[1076] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

[Dezember '22]
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

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Aurore beobachtete die Knieende für eine kleine Weile. Ihr Lächeln hatte sie behalten, auch wenn Sedna es nicht sehen konnte. Dann richtete sich die Weiße Prinzessin auf ihrem Thron kerzengerade auf und legte ihre schlanken Hände auf den Köpfen der beiden hölzernen, wilden Löwen ab. Fast wirkte es als geböte sie den hungrigen Bestien so Einhalt oder doch wenigstens einen Moment der Ruhe in dem ewigen Gebrüll. Doch auch das blieb wohl unsichtbar für die Knieende.

“Sprich”, forderte Aurore Sedna dann auf. Das einzelne, lateinische Wort klang süß und lieblich. Es verführte dazu, Melodien in den Tonfall hinein zu deuten, Hoffnungen, Erinnerungen an die Schönheit dieser Welt. Vielleicht klang ein Engel so, wenn er zu den Menschen sprach.
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Sedna
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von Sedna »

Sedna's Stimme war laut und gut vernehmbar. Sie schaute nicht auf.

"Höchst verehrte Prinzessin von Genua,
Ahn vom Blut der Könige,
Kind des Geoffrey le Croise,
Ahn vom Blut der Könige,
Kind des Alexandre de Paris,
Ahnherr vom Blut der Könige,
Kind des Ventrue, erster seines Blutes,
Kind des Enoch, des Weisen,
Kind des Kain, des Vaters

dich grüßt in demütiger Ehrerbietung

Sedna,
Neugeborene des Clans der Könige,
Kind von Chiara di Cerveteri,
Spross der tarquinischen Linie zu Florenz

und bittet um die Gnade, das ihr ein Geschenk in Betracht zieht.
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von I Tarocchi »

Aurore hob die Hand leicht an. “Salve, Sedna. Du kannst dich erheben.” Sie sprach Latein, doch das war nicht die ungelenke Steifheit oder abgekaute Mundart, in der diese Sprache in dieser Zeit oft gesprochen wurde. Klar wie ein geschliffener Kristall klang es und verwandelte die Erinnerung an das gewöhnliche Italienische aus den Gassen der Stadt in eine Erinnerung an verwaschenes, grobes Geplapper.

Jetzt, wo Sedna sich erheben durfte, könnte sie wohl auch die Ahnin etwas klarer in den Blick fassen. Aurore hatte in der Tat das Antlitz eines jungen Mädchens, gerade so eben an der Schwelle zur jungen Frau. Sie trug eine lockere Tunika aus weißem Stoff, einfach mit ebenso weißem Stoff gegürtet. Ihre schlanken Arme und Beine waren nackt und so makellos als hätte man Marmor und Mondlicht in die Form süßer Träume gegossen.

“Erzähle mir, was dich hierher geführt hat. Und erzähle mir, was du mit dir bringst.” Unbedarft könnte man solche Worte nach dem einfachen Woher und Wohin einer Reisenden verstehen, doch Aurore wollte mehr wissen und ihr Blick ging wie selbstverständlich um so vieles tiefer als diese Oberflächlichkeiten.
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Sedna
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von Sedna »

Sedna, von dem Antlitz der Prinzessin angeschlagen, hielt ihrem Blick nur mit Mühe stand. Sie hatte ihr Geschenk beim Aufstehen aufgelesen, verweilte aber an ihrem Platz, ungefähr drei Meter vom Thron entfernt. Sie sprach nun auch Latein und erwiderte:

"Höchst verehrte Prinzessin. Das Auf- und Ausbauen eines Handelkontors ist eine Mission, die der Stadt hoffentlich große Steuereinnahmen beschert. Wachsen und verstehen, höchst Verehrte. Das Geschenk ist ein besticktes Seidentuch aus alexandrinischer Seide. Es ist reißfest, sehr fein, fast durchsichtig, saugstark und haptisch ein Erlebnis. Je nach Gebrauch kann es eine Zierde sein, oder auch ein Putzlappen. Ein guter Putzlappen ist vielleicht nicht so schön anzusehen." Hier macht Sedna einen Knicks."Aber vermissen möchte man ihn auch nicht, wenn man ihn mal braucht, höchst Verehrte Prinzessin Aurore."

