[1073] Scharfkantig [Angelique, Ferrucio (SL)] [Die Letzten haben keine Rivalen]

[I Tarocchi]

"Siehe, wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen", lächelte Ferrucio selig. Seine blassen, spröden Lippen spannten sich dabei, seine Augen leuchteten in aufkeimender Hoffnung. Und war nicht das der größte Irrsinn von allen, trotz allem in der Nacht, zwischen Blut, Asche und Verdammnis dennoch die Hoffnung und den Glauben zu bewahren?
"Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun."

"Ich habe Sorge um dich, meine Schwester, denn du bist in Vergangenheit bereits tief gefallen und weit vom Wege abgekommen", sagte er dann. "Ist die Hoffnung, dass du Buße tun willst, dass du Reinigung erfahren willst, dass du dich vor Gott und den Seinen läutern willst, recht? Oder springt da die Eitelkeit von deiner Zunge und du willst weitergehen auf deinen verirrten Wegen, das verlorene Schaf allein und fern von Herde und Hirte?"

[Angelique]

"Nein, ich brüste mich nicht mit meinen Taten und tue Gutes aus dem Hintergrund. Das Gute, das ich zu bewirken suche, ist mir Lohn genug.

Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
Matthäus 6:2"

[I Tarocchi]

"Denn so steht es geschrieben: 'Ich danke dir, daß du mich demütigest und hilfst mir.'" Ferrucios durchdringender Blick lag für einen langen Moment auf Angelique.

"Du vergisst, dass du nicht länger bist was du einst warst. Du leugnest, was du bist: Verdammt. Du folgst dem Dünkel, dem Wankelmut, deinen flatterhaften Drängen. Doch du bist verdammt und eine Sünderin. Du musst Buße tun und Reinheit finden! Gehe nicht alleine weiter in deine Finsternis, die Verdammnis und die Hölle!"

[Angelique]

"Aber wer von Unseresgleichen vermag denn zu helfen, wenn er selber Hilfe benötigt? Denn es steht auch geschrieben:
Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blindenleiter. Wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie beide in die Grube. Mathaeus 15."

Angelique genoss diese frühe Form eines scholastischen Rhetorikduells mit Ferrucio. Sie las viel über seine Sicht der Welt daraus und vielleicht mochte er ihren Seelenschmerz und ihre ambivalente Sicht der Dinge auch erahnen anhand ihrer Worte.

[I Tarocchi]

Ferrucios heller Blick sprach davon, dass er verstand. Er verstand und er sah und in ihm leuchtete ein Feuer des Glaubens, dass vom gleißenden Strahlen der Hoffnung bis zum heißen Brennen des rechtschaffenen Zornes reichte. Und dieses Feuer war es, das ihn zitieren ließ:

“Wir sind schuldig und brauchen Vergebung! Wir sind geistlich tot und benötigen Leben. Wir sind Sklaven der Sünde, die Befreiung nötig haben.” Er hob seine Hände als würde er die kleine Clansschwester anflehen: “Erkenne endlich! Lass ab von deinem Hochmut!”

Doch ehe Angelique etwas hätte sagen oder tun können, fuhr er in seinem Eifer, seiner religiösen Hingabe weiter die wohl bis zur Selbstaufgabe reichen konnte:

“Doch wir sind vollkommen hilflos, und können uns nicht selbst von der Sünde befreien. Die offensichtliche Schlussfolgerung daraus ist diese: Da wir Sünder sind und Gott gerecht und heilig, brauchen wir Rettung von der Strafe der Sünde. Aus der Tiefe unseres Herzens sollten wir deshalb rufen: “Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?’”

Wartend, beschwörend, flehend, hoffnungsvoll und doch bereit zur brennenden Verdammung sah er sie an.

[Angelique]

Sie faltete die kleinen Hände und betete:

"Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, / von ihm kommt mir Hilfe.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; / darum werde ich nicht wanken.
Wie lange rennt ihr an gegen einen Einzigen, / stürmt alle heran wie gegen eine fallende Wand, / wie gegen eine Mauer, die einstürzt?
Ja, sie planen, ihn von seiner Höhe zu stürzen; / Lügen ist ihre Lust. Sie segnen mit ihrem Mund, / doch in ihrem Herzen fluchen sie. [
Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; / denn von ihm kommt meine Hoffnung.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; / darum werde ich nicht wanken.
Vertrau ihm, Volk, zu jeder Zeit! / Schüttet euer Herz vor ihm aus! / Denn Gott ist unsere Zuflucht.
Nur ein Hauch sind die Menschen, / die Leute nur Lug und Trug. Auf der Waage schnellen sie empor, / leichter als ein Hauch sind sie alle.
Vertraut nicht auf Gewalt, / verlasst euch nicht auf Raub! Wenn der Reichtum auch wächst, / so verliert doch nicht euer Herz an ihn!
Eines hat Gott gesagt, / zweierlei habe ich gehört: Bei Gott ist die Macht; /
Herr, bei dir ist die Huld. Denn du wirst jedem vergelten, / wie es seine Taten verdienen."

[I Tarocchi]

Nur eine oder zwei Zeilen lang musste Angelique ihr Gebet alleine sprechen. Dann fiel Ferrucio ein und sprach es mit ihr so wie es in den Psalmen stand und so gut sie beide es konnten. Die Kinderstimme und die Stimme des Büßers, gemeinsam und doch etwas verschoben, einig nur in der Dissonanz und in der Folge der Worte.

Und als sie fertig gesprochen hatten, bekreuztigte Ferrucio sich und ging. Bald würde es Zeit für Angeliques Vortrag sein und er würde dem lauschen und sehen. Wenn sie sich je die Illusion gemacht hatte, dass er nicht hinsah, auf das, was sie tat und was sie nicht tat, dann war diese nun vielleicht endgültig zerschlagen.

[Angelique]

Zusammenfassung:
Ferrucio fragt Angelique nach Prophezeiungen, sie bleibt vage.
Dann befiehlt er ihr, ihre Stimmkugel dahin zu tun, wo er will. Sie gehorcht.
Sie liefern sich eine scholastische Diskussion und bewerfen sich mit Bibelsprüchen.