[1084] Das Tor [Giada, (SL)]

[August '23]
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Giada Salvaza Rossi
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[1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Untermalung

Der Palazzo imperiale romano di Milano war ein ausufernder Gebäudekomplex von der Größe eines ganzen Stadtteiles. Über achtzigtausend Quadratmeter war er angeschwollen - und das maß nur die Fläche seines Grundes. Tatsächlich gab es ein Labyrinth von oben und unten, ein Geflecht aller Räume, Korridore und Fluchten, Treppen hinauf und hinab, Säle und Kammern, Nischen und Flure, Hallen, Terrassen, Gärten, Balkone oder Lager.

Die Mächtigen wandelten hier, wo einst das Zentrum der Macht Westroms gelegen hatte. Danach waren die Goten gekommen, die Langobarden, die Karolinger. Jetzt waren es auch deutsche Zungen, in denen hier gesprochen und geschachert wurde.
Doch der Palazzo hatte auch seine andere Seite, die Herrschaft in der Nacht. Tief in den Eingeweiden des Palastes würde in dieser Nacht etwas davon spürbar werden.

Giada Salvaza Rossi war keine dieser Mächtigen der Nacht, weder in dieser noch in einer anderen. Nirgendwo wurde das sichtbarer als hier, in diesem riesigen, wuchernden Altar der Macht. Doch sie war hier, um auf jenem Altar zu opfern oder geopfert zu werden. Die Grenze zwischen beidem war fein und manchmal nur eine Frage des Blickwinkels.
Sie war ein Teil davon. Ein Teil des Altares, ein Teil des Blutes, ein Teil des Opfers und jener, die es darbrachten.

In dieser Nacht hatte sie all den Anschein abgelegt, den sie sonst mit sich trug. Fort waren die Gewänder der Matrone eines reichen Hauses. Fort die Maskeraden lebendiger Sitten, Ansprüche, Verbindungen. Und hier musste sie auch nicht ihren winzigen Teil dieser, ihrer Heimat in der Ferne tragen und zeigen. Hier blieb sie selbst.
Und so war ihr Gewand schlicht und dunkel, einfach gegürtet und ohne Schmuck. Ihr Kopf blieb gesenkt und in ihren Gedanken kreisten die Worte der Gebete, die sie Perle für Perle den Rosenkranz herunter betete, welchen sie um ein Handgelenk geschlungen trug.

Welchen Wert hat der Glaube auf dem Altar der Macht?
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Il Canzoniere
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Il Canzoniere »

Irgendwo ganz hinten im Palast. Ganz unten. Ganz durch. Über den letzten Innenhof drüber. Hinter der letzten Tür, den letzten Gang entlang, die letzte Treppe hinab, hinter jenem Abschnitt für den Geländer, dekorative Oberflächen und Vorhänge gedacht waren, da gab es eine Kammer.

Jener Raum lag so weit draußen, so weit drinnen, soweit ab von den anderen Räumen des Palastes, das er beinahe schon nicht mehr zu dieser Welt gehörte. Er war ungehörig düster. Kein Licht brannte hier. Selbst die letzten durchquerten Gänge und Räume waren schon so lange dunkel, dass sie vergessen hatten wie sich das Licht anfühlen mochte. Selbst das Sternen- oder gar das Mondlicht war hinter dicken Wänden, Türen, Pforten, Gattern und Verschläge verborgen.

Es gab jedoch noch weitere Eigenheiten: die lichtlosen Kreaturen die jenes Zimmer sonst für sich beanspruchten, flohen bereits seit Stunden. Asseln rannten in Scharen die Wände entlang, nur weg von jenem Saal, Würmer, Ameisen und Käfer flogen, krochen und eilten den Fußboden und die Decken entlang, über farblose dicke Teppiche hinweg oder drunter durch, an den Legekanten steinerner Fliesen entlang und vor der Dunkelheit hinfort. Jede Kerze in diesem Teil des Palastes erstarb, als sich Motten und Nachtfalter, Fliegen und Käfer in gieriger Absicht selbst hineinsteuerte. Kaminfeuer fraßen gierig die organische Nahrung die sich dieses Nächtens so bereitwillig den Flammen preisgab.

