[1070] Einen Sprung vorbereiten [Nubis, Angelique]

[Nubis]

Wenn die Augenhöhlen sich hätten verformen können, so hätten sie es getan. Umso mehr musste man nun bei Nubis auf die Augen selbst achten, bei dem das eine sich ein wenig schloss. Auch die Mundwinkel zeigten etwas Spiel, doch auch nicht mehr so viel, wie wohl zu Lebzeiten und mit Muskeln unter der Haut.
Eine Stille der Überraschung hatte den Herold für einen Moment ergriffen, als Angelique Vergonzo einen so drolligen Namen verpasste. Wahrlich ein Kind des Mondes.

"Ja, der Sturz ist tief. Auch ich habe mich etwas vorbereitet. Ich halte durchaus etwas aus, auch wenn es nicht den Anschein erweckt. Diese Knochen sind stabiler, als ihr glauben mögt. Doch stellt solch ein Sprung natürlich eine ganz andere Herausforderung dar. Ihr habt solch ähnliche Sprünge schon ausprobiert? Und seid im Meer schwimmen gegangen?"

Er wirkte auch etwas amüsiert, amüsiert überrascht genauer gesagt. Er ging auf das Kichern von Angelique ein, indem er lächelte, räusperte sich dann allerdings.
"Der werte Niccolo bot mir an, mich zu unterstützen. Er kann gut heilen. Ein Seil wäre natürlich eine weitere Möglichkeit, um einige Schwierigkeiten abzufedern. Ein guter Schwimmer bin ich tatsächlich gar nicht. Ich habe es nie gelernt. Doch sinken wir nicht ohnehin hinab auf den Grund? Wir müssen nicht atmen, also werden wir wohl kaum ertrinken, nur eben durch die Strömung hinfort gerissen. Ein langes Brett, eine Planke, die von starken Dienern gehalten wird, könnte als Absprung dienen, um den Abstand zwischen Turm und Hafenbecken etwas zu minimieren, um nicht auf dem Fels aufzuschlagen.
Ich könnte auch andere Arten der Vorbereitung ins Auge fassen, doch vielen davon mangelt es an der Ehrlichkeit. Es soll kein Schauspiel werden."

Als er so von dem Tophet sprach und dass es eine Strafe sein sollte, er dies also wirklich durchziehen wollen würde, fingen seine Finger an zu kribbeln. Ein leichtes Seufzen entwich ihm, doch hier in der Abgeschiedenheit des Turms bei einem weiteren Orakel, war es wohl ausnahmsweise einmal der rechte Ort zur rechten Zeit...

Wenig später, die Stille hatte noch nicht wirklich die Worte abgelöst, kippte er in die Kissen, lag nun da und zuckte ab und an. Die Augen blieben starr, die Pupillen nur noch Stecknadeln. Er schien ins Leere zu starren.

[Angelique]

Angelique wirkte ob des merkwürdigen Verhaltens nicht überrascht oder beunruhigt, nicht einmal wirklich aufgeregt.
Eher gelassen und neugierig.

Sie selbst benutzte ein Dutzend unterschiedlichster Formen der Mantie, um zu weissagen, und kannte noch mehr Methoden bei anderen Orakeln.
Sie holte ihr berühmt-berüchtigtes Wachstäfelchen hervor und lauschte angestrengt, welche Worte wohl gesprochen würden oder ob andere Begleiterscheinungen ihr Aufschluss über die Vision des Herolds geben würden.

Ein Herold fürwahr. Eine raffinierte Ironie, einen Seher, der ohnehin Herold der Zukunft war, zum Herold von etwas Profanerem zu degradieren.

[Nubis]

Eine gute Weile schüttelte es den Herold einfach nur. Sein Blick veränderte sich nicht. Zähne schlugen ab und an zusammen und liessen ein lautes Klappern ertönen. Dann war plötzlich Stille, vollkommene regungslos lag er danieder, als wäre er in Starre gefallen.
Doch ein Rascheln von Papier entwich seiner Kehle. Leise wie der Wind, der Blätter im Herbst rascheln liess.

Was er sah, konnte Angelique natürlich nicht sehen. Vieles lief in Sille oder begleitet durch Zuckungen ab. Vielleicht war die Vision nicht aussagekräftig genug, vielleicht nicht stark genug. Vielleicht war er nicht in der Lage zu sprechen.

Oder vielleicht musste man nur dem leisen Rascheln genauer lauschen. Das Flüstern einer toten Seele, die Dinge sah, die nur für ihn bestimmt waren, die niemand anderer so sah, wie er.

"Schwarzes Wasser von Blut getränkt..." waren die ersten, die seinen Lippen entwichen. Zwischen zweimal Aufeinanderschlagen der Zähne, als ihn wieder ein Anfall schüttelte, ertönte ein: "... es steht in Flammen!"
Seine Zuckungen nahmen wieder zu, seine Fänge wuchsen und er wirkte wütend, aber nicht rasend. Ihn schien etwas mehr ergriffen zu haben und er kauerte sich zusammen, als würde er vor etwas in Deckung gehen. Starke, einer Regelmässigkeit folgende Spasmen wechselten sich ab und wurden von Ruhepausen begleitet, in denen das Rasseln seiner Stimme wie das schwere Atmen eines Verwundeten klang.
"Der Aufstieg einer Königin, der Fall der Sonne..." folgte wieder viel später, als er sich wieder beruhigt hatte. Es klang atemlos, verwirrt und voller Entsetzen.

