[1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

[August '21]
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Giada Salvaza Rossi
Lasombra
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Untermalung

Die Lasombra schien fasziniert von den Erläuterungen. Hier und da runzelte die Stirn, neigte den Kopf zur Seite, musste die Worte wohl auch für sich übersetzen und einordnen.

“Ein gesponnenes Netz, sagt ihr. Ein dunkler Fluss vielleicht, auf welchem ein einzelner treiben kann, von seinem Anfang bis zu seinem Ende und der Auflösung. Er müsste nicht jeden Halt erkennen und bemerken, doch würde sie alle passieren. Und gegen den Strom auch nur zu verharren, ist schwer, nicht im natürlichen Lauf des Flusses. Sich gegen den Strom zu stemmen, scheint schier unmöglich.”

Sie tippte sich an ihr Kinn. “Ich habe nie gewagt, mit denen vom Clan des Todes über diese Dinge zu sprechen. Sie hüten solches Wissen mit großer Eifersucht und gegen eine von meinem Stand und Namen auch mit großem Mißtrauen. Euch jedoch, mit Eurem Stand und dieser Überzeugung, von der Ihr sprecht, wenn Ihr sie glaubhaft machen könnt und wahrhaftig darin seid, kann Euch wohl Tore öffnen… .”
Behutsam ließ sie sich auf einem der Sitze nieder und lud Jacques ebenso dazu ein, nach seinem Wunsch.

“Ich hörte davon, dass es eine ähnliche ...Überzeugung auch unter den meinen gibt. Eine Art des dunklen Gelehrtentums, ein Dasein im Untode, welches sich ganz und gar dem Studium des Abgrunds verschreibt. Der Ahnherr meiner eigenen Blutslinie, der mächtige Boukephos, soll diesen Weg gegangen sein oder ihn doch wenigstens anderen vorgezeichnet haben… .”
Ihre eine Hand hielt mittlerweile den Rosenkranz, der sonst einfach an ihrer Seite hing. Wohl einfach aus hundert- und tausendfach erprobter Gewohnheit heraus fuhren ihre Finger seine beinernen, hölzernen und metallenen Perlen entlang.

“Ich will mich diesen Studien widmen, denn die Welt erscheint mir grell und laut, sinnlos und widersinnig, eine ewige, groteske Wiederholung derselben Schau. Ich kann mich dem nicht entziehen, aber ich kann mein Dasein einem Studium widmen, welches tiefer geht und weiter reicht. Und so gehe ich auf einen Scheideweg zu, der mir im Blut zu liegen scheint.”

Sie sah Jacques ernst an. Die Offenheit, mit der sie sprach, war ungewöhnlich, doch das Treffen der beiden war es auch.
“Es ist ein quälend langsamer Marsch”, erklärte sie. “Doch ich glaube, dass Ihr und ich darauf für eine Weile Weggefährten sein könnten.”
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Jacques Benoît
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Der Nosferatu schenkte ihr ein langsames Nicken und nahm den angebotenen Platz an während er offenkundig über ihre Worte nachdachte.

Es verging ein kurzer Moment, bis er sprach, doch was er sagte hatte eine gewisse Gravitas, die seine bisherige Erscheinung beinahe aufgesetzt-weltlich erscheinen ließ: "Keiner kann sich dieser Welt entziehen, mit all ihren hässlichen Fratzen und verkommenen Seelen. Oder wie es Knochenmeister Garund einst sagte: Nur der Schnitter und alles um ihn und jenseits von ihm bringt die Stille im Innern und nur durch sie erfahren wir die Reinheit der Gedanken fernab des plumpen Getöses das aus menschlichen Geistern quillt." Jacques legte die Hände in den Schoß. "Ich bin kein sonders gebildeter Mann. Ich kann weder Laute malen noch weiß ich um viele Sprachen. Doch die Sprache des Todes und seiner Freunde ist eh'r was zum Fühlen und auch wenn das geschrieben Wort mir bislang verwehrt blieb, so kann ich vor allem erzählen - das was ich gehört und das was ich erlebt. Fabeln aus der Welt des Verwesens. Poesie aus dem Grabe. Geschichten von Geistern und Gespinsten. Und Theorie von dem was hinter dem Ende eines jeden Weges liegt." Der Nosferatu sah die Lasombra ernst an. "Ich folge diesen Wegen schon eine Weil' und bin um einen Weggefährten froh, denn Austausch ist's was uns am meisten von den Toten unterscheidet. Austausch und Erkenntnis."