Gestalten, in einem schwarz gekleidet, welches jeden Geist verwirrte der es zu lange betrachtete, schritten zirkelnd auf eben jene Halle zu. Hinabsteigend tiefer und tiefer zum Grund hinab. Einzeln oder in kleinen Gruppen. Hier einer Tür die sich öffnete, dort eine Abzweigung um die plötzlich jemand bog. Gehüllt in Schatten, Nacht, Dunkelheit und Schwärze glitten spiegellose Kreaturen in geräuschlosen Schuhen über wegelose Gänge.

Kälte kroch mit der Dunkelheit einher und vertrieb das Leben wie sich ausbreitender Frost. Heute Nacht war es soweit. Manche Türen würden sich öffnen. Andere sich schließen. Man würde das Weltenkonstrukt, Gottes Schöpfung, die Realität, aufreißen und feine, mit schwarzem Salz gezogene Linien übertreten.

Sie sammelten sich in jenem Kämmerchen von dem alles ausging, mehrere Schritte auseinander stehend, schweigend, sich belauernd. Zeremonienmeister, Hexer und Lichtlose. Akolythen, Kultisten und Enigmisten. Gekleidet in das Nichts jenseits der Weiten der Nacht. Ein dünner Hauch von Vitae duftete in den Saal, ließ jeden von ihnen nervös von einem Bein aufs andere treten. Sie warteten. Jeder auf seine Weise. Auf und abwandernd wie eine Katze. Still und stur wie eine Felssäule. Kniend und betend. Stehend und lauschend.

Etwas zog herauf.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Diese Nacht war schwarz und mondlos. Es wäre so einfach, sich in ihrer Schwärze und der Stille des Palastes zu verlieren und auf Knien zu verharren.

Doch Giada erhob sich und mit jeder kleinen Bewegung rezitierte sie eine weitere Zeile ihres Gebetes. Die Worte begleiteten sie seit all dieser Zeit Vorbereitung und sie sprach sie im Geiste als hinge ihre Existenz und ihre Seele von ihnen ab. Denn vielleicht war dies so. Sie sprach die letzten Zeilen:

”In alle Zeit, auf unermüdliche Weise will ich Dein Werk tun,
Niemals stocken, niemals innehalten, niemals gebrochen in der Hoffnung
Oh tausendfach tausend Dank, oh Herr, dass du den Weg uns weist.


Und kaum dass sie ausgesprochen hatte, begann sie von neuem, als sie sich erhob. Sie griff nach einem Krug aus dunklem Ton, in welchem sie etwas vom kalten Wasser ihrer Zuflucht trug. Sie hatte es zum letzten Neumond geschöpft und versiegelt, so dass niemals ein Lichtstrahl daran gelangte. Es war eine Gabe, ein Opfer und eine Opferung ihres alten Seins, jener alten Zuflucht, jener alten Hülle. Ganz gleich wie diese Nacht und der nächste, grelle Tag enden würden: Sie würde eine andere werden als sie gewesen war. Dies war ein Abschied.

Mit dem Krug in den Händen brach sie auf, barfuß und bar aller Hoffnungen. Jeder Schritt, mit welchem sie sich auf den Weg hinab in die Dunkelheit begab, trennte sie einen Schritt weiter von den schönen Illusionen, sanften Hoffnungen, den allzu hübschen, farbenfrohen Lügen dieser Welt.
Was blieb, wenn all das Beiwerk bedeutungslos zerschellte? Dies würde sie herausfinden.

So schloss sie sich dem Gang hinab in die Kammer an. Es gab kein Zurück.
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Il Canzoniere
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Il Canzoniere »

Ein Spiegel. Übermannshoch und doppelt so breit, getragen von einem Rahmen aus geschmortem Holz, dominierte das Innere der Halle. Schwarze Vitae, mit den Fingern verteilt, zeichnete für die Augen schmerzhafte Symbole über die verbrannten, schnörkeligen Verzierungen. Ein leichter Hauch von verbranntem Fett hing ihm nach, als ob mit ihm noch etwas anderes verbrannt sei. Doch der süße Geruch nach Vitae, nach alter Vitae, überlagerte alles was einmal Sterblich gewesen war.