Sedna's Latein ist etwas scholastisch und wirkt daher etwas steif. Ihre Worte sind jedoch mit Bedacht gesprochen und entbehren neben der gebotenen Höflichkeit nicht einer untertänigen Freundlichkeit.
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von I Tarocchi »

Sedna hielt den Blick der Ahnin und der Moment stand still.

Warum kreuzte man den Blick der Ahnen nicht? Viele Gründe gibt es dafür, doch der erste, der den Blutjungen in der Nacht gegeben wird, ist dieser: ‘Aus Achtung tust du das nicht. Halte deinen Blick gesenkt und bezeuge deinen Respekt.’ Dieser Grund ist der erste, weil er der einfachste ist. Es ist der einfache Befehl, den man einem Kind gibt, das die Welt gerade erst verstehen lernt. Und dies ist gut und recht.

Der zweite Grund dann erfordert ein erstes Verstehen, das Verstehen der Bestie in uns allen. Stolz ist sie, diese Bestie, und sie will die Oberhand haben. Sie singt von ihrer Dominanz und von der Furcht aller anderen vor ihrer Stärke. Doch wer das verstanden hat, der versteht auch: Diese Bestie singt in uns allen. In jenen, die uns schon Jahrhunderte und mehr voraus gehen, singt sie auch um so vieles länger schon. Ein gerader Blick, Bestie zu Bestie, das weiß jeder von uns im Herzen und in der Seele, ist eine Herausforderung. Doch wer von uns will jene ältesten Bestien herausfordern in ihrem uralten Gesang und Hunger? So ist der zweite Grund einer der Weisheit, denn dahinter steckt die Erkenntnis der eigenen Jugend und Schwächen.

Der dritte Grund, zu welchem wir alle früher oder später gelangen, wenn wir nur lange genug überdauern, ist dieser: Die Augen sind die Fenster zur Seele. Zur Seele des anderen und zur eigenen. Wer aber ist stark genug, auf die uralten Bestien zu blicken? Ihren Anblick zu ertragen? Und wer wagt es, die eigene Seele vor ihnen zu entblößen? Wer bietet ihnen die eigene Kehle auf diese Weise dar?

Es muss noch weitere Gründe geben, doch diese drei sind die ersten und sie gelten für alle, die so viel älter sind. Die Gründe, weshalb man ihre Blicke nicht kreuzt und sie nicht hält.



Der Moment trieb haltlos weiter, Sedna konnte ihre eigenen Worte hervorstürzen hören, eins nach dem anderen, wie ein fließender Bach aus ihrem Mund heraus.

Doch was für Gründe gibt es, dies doch zu tun? Oh, in diesen Augen Aurores funkelten diese Gründe wie ferne, unerreichbare Sterne und wie verheißungsvoll nahe Schätze zugleich.

Es gibt den Grund der Hingabe: Wer würde sich der zarten Gestalt der Weißen Prinzessin nicht darbieten wollen, auf ihrem Grund, in ihrer Weißen Halle, auf ihrem Löwenthron? Hier war sie die Herrin und man selbst war Gast. Lag man nicht ohnehin bereits in ihrer zarten, offenen Hand?

Es gab den Grund der Sehnsucht: Da war sie, eine der gefährlichsten aller Verlockungen. Sie war aus Liebe und Einsamkeit gleichermaßen gemacht. Was wäre nur, wenn jemand wie sie, die so unschuldig, so rein, so jung auf diesem Thron saß, unberührt von all der grauen Zeit, sich auch die Fähigkeit bewahrt hatte, zu lieben? Und was, wenn man selbst es sein könnte, der diese Liebe erhält? Was, wenn man sie nur erwidern dürfte? Die Hoffnung war leuchtend und schwindelerregend zugleich.