Seine Züge wurden ein wenig freundlicher, wobei sein Blick nichts von seiner Ernsthaftigkeit verlor. "Was die Geheimnisse der Todeskinder angeht, so zeigen sich zumindest diejenigen offenherzig, die den gleichen Wegen und Gedanken folgen wie ich selbst. Das liegt in der Natur der Sache - der Tod und seine Erschließung oder gar Erforschung, das ist ein zu gewicht'ges Stück um es von denen fernzuhalten die wahrhaft Kunde zu ihm suchen. Und doch etwas, was vor den Augen der Trivialen zu verstecken ist. Und dieser Abgrund von dem ihr sprecht, der wohl jenseits der Welt der Seelen liegt wie es diese jenseits der Welt des Fleisches tut... es ist Verwandt, auch wenn's nicht gleich ist. Es ist der selbe Gedanke, nur anders gedacht, könnte man meinen. In seinem Kern liegt ein Prinzip, so wie im Tode eines liegt." Er nickte knapp. "Es ist ein langer Marsch, doch der wird auch nur gegangen in dem man einen Fuß vor den and'ren setzt. Und manchmal kann die Hilf' die sich Gelehrte bieten furchtbar weltlich sein - wie eine Ablenkung zu entfernen, eine Quelle - buchstäblich handfest - zu beschaffen..." Die spinnenartigen Finger beschrieben eine kurze runde Bewegung. "...oder als Spieglein die Gedanken laut vor auszusprechen. All dieses können Weggefährten bieten. Dies und mehr, so wie ich weiß. Und in uns'rem Fall, wär's mir 'ne Freude, Herrin Rossi. Es ist ein selten Umstand - alles das. Selten und kostbar."
Ich kann nicht, solange sie noch atmen.
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Giada Salvaza Rossi
Lasombra
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

“Dann wollen wir es so halten”, beschloss Giada. Für einen Moment schwieg sie, überdachte vielleicht die Lage, in der sie sich nun befanden.
“Im Leben hätte ich mit Euch wohl niemals verkehrt”, sagte sie dann. “Euer Blick auf die Dinge, so wie er aus Euren Worten klingt, ist ungewöhnlich für mich. Ich kenne das gelehrte Studium durch die Lehren eines Mentors und seiner Diener. Ich kenne das Studium von Schriften und bin nicht zuletzt darum bestrebt, mit mehr Sprachen und Schriften mehr Schlüssel in der Hand zu halten.”
“Doch Ihr - Ihr erprobt die Dinge selbst? Knochen und Fleisch? Doch wie seht und erkennt Ihr jene Schwelle zwischen den greifbaren, verrottenden Dingen dieser Welt und den ungreifbaren?”
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Jacques Benoît
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Jacques nickte. "Der Tod selbst ist mein Lehrmeister. Wiederholung und Beobachtung. Den richtigen Moment abpassen kann genauso wichtig sein wie seine eigenen Schlüsse in Frage zu stellen. Rätsel lösen. Ich mag keine Laute malen können, aber ich kann Skizzen auf Wachstafeln kratzen und manchmal muss das reichen. Nicht viel Platz auf diesen Dingern, muss mir gut überlegen was es aufzuheben lohnt." Der Nosferatu zuckte mit den Schultern. "Die Hände und Augen erinnern sich zuweilen besser als mein Geist es tut. Aber ich spüre das nahende Ende mehr als ich es wirklich sehe. Oder reichen kann. Wobei auch das in meinem Beruf gängig ist, von Zeit zu Zeit. Das Ende ist in vielen Fällen unübersehbar." Ein finsteres Lächeln breitete sich auf den Lippen des Nosferatu aus. "Aber das was der Schnitter flüstert, das bekommen nicht alle mit, nur die die ganz genau zuhören. Schleier werden dünner, bevor er kommt. Wie Haut die man immer weiter schabt. Und irgendwann greift eine Hand von der einen Seite in die and're."

