[Fluff] Veneratio [Giada]
Verfasst: So 4. Jul 2021, 13:46
Was ist das Schicksal? Ein feines Geflecht aus “hätte sein können”, “sollte geschehen”, “hoffentlich”, “vielleicht”. Wenn daraus harte, unabwendbare Gegenwart wird, erscheint es unabwendbar.
Doch in Wahrheit ist dieses Gespinst leicht, seine Fäden unendlich fein verwoben und schon eine winzige, zarte Verschiebung, Verflechtung und Veränderung in ihnen setzt sich in Kaskaden fort. Vom Kleinsten bis ins Größte kann sich so ein vollständig anderes Muster der Gegenwart ergeben.
Diese Nacht war kalt und dunkel, neumondschwarz. Giada und ihre Begleiterin hatten sich in wetterfeste, dicke Mäntel gehüllt und die kleine Laterne, die ihre Kammerdienerin trug, flackerte im Wind und Regen. Doch Giada scheute weder den Regen noch die Kälte. Beides erschien wie eine Läuterung durch die Elemente, eine Nachttaufe zu Beginn ihres Werkes.
Der erste Weg der beiden Frauen führte sie nach San Giorgio. Giada hatte eine Spende mitgebracht, die ihre Dienerin einem Kirchendiener in die Hände gab, wenn es auch in der Nacht noch jemanden auf den Beinen gab, der die Kerzen am Brennen hielt oder zur Mitternacht die Glocke läutete.
Sie selbst kniete in der Kirche nieder, um zu beten. Gewohnte Worte, tausendfach gesprochene Gebete, die Formeln für den Geist geworden waren. In ihnen glitt ihr Verstand durch feste Formen und fand zu der Ruhe vor Gott und der Welt. Erst aus dieser Ruhe heraus wurden die Sinne des Geistes fein genug, dass sie den Fluss der Mächte und Kräfte in der Welt erfahren konnten. Und dies war, was Giada in dieser schwarzen Nacht benötigte.
Von nun an schwieg sie, denn jedes Wort hätte diese Stille nur gestört, hätte das Heilige besudelt. So war es später, auf dem Weg hinaus aus der Stadt, auch ihre Dienerin, die das Gespräch mit den Wächtern übernahm, die den Männern einige Münzen und gute Worte zudachte und so den Weg für ihre Herrin bereitete.
Vor der Stadt folgten die beiden eine Weile der Straße, bis die Gegend ein wenig wilder wurde, weniger geprägt vom Treiben der Stadt und der Menschen. Erst hier traten sie zur Seite und Giada fand einen ruhigen Platz an einem Hang, geschützt von einigem Gesträuch und regennassen Felsen. Hier schritt sie einen Kreis ab, der groß genug war, dass sie ihre Arme ausbreiten und doch nicht seine Ränder zugleich hätte erreichen können: Groß genug, dass seine Grenze ihr Schutz gewähren würde, wenn sie ihren Geist öffnete.
Was in dieser Nacht vor ihr lag, war keine der Kräfte des Blutes wie sie in den Dreizehn Linien von Generation zu Generation hinab gereicht wurden. Es war ein Ritus der Mächte dieser Welt wie ihn auch die Sterblichen wohl zu tun vermochten: Die Heiligen und Teufel, die Priester, die Magier, die Hexen oder Seher. Und so begann er auch mit dieser Welt, mit dem Kreis auf der bloßen Erde, den Giada mit bloßen Füßen abging und dann mit Wasser aus dem Meer nachzeichnete, denn das Wasser schwemmte die Kräfte fort, die an diesem Flecken Erde als Echo von Vergangenem klebten, und das Salz wurde zum Wall gegen neuerliche Unreinheit solange nur der Kreis erhalten blieb.
Erst dann ließ sie sich dort im Kreis nieder, ehrfürchtig auf Knien und begleitet von den Gebeten, die weiter und weiter in ihren Gedanken klangen. Sie hob ein kleines Holzplättchen aus einer Tasche an ihrer Seite, gemeinsam mit einem splitter-scharfem Messer aus schwarzem Stein. So ging eine der Lehren des Zosimus von Panopolis, des Träumers, und aus den Fragmenten der Tabula Smaragdina, deren in der gelehrten Welt verstreute Zeilen den Aufbau der Welt enthielten: Eisen störte den Fluss der Kräfte, Blei hielt ihn auf, Stein wie dieser aber war der Atem der Erde.