Es gab den Grund der Lust: Kein Zweifel, Schönheit wie diese war in diese Welt getreten, hatte greifbare, fassbare Gestalt erhalten. Wie könnte man sich dem verweigern? Wie könnte man nicht zugreifen - ein Blick ist ein erster, solcher Griff. Oh, wie süß, heiß, kalt, pulsierend, beinahe wie lebendig, atemspendend, atemraubend.



Was hatte Sedna eben noch gesagt? Hatte sie etwa von Putzlappen gesprochen?

Lucio hatte unterdes das weiße, zarte Tuch angehoben, das sie so angepriesen hatte. Ganz behutsam hatte er es aus Sednas Händen genommen als wüsste er, wie es war, sich zu verlieren wie sie. Er verstand von ganzem Herzen. Sie war nicht die erste, der dies geschah. Sie war nicht die letzte.
Andächtig hielt er das Tuch in seinen großen Händen, um es seiner Herrin zu präsentieren. Das Stickwerk war im hellen Licht deutlich zu sehen. Danach trat er leise und schlicht zur Seite zurück.

Die Weiße Prinzessin sah nur flüchtig auf das Tuch. Dass sie den Blick abwendete, fühlte sich bereits schrecklich an, kalt und leer. Doch der Blick kehrte zurück zu Sedna und Aurore lächelte. Alles war gut.

“Ich höre und ich sehe dich, Sedna”, sagte Aurore. Es klang wie Musik. “Du willst mir sagen, wer du in deinem Herzen bist, das erkenne ich gleich. Sprich nur.”
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Sedna
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von Sedna »

Sedna hatte diesen Tag lange geplant und das sorgfältige Aussuchen jedes einzelnen Wortes, sowie das Einüben und Wiederüben der Sätze bis sie sie begann unterbewusst vor sich hin zu summen, hatte sich ausgezahlt. Sie wusste, dass sie zweifeln würde und das die Ahnin sie überwältigen, sie straucheln lassen würde, aber auch wenn ihr Anlauf etwas wackelig gewesen war, war er doch ausreichend gewesen den Sprung zu wagen. Sedna brach kurz den Blickkontakt, um danach wieder aufzuschauen. In dem Schwarz von Aurore's Augen wartete der Abgrund:

"Höchst Verehrteste, ich sage es euch:

Eine Lügnerin. Und es an euch auszuwählen, mit welcher Lüge ihr euch beschäftigen wollt. Einige von uns Kindern der Nacht sind Lügner.

Wir lügen die Menschen an, wie wären wie sie und keine Gefahr.
Wir belügen einander, um zu schmeicheln, einen Vorteil zu erhalten, zu überleben, zu erobern.
Wir belügen uns selbst mit Geschichten von Moral und hehren Zielen, während die Bestie im Inneren die Fäden zieht.

Es ist eine Lüge, dass ich in Florenz nicht wohl gelitten und verstoßen worden bin.
Es ist eine Lüge, dass ich nur hier bin, um einen Handelskontor aufzubauen.
Es ist eine Lüge, dass ich für mich selbst spreche und nicht ein Nachricht bin, von jemandem weitaus Älterem, von dem ihr wahrscheinlich mehr wisst als ich.
Es ist eine Lüge, dass ich nach Macht, um der Macht willen strebe.
Es ist eine Lüge, dass ich unfreier bin, als ihr, Höchst Verehrte es seid, auch wenn meine Unfreiheit eine andere sein mag.
Es ist eine Lüge, dass ihr mich verstehen und besitzen könnt, binden ja, aber ich werde immer die meine sein.
Es ist eine Lüge, dass ich euer Gesicht jemals wieder vergessen kann und sich nicht jeder fortan mit euch, Höchst Verehrte, messen und zwangsläufig verlieren muss.
Es ist eine Lüge, dass ich eine Anführerin oder Händlerin bin.

Die Wahrheit, höchst Verehrte, die Wahrheit ist die starrste aller Lügen und worin bestände da der Reiz?

Mein Leben liegt in euren Händen, aber eben nicht nur in euren.