Er wog ein wenig mit dem Kopf. "Es wird kälter, wo gestorben wird. Nicht immer so sehr, daß Raureif sich bildet, doch oft genug. Pflanzen vergehen. Und manchmal seh' ich Holz und Stoff verrotten noch bevor die Seel' aus dem Körper bricht. Für einen kurzen Augenblick, für den man schielen muss. Und seinem Blut zuhören. Trommeln helfen dabei manchmal auch, wenn man die Stille und Zeit hat jemandem beim Sterben zuzusehen, zumindest. Ich hab lang zugeschaut. Vielen. So lang, bis ich irgendwann wusst' wann das Herz zu schlagen aufhört. Und daß es nur noch wenige Augenblicke dauert ab da. Der letzte Atemzug ist in Wahrheit gar keiner, es ist der Körper, der die Seel' aushustet - und je lauter er ist, desto schwerer wiegt sie. Und desto langsamer verschwindet sie in dem Ort ohne Namen. Die wahrhaft geplagten schaffen es noch nicht einmal über die Schwelle hin, heißt es. Verfluchte Orte entsteh'n so, wie auch beseelte Dinge. Der Ring einer ermordeten Ehegattin. Die Axt eines verschwundenen Holzfällers. Dinge von Bedeutung. Wie Kleber aus dem Harz der eigenen Knochen. Es sind viele, endlos viele kleine Zeichen. Wie Omen und Fußabdrücke, nur kälter."

Der Nosferatu legte die Hände zusammen. "Kennt ihr jemanden, der unsereins des Nächtens im Schreiben unterrichten würde? Oder wärt ihr selbst gar gewillt dies zu tun dann und wann, während wir im Zuge dessen was ich weiß darniederschreiben und so ein Stück für Eure Bibliothek entsteht?"
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Die Aufmerksamkeit der Lasombra schien ein eigenes, schweres Gewicht zu entwickeln, so wie sie auf Jacques lag als dieser von seinen Erfahrungen sprach. Sie nickte einmal, als er davon sprach wie die Seele den Körper verließ. Ein weiteres Mal, als er von verfluchten Orten sprach. Andere Male runzelte sie die Stirn, konzentriert und doch nicht ganz verstehend. Doch sie unterbrach ihn nicht und sie zweifelte auch seine Worte nicht an.

“Ich kann es Euch lehren, doch der Anfang ist mühsam und stockend. Dafür sollte ich Euch meine Dienerin geben, die die Facetten der Nacht kennen lernen muss und die zugleich das Lesen und Schreiben auf Latein ebensogut beherrscht wie ich. Ihr könnt dafür hierher kommen, denn dies Haus hat eine Schreibstube. Oder ich sende sie zu Euch und Ihr nehmt sie unter Euren Schutz solange sie in Eurer Obhut ist.”

“Sobald Ihr lesen könnt, kann ich Euch Schriften geben, um Euch zu schulen. Teile der Bibel, einfache Schriften wie Briefe der reichen Kaufleute, Reiseberichte. So wächst das Verständnis und von da an ist es allein eine Frage der Übung und Gelehrigkeit.”

“Im Gegenzug könnt Ihr mir zeigen, wovon Ihr sprecht. Ich suche nach jenem Moment, an dem das ...Geflecht, das gesponnene Tuch dieser Welt und Wirklichkeit dünn wird. Wenn es bricht. Ich suche nicht den Schritt in die Sphäre der scheidenden Seelen und der Toten, wie Ihr Euch denken könnt. Doch ich glaube wohl, dass es hier eine Ähnlichkeit geben muss und dass ich erst begonnen habe, zu verstehen.”
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Jacques Benoît
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

"Dann sei es so beschlossen.", nickte Jacques mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, die der Abmachung Respekt und Würde zollte. "Ich werde Euch vom Tode und vom Übergang zeigen was ich weiß. Wir werden jedoch nicht mit dem Prozess selbst beginnen, sondern zunächst mit seinen Voraussetzungen. Schließlich müssen wir das Vehikel des Todes erst erspähen, bis wir ihm folgen können. Und erst an der Weggabelung sehen wir, wohin es abbiegt... und wohin nicht."

Jacques spinnenartige Finger machten aufgeregt eine wellenartige Bewegung und etwas blitzte auf in seinen fahlen weißen Augen. "Gern nehme ich das Angebot Eurer Schreibstube an. Und Eurer Dienerin. Wisset, ich selbst bevorzuge es im Dunkeln zu hausen - mein Heim hat keine Schriftstücke die es zu lesen lohnt, so ist es kaum geeignet für das was wir geplant. Und...", machte er eine theatralische Pause, "...einen Boten werde ich Euch hierlassen. Auf das ihr diskret und von aller Augen ungeseh'n nach mir schicken könnt wenn es einen Tod zu beobachten oder ein Leben zu retten gibt, bei Euren Menschleins, sollt' was sein."
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

“Ist das, was Ihr mit Euren Nächten tut? Das Leben stärken, Sterbliche pflegen, ihre Krankheiten heilen? Es klingt wie die Kehrseite Eurer Forschung nach dem Tod, die andere Hälfte des Gesamten.”
Sie neigte den Kopf etwas auf die Seite wie um ihn aus einem anderen Winkel heraus sehen zu können.