Erst jetzt hob sie wieder ihre Stimme zu Worten des Gebetes. Und was sie sagte, war eine Veneratio, die Verehrung eines der Heiligen, dessen Schutz und Macht sie in dieser Nacht anrief:
“Geheiligt bist du, Johannes Chrysostomos,
vom Herrlichen gesegnet mit der goldenen Zunge
vom Himmlischen ausgesandt in die Welt mit dem Wort.”
Sie begann im langsamen Rhythmus ihrer Worte das Messer an das Holzplättchen anzusetzen: Schnitt für Schnitt, halbrund gefächert, immer und immer wieder. Sie wiederholte ihre Worte Schnitt für Schnitt. Mehr und mehr nahm der Talisman in ihren Händen die Form eines Bienenkorbes an, des Zeichens des großen Bischofs und Heiligen Patriarchen Chrysostomos, der Goldzunge.
“Gewähre mir deinen Segen und Schutz für meine Taten”, bat die Knieende.
“Gewähre mir in diesem Talisman mit deinem Zeichen einen Abglanz deiner güldenen Rede”, beschwor sie die Gunst des Heiligen auf ihr Werk. Dies war der Moment, in welchem im Ritus das Amulett zum vollen Mond angehoben und im Licht der Welt gebadet wurde, so dass die Kraft sich in den geschnitzten Linien fing. Dies war der Moment im Ritus, in welchem die Hexe mit ihrer Kraft ihren Wunsch und den Fluss der Mächte verband, so dass sie die Fäden des Schicksal ein winziges Stück weit verschob.
Doch Giada war keine Sterbliche und dies war keine Nacht unter dem vollen Mond. Die Nacht war tiefschwarz und sie war tot, seit bald einem Jahrhundert wohl. Und so konnte sie nicht die Kräfte der lebendigen Welt mit ihrer eigenen leiten. Stattdessen zog sie das schwarze Messer über ihre bloße Haut. Denn was sie besaß, war eine andere Macht, verankert im Blut, uralt wie der Fluch darin. Gestohlenes Leben und gestohlene Macht ergossen sich über den Talisman, ihr Werk.
Sie schloss die Faust darum während ihr Blut seine Macht entfaltete.
“Wenn ich mit Gianluca Marchetti, dem Schwager der Embriaci, spreche, dann soll mein Wort so süß und golden sein wie das Eure”, flüsterte sie der Macht des Chrysostomos zu.
“Und wenn mein Werk getan ist, dann soll er sich mir zuwenden so wie einst die Scharen und Scharen von Gläubigen und Ungläubigen sich dem Licht Eurer Rede zuwandten.”
Die Hexe konnte spüren, wie Blut und Holz in ihrer Hand bebten, wie Mächte sich entfalteten. Es war als hinge ihre Seele nur eine Handbreit über einem urgewaltigen Strom und sie spürte, wie diese Gewalt an ihr riss und zehrte. Wie leicht es wäre, nur ein Stück weit tiefer hinab zu sinken und sich für immer zu verlieren! Wie glorreich es wäre, mit beiden Händen aus dem Vollen dieses Stromes zu schöpfen.
Doch Giada hielt der Versuchung stand, mit geballter Faust und eisernem Willen. Selbst ein winziger Schritt weiter, selbst eine Handbreit würde sie davon reißen und ihren Geist zerstreuen wie Sandkörner und Asche im Wind.
Lange kniete sie so, auch als der Moment schon verflogen war. Das Rauschen und Reißen umfing sie und sie musste auf Knien kauern bis ihr Geist langsam wieder zur Stille fand. Erst stockend, dann in alter, tausend- und abertausendfach getaner Wiederholung flossen die Worte ihrer Gebete durch ihren Geist bis die Welt wieder still wurde, neumondschwarz, kalt und verregnet.
Es ging bereits auf den Morgen zu, als die beiden Frauen wieder in die Stadt zurückkehrten. Abermals wechselten Münzen den Besitzer, wurden geflüsterte Beteuerungen ausgesprochen. Ein geheimes Stelldichein bei Nacht, irgendwo da draußen, solche Dinge mussten wohl keinen angehen?