Und wären dies meine letzten Worte, so bereue ich nichts."

Sedna schlug die Augen nieder. Das Gefühl von Fallen war beinahe überwältigend. Wo würde sie landen?
Wenn überhaupt?
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von I Tarocchi »

“Oh Sedna.” Die beiden Worte klangen unendlich weich und zart. Es war in der Tat so als würde Sedna in der geöffneten Hand Aurores landen. Und es war gut so, dass sie die Augen endlich gesenkt hatte so wie es den Neugeborenen vor einer Ahnin wohl angeraten war.
Denn Aurore lächelte. Ein Lächeln wie ihres konnte Herzen, Schicksale, Seelen brennen oder erblühen lassen.

“Der letzte, der mir von deiner Linie geschickt wurde, hat mir ebensoviel Lasten wie Nutzen eingebracht, ebenso viel Chaos wie Ordnung. Du bist hier, weil ich hoffe, dass du besser zu gebrauchen bist.” Es klang tröstend und warm, zuversichtlich, hoffnungsvoll.

“Ich kann dich nur dulden, wenn du anpassungsfähiger und schlauer bist als er. Die Situation jetzt ist auch um so vieles schwieriger. Immerhin bist du auf feindlichem Gebiet.” Beinahe beiläufig strich sie mit dem nackten Fuß über das Podest, auf dem der Löwenthron stand.

“Doch ich habe Hoffnung. Es war klug, mir eine Lügnerin zu schicken. Wie schön, dass wir jetzt nicht mehr so viel Zeit und Gerede mit Unnötigem verschwenden müssen. Lass uns sehen, was wir mit dir anfangen können.” Damit lehnte die ewigjunge Ahnin ihren Ellenbogen auf die Lehne des Throns und tippte sich nachdenklich mit dem Finger der dazugehörigen Hand an ihr Kinn. Die Geste war für Sedna vielleicht nicht sichtbar, doch die Nachdenklichkeit in der Stimme der Ahnin klang nicht echt, ebenso wie die Geste wohl nur ein Spiel war. Sie wusste genau, was sie tat und was sie tun würde. Vielleicht hatte sie es schon gewusst, bevor Sedna überhaupt einen Fuß in ihre Domäne gesetzt hatte.

“Fangen wir doch damit an, dass ich dir helfe. Es kann nicht sein, dass jemand von deinem Blut in meiner Domäne mit gesenktem Blick gehen muss, weil sie sich eine Lügnerin nennen muss. Also sehen wir uns deine Lügen einmal an.” Das klang fröhlich, nach Tatendrang.

“Ich weiß auch, mit welcher Lüge wir zuerst beginnen. Das ist die, dass du eine Händlerin und Anführerin bist. Wir werden sie einfach wahr machen und dann ist diese Last verschwunden.”

“Zuallererst machen du und ich also einen Handel. Lucio wird ihn aufschreiben, genau so wie Händler es tun. Unser Handel wird das Fundament für all die weiteren Handel sein, die du machen wirst, damit du eine richtige Händlerin bist.” Fröhlich, hilfreich, sogar mit dem Anflug eines Augenzwinkerns, das bis in ihre Stimme und Tonlage zu dringen schien.

“Unser Handel wird sein, dass ich dir mit deinen Lügen helfe. Und dafür arbeitest du für mich. Natürlich nicht ganz exklusiv, wie du schon sagtest, aber solange du in meiner Domäne bist, arbeitest du nicht gegen mich.” Für ein paar Worte lang war jede Zartheit, jede gespielte oder echte Fröhlichkeit aus Aurores Stimme gewichen. Diese Worte waren beschrieben eine rote Linie, eine Grenze, welche die Herrin dieser Domäne zog. Für den Zeitraum von zwei, drei Herzschlägen des Allesfressers hingen diese Worte klar in der weißen Halle.