“Ich hielt nie viel von den scheinheiligen Beteuerungen einiger unserer Art, dass wir die Menschen unterstützen, lehren oder heilen sollten. Zu oft ist es nur genau das: ein hübscher Schein vor Schlangennestern aus Selbstliebe, Verzweiflung vor der eigenen Hoffnungslosigkeit oder Ohnmacht, manische Geschäftigkeit aus Furcht vor dem eigenen, ewigen Hunger. Doch aus Eurem Winkel betrachtet wirkt es anders.”
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Jacques Benoît
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

Jacques nickte. "Das ist was ich mit meinen Nächten tue. Wenn mein Badergeselle und sein Lehrling etwas nicht heilen können... kann ich das manchmal. Ich bin schon sehr lange mit Körpern zugange, mit lebendigen genauso wie mit toten. Und kaum einer erkennt die Wundfäule rechtzeitig, um den Arm oder das Bein zu entfernen, wenn er nicht die Erfahrung hat. Jeder, der zu mir kommt steht an einer Schwelle - in die eine Richtung geht's zum Schnitter. In die andere zieh' ich ihn und guck' ganz genau was der Schnitter macht. Wen er sich holt, in wen er sich festkrallt und wen er nicht loslässt."

Der Nosferatu richtete seinen Rücken etwas. "Man kann den Tod nicht verstehen, wenn man das Leben nicht versteht. Und man kann uns nicht verstehen, wenn man die Menschen nie verstanden hat. Alles ist ein... Mehr... als das davor genannte. Ihr kennt doch g'wiss die Redensart, daß man nie so sehr am Leben ist wie kurz bevor es endet, nicht wahr? Es hat einen wahren kern, den ich oft bei Todgeweihten schon beobachtet. Sie warfen dem Gleichmacher alles entgegen was sie hatten und hatten mehr als sie glaubten. Natürlich gewinnt die Sense gegen das hohe Gras, aber der Wille ist das, was entscheidet wann das passiert. Und wenn der Wille geht - und warum - ist entscheidend dafür wann oder wie schnell ein Ende naht.", führte er aus. "Ich hatte einst einen Alten in Behandlung. Sein Rücken war gebeugt von harter Arbeit und er hatte unter der Achsel und am Halse Geschwulste unter seiner Haut, die sich von ihm zu nähren schienen. Jahre kämpfte er gegen sie an, stemmte sich mit seinen Freunden und seiner Familie gegen diese Plage, doch eines Tages gab er auf... und war noch in der selben Woche hingeschieden. Nicht weil es schlimmer wurde. Eh'r weil der Leim der seine Seel' am Körper hielt in Zeiten des Verfalls gebröckelt war und fortwehte..."

Er sah wieder auf und Giada direkt in die Augen. "Und wir, wir haben diesen Leim, den Willen noch. So sehr, daß wir an unseren Körpern kleben ohne geh'n zu wollen und das ist wahrlich wundersam, schließt und eröffnet uns das Türen zu dem Reich des Endes. Dieser Leim. Dieser... Wille. Die wenigsten versteh'n woher er sich zu speisen pflegt. Und noch weniger kennen sich und wissen ihn zu füttern, eh'r werden sie vergehen als verstehen. Und das ist, warum ich all die Fragen stelle. Weil alles andere dagegen verblasst, als diese Frage nach dem Ende und der Türe die wir jetzt schon zugeschlagen, doch öffnen können ohne daß sie uns wie eine Strömung wegreißt. Ein Wunder dieser Welt, gewissermaßen. Allgegenwärtig und doch ein Geheimnis. Eins, das sich zu lüften lohnt - und so beginne ich am Anfang. Am toten Körper eines Menschleins, ich fühle nach dem Leim und finde dann und wann ein Stück, geronnen, geklebt in Form von Wissen unter seiner Haut. Und gerade Körper sind wie Inseln, ein hügelig und undurchsichtiges Gebiet für das es kaum 'ne Karte gibt und wo's sich auszukennen lohnt, will man die Zeichen richtig deuten."
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Giada schwieg darauf eine Weile. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und still.
“Ihr gebt mir zu denken”, erklärte sie dann und hob eine Hand, geöffnet und mit prunkvoll beringten Fingern.
“Gelehrte Bestrebungen, so lerne ich nun und auch mit Euren Worten, ist gewiss die Lehre, die wir erhalten. Durch unsere Lehrmeister und Mentoren, durch andere Gelehrte in Wort und Schrift. Doch es ist auch das, was wir selber erfahren, prüfen, erforschen. Darin bin ich gegenüber Euch bislang weit im Hintertreffen.” Sie schloss die Hand und zog sie an die eigene Brust. “Und das will ich ändern.”