[Angelique]

Angelique hörte aufmerksam zu, war alarmiert von den Worten und zugleich auf der Hut, sollte der Zustand der Entrückung eine Raserei triggern.

Die Art der Offenbarung war von düsterem Inhalt, aber hütete sich inzwischen selber Deutungen von Prophezeiungen zu machen. Zu sehr war ihr die Schelte ihrer eigenen Ahnherrin nahe gegangen.
Sie hatte aber mitgeschrieben, sollte der Gast keine Erinnerungen an das in Trance Gesagte mehr haben, wenn er erwachen würde.

[Nubis]

Die Vision hatte aufgehört, still lag er da, wie eine Leiche. Kein Zucken, kein Ton hervorbringend. War er in die andere Welt über gegangen und nun nur noch ein Stück Haut und Knochen?

Doch dann öffnete er schlagartig die Augen und setzte sich auf. Ihn kostete dies keine Mühen, auch wenn der Körper nicht danach aussah.
Er starrte Angelique an.
"Es ist wieder passiert..." meinte er dunkel flüsternd, fragte dies sie, aber zugleich auch sich selbst.
"Es ist so, als ob das Dunkel immer näher kommt, als wenn es sich häuft. Immer mehr Einblicke, immer mehr Orte, mehr Geschehen....die Bilder klar und doch verschleiert."
Er schien noch nicht ganz da zu sein, noch nicht ganz angekommen zu sein. Als wenn er noch lauschen wollte, noch einmal einen Blick riskieren wollt, doch bei klarem Bewusstsein und nicht im Zustand der Trance.

[Angelique]

Angelique wartet noch ab, ob etwas nachkam, dann wiederholte sie von ihren Aufzeichnungen das Gesagte und alle Umstände so getreu wie möglich wieder.

"Das scheint eine wichtige Vorhersage zu sein. Ihr solltet jemanden finden, der diese Warnungen ernst nimmt und Vorkehrungen treffen kann.
Nachdem ihr selbst Eure Prüfung bestanden habt, natürlich."

[Nubis]

Ein langer Blick lag auf ihr. "So, dann habe ich einige Elemente der Vision nach aussen getragen, doch nicht alle. Es war eine Stadt, Häuser dicht an dicht, sehr viel grösser als Genua. Schmalen Gassen zogen sich hindurch und ein grosser Fluss schlängelte sich hindurch. Feuer brannte hinter Glas hell in der Nacht. Unmengen an Menschen auf den Strassen. Plötzlich krachte es, laut und tosend. Überall Feuer, selbst auf den schwarzen Wassern des Flusses. Blut und der Geruch von Asche, Schreie und Verzweiflung. Silhouetten von Menschen, unsereins und anderen wild durcheinander. Grosse Bestien mit gewaltigen Schwingen zogen über den Himmel und spien Feuer.
Die Sonne ging auf und strahlte über den Himmel, flutete alles im Licht, doch ein Knall, ein starker Blitz und sie zersprang, fiel vom Himmel. Aus den Trümmern erhob sich eine Frau, weniger strahlend, als die Sonne vorher, doch stark und die Silhouetten folgten ihr, einer Königin gleich. Hinter ihr verbrannte Erde und der Tod."

Er seufzte.
"Jemanden zu finden, den dies interessiert und der mich nicht als Dummschwätzer dahin stellt, mag wohl schwer zu finden sein."

[Angelique]

Angelique sinnierte. "Hm, das scheint entweder fern in Zukunft oder Vergangenheit zu sein oder an einem fernen Ort in Kithai oder Africa. Ich brüste mich, an vielen Orten der Christenheit gewesen zu sein und kenne sehr gut von Beschreibungen all großen Städte der Sarazenen und Oströmer, aber dieser Ort ist mir nicht bekannt.
Die großen Bestien am Himmel scheinen auch etwas Fernes oder Apokalyptisches zu sein."

Sie lachte hell, als sie eine Idee hatte.
"Ich werde es niederschreiben. Vielleicht wird es eines fernen Tages wichtig sein."

[Nubis]

"Durch meine Händler habe ich bisher auch noch von keinem solchen Ort gehört. Ich denke, dass meine Visionen eher die Zukunft betreffen, nicht die Vergangenheit. Es kommt das Gefühl auf, dies verhindern zu müssen und doch ist dies ein Kampf gegen eine tosende See. Wenn niemand hören will, niemand versteht."

Dann nickte er.
"Ich habe auch so manches schon niedergeschrieben, um es zu erhalten. Auch da jede Vision anders ist oder weitere Einblicke vermittelt. Als wenn das Gespinst der Zeit noch nicht zu sehr feststehen würde oder als wenn andere Ereignisse sich erst noch bemerkbar machen wollen. Doch wenn ihr und ich dies aufzeichnen, so mag es vielleicht später wahrscheinlicher sein, dass es jemand sieht, erkennt und danach handeln kann. Schriften sind so anfällig für Feuer, Wasser und andere Gewalten."

Er setzte ab. "Sollte der Sprung nicht gelingen, so wisset, dass Luciano und Silvio wissen, wo sich die anderen Niederschriften befinden."

[Angelique]

Angelique seufzte. "Ach, geht nicht vom Schlimmsten aus. Die Mächte der Vorsehung töten Seher häufig erst zum Schluss, damit sie sehen können, wie keiner auf ihre Warnungen hört."

Sie schaute dann aber feierlich: "Solltet Ihr aber bei diesem heidnischen Opferritual ums Leben kommen, so schwöre ich, Angelique, dass ich mein Bestes tun werde, Eure Schriften vor Feuer, Wasser und andere Gewalten zu beschützen."