Dann setzte Aurore neu an, wieder ganz mit der Fröhlichkeit und Geschäftsmäßigkeit, die ein Handel in ihren Augen offenbar gebot.
“Und damit du dich wirklich eine Händlerin nennen können wirst, so dass diese Lüge auch beseitigt wird, wirst du meine Domäne kennen lernen. Jeden einzelnen Kainiten darin lernst du kennen und mit jedem wirst du Handel beginnnen. Dafür musst du natürlich herausfinden, was sie wollen und was sie zu bieten haben. Und davon kannst du mir von Zeit zu Zeit erzählen. Im Gegenzug lasse ich dich hier in meiner Domäne selbst zu Gast sein und wenn du dich gut machst, könntest du es vielleicht sogar zur Ersten Händlerin für meinen Hof bringen.” Wie den hohen Wert eines solchen Titels hervor zu heben, hob sie ihre schlanke Hand ein wenig an.

“Das ist ein guter Beginn, findest du nicht? Nun zu deinen anderen Lügen.”
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von I Tarocchi »

Aurore ließ der Neugeborenen nicht viel Zeit. Doch es war genug, um zu verstehen, was gerade geschehen war. Es war genug, dass Lucio sich mit einer Wachstafel hatte ausstatten lassen können, um darauf festzuhalten, was er konnte. Es war genug, dass ein Luftzug mit dem Duft von Nachtwind und Lavendel durch die Halle fuhr und die Lichter tanzen ließ.

“Deine ersten drei Lügen sind solche, die keine sein müssen, Sedna”, sagte Aurore. “Doch auch dabei kann ich dir helfen. Für die erste gebe ich dir auf, dass du an die Menschen Genuas, an meine Herde zurückgeben musst. Du nimmst von ihnen, weil du bist, was du bist. Doch du wirst ihnen auch zurückgeben. Du wirst sie beschützen und bewahren, du wirst sie nicht töten. Du wirst sie fördern ohne dass sie dich als das erkennen müssen, was du bist. So wirst du eine Beschützerin, ein Gewinn und keine Last.” Es klang so einfach, wenn die Weiße Prinzessin es sagte. Sie zeichnete den Weg mit einer Leichtigkeit vor, die einen daran glauben ließ. In den über hundert Jahren, in welchen Aurore über Genua herrschte, war diese Stadt aufgeblüht und gewachsen. Sie hatte Hungersnot und Brände überstanden und war nur schöner und prachtvoller geworden. Vielleicht war dies das Geheimnis?

“Deine zweite Lüge ist keine. Sie ist eine Wahrheit, denn was du da sagst, das ist wahr.” Aurore lächelte. “Doch ich helfe dir trotzdem. In meiner Domäne gelten die altehrwürdigen Traditionen wie Gesetze. Die Etikette und die Hierarchien der Gesellschaft sind das Haus, das darauf errichtet wird. Du wirst ein Teil von diesem Haushalt werden und es verschönern anstatt es zu beschmutzen. Du wirst mein Kind kennen lernen und ihre Hilfen in Anspruch nehmen. Es kann wertvoll für dich sein, dass du der Harpyie Genuas etwas schuldest, denn dann bist du ihr auch etwas wert.” Die nächsten Worte klangen beinahe verschmitzt. “Und so wirst du zugleich auch weiter zur Händlerin.”

“Auch bei deiner dritten Lüge kann ich dir helfen. Gehe zu meinem Hofgelehrten, dem Ancilla Ferrucio. Er ist ein Büßer und dient als ein Beichtvater. Er kann dir helfen, deine Seele zu erleichtern. Die Beichte, die Reue und die Buße können die Sünden der Lügen von hohen Zielen und Moral fortwaschen und lassen die Wahrheiten übrig, auf die du bauen darfst.” Aurore sprach mit der Großzügigkeit einer Herrscherin und Gastherrin. In ihren Worten klang zugleich auch der Stolz auf ihre Domäne mit.

“Deine vierte Lüge hast du ausgesprochen und ich habe sie gehört. Also ist sie nichtig geworden. Ich werde dies gut in Erinnerung behalten, so dass sie dich nicht weiter beschweren muss.” Es klang so einfach und schön, doch man konnte den Abgrund hinter diesen Worten lauern ahnen. Aurore würde nicht vergessen.