Ihr Lächeln hatte unweigerlich eine grimmige Note. Sie war, vielleicht auch im Leben, keine allzu sanfte Frau gewesen und der Tod hatte sie nur härter gemacht.
“Was mich zurückhält, das ist die Gottesfurcht, die hohe Achtung vor der Schöpfung Gottes, dieser Welt.” Sie hob ihr Kinn, noch immer mit der geballten Faust über ihrem Herzen. “Doch ich sehe auch die Kräfte des Widersachers, welche sich in die göttliche Fügung der Welt einschleichen. Vielleicht ist durch diese selbst diese Welt und alles in ihr dazu verdammt, einst zu vergehen. Und so wie Gott einst durch Wort und Wille das Licht und Sein erschuf und fügte wird einst alles wieder schwinden und allein die Finsternis verbleibt.”
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Jacques Benoît
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Re: [1060] Toter Winkel [Giada, Jacques]

Beitrag von Jacques Benoît »

"Auf meinen Wegen ist Gott mir nicht begegnet, vermutlich hatte er schon was es bei den Toten zu holen gab zu sich genommen und mir nur gelassen was in dieser Welt verbliebe ohnehin.", dachte Jacques laut. "Und auch wenn die Schöpfung selbst einem Respekt abverlangt ist es doch die Hand von unsereins, die Armeen führt, Länder eint oder mit einem Handstreich ausbrennt. Und wenn wir eines tun, dann ist es nicht vergehen, wir widersetzen uns der Fügung und das Innere in uns ist das was es uns ermöglicht. Doch würde es - so will man meinen - uns nur kurz die Welt brandmarken lassen, hielten wir es nicht im Zaume und würden ihm seinen Willen lassen. Wir sind die Herrscher unserer eig'nen Welt, der Welt in unserem Innern, und tot und kalt wie die Körper die zum Bleiben hier zurückgelassen. Was also bleibt uns denn als anzunehmen, daß alles ganz genau so ist wie es sein sollt' und jeder von uns mit den Dingen die er treibt das richt'ge tut, weil er ja nicht mal anders kann?", stellte er die Frage in dem Raum für die ein Dorfpriester ihn vermutlich davongejagt hätte. "Uns bleibt kaum mehr als zu Spielen dieses Stück mit dem was uns in uns're finst're Wiege ward gelegt. Denn hätte Gott gewollt, daß wir nicht an den Toten forschen, hätt' er sie zu staub vergeh'n lassen wie unsereins wenn wir denn enden."

"Ihr sucht die Finsternis, die jenseits dessen liegt was Leben und was Tod verheißen. Ich weiß um sie nicht viel, nur daß sie gefürchtet und - wenn man mich fragt - das mit gutem Grunde, jedoch nicht mit dem Grunde den die meisten Denken: Macht. Nein, es ist das was nach der Seele greift, womit die meisten kaum noch fertig werden. Doch alle Augenpaar' in die ich sah, hatten die Schwärze auch in ihrer Mitte - in einem jeden Schlummert das - ist überall und nirgendwo zugleich. Der Grund die Finsternis zu fürchten ist nicht Macht, sondern daß man ihrer nicht gebieten kann. Und die, die's können, stell'n and'ren ihre Nackenhaare auf...", seine Stimme wich zu einem trockenen Flüstern, "...als ob sie selbstpersönlich wüssten was man tun müsst' um den Herrn vom Thron zu stoßen und in seine eig'ne Schöpfung zu verbannen. Und vielleicht, ja ganz vielleicht... wissen es einige ja auch. Doch klug genug sind sie dann auch, es nicht zu tun, denn dann müsst' jemand an die Stelle treten die frei geworden und zu der Bürde ist wohl kaum einer bereit, der alles haben kann in dieser Welt und Zeit."

Eine kurze Pause verging und Jacques winkte schmucklos ab. "Doch das sind nur Gedanken eines alten Mannes, entsprungen seiner Zwiesprach' mit der Sense, unter einem Galgenbaume in eine Knochenflöte geschnitzt. Ich versteh' von Gott und Schöpfung nicht genug, um G'wissheit über irgendwas zu haben, doch vom Tode - da versteh' ich was und manchmal deucht mir, versteht er mich beinah' genauso."
Ich kann nicht, solange sie noch atmen.
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