Giada achtete nicht auf die Worte ihrer Dienerin. Sie ging mit verhülltem Haupt und rang um die Stille in ihrer Seele. Es würde dauern bis diese wieder gänzlich rein war.
Doch in Wahrheit ist dieses Gespinst leicht, seine Fäden unendlich fein verwoben und schon eine winzige, zarte Verschiebung, Verflechtung und Veränderung in ihnen setzt sich in Kaskaden fort. Vom Kleinsten bis ins Größte kann sich so ein vollständig anderes Muster der Gegenwart ergeben.
Diese Nacht war kalt und dunkel, neumondschwarz. Giada und ihre Begleiterin hatten sich in wetterfeste, dicke Mäntel gehüllt und die kleine Laterne, die ihre Kammerdienerin trug, flackerte im Wind und Regen. Doch Giada scheute weder den Regen noch die Kälte. Beides erschien wie eine Läuterung durch die Elemente, eine Nachttaufe zu Beginn ihres Werkes.
Der erste Weg der beiden Frauen führte sie nach San Giorgio. Giada hatte eine Spende mitgebracht, die ihre Dienerin einem Kirchendiener in die Hände gab, wenn es auch in der Nacht noch jemanden auf den Beinen gab, der die Kerzen am Brennen hielt oder zur Mitternacht die Glocke läutete.
Sie selbst kniete in der Kirche nieder, um zu beten. Gewohnte Worte, tausendfach gesprochene Gebete, die Formeln für den Geist geworden waren. In ihnen glitt ihr Verstand durch feste Formen und fand zu der Ruhe vor Gott und der Welt. Erst aus dieser Ruhe heraus wurden die Sinne des Geistes fein genug, dass sie den Fluss der Mächte und Kräfte in der Welt erfahren konnten. Und dies war, was Giada in dieser schwarzen Nacht benötigte.
Von nun an schwieg sie, denn jedes Wort hätte diese Stille nur gestört, hätte das Heilige besudelt. So war es später, auf dem Weg hinaus aus der Stadt, auch ihre Dienerin, die das Gespräch mit den Wächtern übernahm, die den Männern einige Münzen und gute Worte zudachte und so den Weg für ihre Herrin bereitete.
Vor der Stadt folgten die beiden eine Weile der Straße, bis die Gegend ein wenig wilder wurde, weniger geprägt vom Treiben der Stadt und der Menschen. Erst hier traten sie zur Seite und Giada fand einen ruhigen Platz an einem Hang, geschützt von einigem Gesträuch und regennassen Felsen. Hier schritt sie einen Kreis ab, der groß genug war, dass sie ihre Arme ausbreiten und doch nicht seine Ränder zugleich hätte erreichen können: Groß genug, dass seine Grenze ihr Schutz gewähren würde, wenn sie ihren Geist öffnete.
Was in dieser Nacht vor ihr lag, war keine der Kräfte des Blutes wie sie in den Dreizehn Linien von Generation zu Generation hinab gereicht wurden. Es war ein Ritus der Mächte dieser Welt wie ihn auch die Sterblichen wohl zu tun vermochten: Die Heiligen und Teufel, die Priester, die Magier, die Hexen oder Seher. Und so begann er auch mit dieser Welt, mit dem Kreis auf der bloßen Erde, den Giada mit bloßen Füßen abging und dann mit Wasser aus dem Meer nachzeichnete, denn das Wasser schwemmte die Kräfte fort, die an diesem Flecken Erde als Echo von Vergangenem klebten, und das Salz wurde zum Wall gegen neuerliche Unreinheit solange nur der Kreis erhalten blieb.
Erst dann ließ sie sich dort im Kreis nieder, ehrfürchtig auf Knien und begleitet von den Gebeten, die weiter und weiter in ihren Gedanken klangen. Sie hob ein kleines Holzplättchen aus einer Tasche an ihrer Seite, gemeinsam mit einem splitter-scharfem Messer aus schwarzem Stein. So ging eine der Lehren des Zosimus von Panopolis, des Träumers, und aus den Fragmenten der Tabula Smaragdina, deren in der gelehrten Welt verstreute Zeilen den Aufbau der Welt enthielten: Eisen störte den Fluss der Kräfte, Blei hielt ihn auf, Stein wie dieser aber war der Atem der Erde.