“Deine fünfte und sechste Lüge sind ebenso keine. Sie sind Teil der Botschaft und ich habe sie erhalten. Du hast wohl getan. Aus dir wird auch ein Teil meiner Botschaft zurück werden, wenn du dich dafür als würdig erweist.” Dies war eine Ehre, der selbstverständliche Zweck und Grund für Sednas Anwesenheit in Genua und hier, in dieser Weißen Halle, in diesem Augenblick.

“Deine siebte, achte, neune und zehnte Lüge sind schlau gesprochen. Vielleicht ein wenig zu schlau? Lass uns sie alle behalten, so dass du mir zeigen kannst, wie weit du selbst sie verstanden hast.” Diesen Worten Aurores lag eine gewisse Melancholie inne, doch sie war nicht ohne den warmen Klang von Mitgefühl, von Hoffnung. Es war genau dieser Klang, der die Worte so gefährlich machte, denn in der Nähe der Weißen Prinzessin war diese Hoffnung echt, war dieses Mitgefühl echt. Durfte man darauf vertrauen? Diese Dinge wurden wahr, weil Aurore sie wahr machte.
“Doch ich werde dir dabei helfen, Sedna”, sagte sie. “Es wird Zeit brauchen, doch mit jedem Jahr und Jahrzehnt wirst du mehr verstehen. Wir werden uns darüber wieder unterhalten.”

Sie strich sacht über einen der hölzernen Löwenköpfe unter ihren Händen. “Und zuletzt - dass die Wahrheit die starrste Lüge ist… . Nun, das ist keine Lüge, Sedna. Doch es ist auch nicht ganz wahr. Wahrheit wird gemacht, so musst du verstehen. Das Blut der Könige trägt die Macht dazu in sich, also hast auch du diese Macht. Mit dieser Macht kommt auch eine Bürde und Pflicht und wenn man diese zu leicht nimmt oder vergisst, dann stürzen selbst die schönsten Wahrheiten ein. Das kannst du an den Ruinen der großen Städte, Reiche und Imperien von einst genau so sehen wie an dem Fall von so manchem Mächtigen… .”
Es war eine seltsam melancholische Note, auf der die Weiße Prinzessin hier endete. Doch sie ließ die Melancholie nicht einsinken. Stattdessen klatschte sie einmal in die Hände.

“Lucio, schreibe einen Vertrag und bringe ihn uns.”
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Sedna
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von Sedna »

Sedna hatte jedes Wort, jede Regung der Ahnin sorgsam verfolgt. Ihr Gedächtnis würde sie dazu in die Lage versetzen später alles Wort für Wort aufzuschreiben und nochmal analysieren zu können. Es gab ein paar gute Nachrichten:

Sie war nicht tot.
Sie würde mit Aurore zusammenarbeiten.
Die Ahnin sah sie nicht als Gefahr.
Ihre Manipulation war geglückt.

Sedna wusste, dass dies erst der Anfang war und man alte Vampire nur eine bestimmte zeitlang mit schönen Worten besänftigen konnte. Ergebnisse produzieren würde ihr Überleben sichern. Vor allem würde es wichtig sein interessant zu bleiben.

Sedna fühlte sich wie ein kleines Ruderboot an dem langsam ein riesiges Segelschiff entlang fuhr. Noch wurde sie behutsam geschoben, doch die kleines Richtungsänderung und sie würde zerschmettert werden. Sie hielt unwillkürlich den Atem an, auch wenn sie keine Luft mehr brauchte. Manchmal atmete sie noch in Extremsituationen oder tat dies, wie in diesem Fall, eben gerade nicht.

"Sehr wohl Höchst Verehrteste." sagte sie, die Augen niedergeschlagen.
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I Tarocchi
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Re: [1071] Hic Genova, hic salta! [Sedna, Aurore (SL)]

Beitrag von I Tarocchi »

Diese Antwort schien Aurore zu genügen. Sie klatschte einmal fröhlich in die Hände und lächelte, so dass einem leicht ums Herz werden konnte. Alles schien geklärt, alles bereinigt, in der Weißen Halle lauerten keine Gefahren.

