehen, wie sie ihre kleinen Zehen in den Beinlingen eifrig bewegte.
Sie holte das kleine Wachstäfelchen und den Griffel hervor, ohne die sie wohl selten anzutreffen war.

Sie begann sofort mit dem Unterricht, indem sie den Namen Davides in lateinischen Großbuchstaben aufmalte und jeden einzelnen erklärte

"D wie Davide.
A wie Arash
V wie Vergonzo
I wie Iulia
D wieder wie Davide
und E wie Euphemistia
D-A-V-I-D-E"

Sie begrüßte Assunta derweil mit Kraulen und Umarmen und hatte ein bisschen Trockenfleisch für sie dabei. "Genau, A wie Assunta!", meinte sie lachend, als sie mit der riesigen Hündin tollte.