Erst jetzt hob sie wieder ihre Stimme zu Worten des Gebetes. Und was sie sagte, war eine Veneratio, die Verehrung eines der Heiligen, dessen Schutz und Macht sie in dieser Nacht anrief:
“Geheiligt bist du, Johannes Chrysostomos,
vom Herrlichen gesegnet mit der goldenen Zunge
vom Himmlischen ausgesandt in die Welt mit dem Wort.”
Sie begann im langsamen Rhythmus ihrer Worte das Messer an das Holzplättchen anzusetzen: Schnitt für Schnitt, halbrund gefächert, immer und immer wieder. Sie wiederholte ihre Worte Schnitt für Schnitt. Mehr und mehr nahm der Talisman in ihren Händen die Form eines Bienenkorbes an, des Zeichens des großen Bischofs und Heiligen Patriarchen Chrysostomos, der Goldzunge.
“Gewähre mir deinen Segen und Schutz für meine Taten”, bat die Knieende.
“Gewähre mir in diesem Talisman mit deinem Zeichen einen Abglanz deiner güldenen Rede”, beschwor sie die Gunst des Heiligen auf ihr Werk. Dies war der Moment, in welchem im Ritus das Amulett zum vollen Mond angehoben und im Licht der Welt gebadet wurde, so dass die Kraft sich in den geschnitzten Linien fing. Dies war der Moment im Ritus, in welchem die Hexe mit ihrer Kraft ihren Wunsch und den Fluss der Mächte verband, so dass sie die Fäden des Schicksal ein winziges Stück weit verschob.
Doch Giada war keine Sterbliche und dies war keine Nacht unter dem vollen Mond. Die Nacht war tiefschwarz und sie war tot, seit bald einem Jahrhundert wohl. Und so konnte sie nicht die Kräfte der lebendigen Welt mit ihrer eigenen leiten. Stattdessen zog sie das schwarze Messer über ihre bloße Haut. Denn was sie besaß, war eine andere Macht, verankert im Blut, uralt wie der Fluch darin. Gestohlenes Leben und gestohlene Macht ergossen sich über den Talisman, ihr Werk.
Sie schloss die Faust darum während ihr Blut seine Macht entfaltete.
“Wenn ich mit Gianluca Marchetti, dem Schwager der Embriaci, spreche, dann soll mein Wort so süß und golden sein wie das Eure”, flüsterte sie der Macht des Chrysostomos zu.
“Und wenn mein Werk getan ist, dann soll er sich mir zuwenden so wie einst die Scharen und Scharen von Gläubigen und Ungläubigen sich dem Licht Eurer Rede zuwandten.”
Die Hexe konnte spüren, wie Blut und Holz in ihrer Hand bebten, wie Mächte sich entfalteten. Es war als hinge ihre Seele nur eine Handbreit über einem urgewaltigen Strom und sie spürte, wie diese Gewalt an ihr riss und zehrte. Wie leicht es wäre, nur ein Stück weit tiefer hinab zu sinken und sich für immer zu verlieren! Wie glorreich es wäre, mit beiden Händen aus dem Vollen dieses Stromes zu schöpfen.
Doch Giada hielt der Versuchung stand, mit geballter Faust und eisernem Willen. Selbst ein winziger Schritt weiter, selbst eine Handbreit würde sie davon reißen und ihren Geist zerstreuen wie Sandkörner und Asche im Wind.
Lange kniete sie so, auch als der Moment schon verflogen war. Das Rauschen und Reißen umfing sie und sie musste auf Knien kauern bis ihr Geist langsam wieder zur Stille fand. Erst stockend, dann in alter, tausend- und abertausendfach getaner Wiederholung flossen die Worte ihrer Gebete durch ihren Geist bis die Welt wieder still wurde, neumondschwarz, kalt und verregnet.
Es ging bereits auf den Morgen zu, als die beiden Frauen wieder in die Stadt zurückkehrten. Abermals wechselten Münzen den Besitzer, wurden geflüsterte Beteuerungen ausgesprochen. Ein geheimes Stelldichein bei Nacht, irgendwo da draußen, solche Dinge mussten wohl keinen angehen?
Giada achtete nicht auf die Worte ihrer Dienerin. Sie ging mit verhülltem Haupt und rang um die Stille in ihrer Seele. Es würde dauern bis diese wieder gänzlich rein war.
Spoiler!