“Damit ist dies getan”, erklärte sie mit der Leichtigkeit oder Ignoranz, mit der Jugendliche so manche schwere Ernsthaftigkeit einfach an sich vorbeiziehen lassen konnten. Es war verführerisch leicht, Aurore in diesem Licht zu sehen und sich von dieser Leichtigkeit mitnehmen zu lassen. “Erzähle mir unterdessen von Florenz! Ich hörte, dass die Markgräfin Matilda eine bemerkenswerte Frau sein soll.”

Es blieb wohl bei Sedna zu entscheiden, wie schwer oder leicht, wie sekundenzählend lang oder in plaudernder Leichtigkeit kurz die nächste Stunde verstrich. Aurore lauschte ihren Worten und konnte mit spielender Leichtigkeit ein Gespräch ebenso seicht wie unterhaltsam halten. Oder lauschte sie auch den subtileren Tönen, die unter der Melodie der bloßen Worte mitklangen?

Nach etwa einer Stunde kehrte der Allesfresser zurück. Er wurde von einem hageren Mann begleitet, den tintenfleckigen Fingern nach wohl einem Schreiber. Dieser trug ein Bauchpult mit seinem Schreibwerk vor der eigenen Brust, auf dem nun auch einige gleichmäßig geschnittene Seiten mit feinem und wahrscheinlich sündhaft teuren Papier lagen. Das Papier war frisch, unbenutzt und glatt als wäre es keiner Witterung oder sonstigen Einflüssen je ausgesetzt gewesen: in der Tat eine weiße Leinwand, auf der eine Zukunft ganz und gar neu geschrieben wurde.

Der Schreiber trug das Ganze auf ein Nicken des Allesfressers hin mit gesenktem Blick zu Sedna und ging mit knackenden Knien neben ihr in einen Schneidersitz, so dass sie lesen und auch unterzeichnen konnte - offenkundig wurde dies von ihr erwartet. Eine frische Schreibfeder und ein kleines Tintenfass in dem Schreibbrett standen dafür bereit. Der Vertrag enthielt alle besprochenen Punkte, säuberlich aufgelistet, staubtrocken formuliert.

Sollte Sedna ihre Unterschrift machen, war Aurore an der Reihe. Die Ahnin schien heiter - als hielte sie das ganze geschriebene Procedere für einen neuartigen und ein wenig fremden Zeitvertreib. Doch sie unterschrieb, mit geschwungener Feder und leichter Hand.
Danach blieb nicht mehr viel zu tun oder zu sagen. Sedna wurde entlassen.

Beim Hinausgeleiten erklärte ihr der Allesfresser noch: “Die höchstverehrte Weiße Prinzessin gestattet Euch das Jagdrecht innerhalb ihrer Domäne, ausgenommen in den Teilen, welche sie anderen Kainiten fest zugesprochen hat. Dazu gehört natürlich dieses Anwesen und sein Umland, das Casteletto und Burgus. Als Tochter des Clans der Könige ist Euch gestattet, fünf Blutsdiener zu haben.”

“Ihr habt mit dieser Audienz eine bevorzugte Behandlung erfahren, die Euch vor den Mitgliedern anderer Clans hervorhebt. Die höchst verehrte Weiße Prinzessin erwartet Eure Berichte und Eindrücke in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.”
Hier pausierte der Allesfresser kurz und fügte dann, wohl als einen persönlichen Rat, an: “Ich würde Euch empfehlen, Euch mit der wohlwerten Harpyie Iulia Cornelia zu treffen und Euch vorzustellen. Ebenso könnte Euch ein Gespräch mit dem wohlwerten Herold Galeno Fio- ah.. verzeiht… nunmehr “Nubis” zur Hilfe gereichen. Der Erste Liktor Liutprand könnte ebenso ein Interesse an einer Unterhaltung mit Euch haben.”
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