Jemand musste ihn Tag und Nacht poliert haben, so sehr spiegelte er. Und trotz der absoluten Finsternis die die Szenerie umgab, schien es dennoch den Eintretenden bewusst zu sein, das er dort war. Waren es Blinde, die die Dunkelheit nicht kümmerte? Waren es Sehende, dessen Augen die Dunkelheit durchstachen? Waren es Heimische, denen jeder Schritt so vertraut war, das sie nichts ins Wanken bringen konnte? Waren es die Hexer selbst, die ihn dort platziert hatten und nun hierher zurückkehrten? Befähigte eine dunkle Kraft sie mit solch schlafwandlerischer Sicherheit durch die Gefilde jenseits des Lichts zu wandern? Waren es abgründige Verbündete, deren dunkle Segnungen die Gäste innerhalb des Kämmerchens ihren Tritt finden ließen?

Es blieb unklar. Denn Schweigen begleitete die Eintretenden wie eine zweite Haut. In einem Halbkreis nahmen sie Aufstellung rechts und links des Spiegels. Von dort wo sein Rahmen den Boden berührte bis beinahe dorthin, wo man ihm direkt gegenüber gestanden hätte. Einen einzelnen Platz in ihrer Mitte frei lassend. Jeder von ihnen konnte in den Spiegel schauen, aber niemand blickte zurück. Die andere Seite des silbernen Konstruktes reflektierte nichts. Kein abwesendes Licht und auch sonst nichts... außer einer einzelnen Gestalt. Jener die dort stand, auf der rechten Seite, die zweite neben dem freigelassenen Platz, inmitten zwischen den neben ihm stehenden, an keiner sonderlich hervorgehebobenen Stelle, jener hatte etwas auf der anderen Seite, ein Ebenbild, sichtbar nur für jene denen das abwesende Licht nicht zu schaffen machte.

Wieso hatte jener dort ein Ebenbild? Mochte man sich fragen. Aber es war nicht die eigenartigste Sache im Saal. Ein anderer von ihnen wisperte leise Laute in einer Sprache die einem Sterblichen die Augäpfel hätten versilbern lassen. In ungekannten Vokalen erbrach er schweigend eine Serenate seidener Liebkosungen und die Vitae im Herzen der meisten begann sich zu erhitzen wie eine Hand die zu lange das gefrorene Eisen umklammerten. Brennend befleckten unmögliche Geräusche die Geister der Verfluchten...

In jene Szenerie wurde Giada nun hineingeboren. Als letzte der Erreichenden fand sie jenes Zimmer bereits im verzehrenden Kantus dunkler Lieder wieder. Es war soweit.

Unheil zog herauf.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Giada war nicht blind in dieser Finsternis. Sie sah die Welt auf diese Weise wahrer und besser als sie sich unter dem verlogenen Flackern kleiner Lichter oder den unendlich fernen, hohlen Versprechungen der Gestirne geben wollte. Ihre Verachtung für Blindheit und Ignoranz hatten sie schon vor Jahren dazu gebracht, Splitter aus Finsternis in ihre Augen zu stechen - und wenn es damals jenes gelogene Augenlicht gekostet hätte, wäre es auch recht gewesen. Sie hatte nicht nach Licht gesucht, als sie den Ritus vollführt hatte.

Es war dieser Moment, in dem sie die Kammer betrat, der sie beinahe hätte zerbrechen lassen. Es lag nicht an einer einzelnen Sache. Nicht an dem Gesang, der über sie hinwegwusch und zugleich ihr Blut zum Singen zu bringen schien, heißer und heißer als würde in seinem Brennen aller Schmutz, alle Schwäche verglühen müssen.
Nicht an der Reihe der Gestalten hier, unter ihnen ihre Meister, Lehrer, Erschaffer - und nun auch Zeugen. Es war nicht jener eine Schatten im Spiegel, welcher sie vor allem anderen erkennen ließ, zu wessen Gestalt er gehörte. Es war nicht der Klang, nicht der Geruch von Blut, das Gewicht von Macht und Finsternis. Nein, es waren nicht diese einzelnen Dinge, die sie zu überwältigen drohten.

Es war die Gewalt des Augenblickes selbst. Sie würde aus dieser Kammer nicht mehr heraustreten. Wenn ihr Körper tatsächlich wieder hinaus ginge, so wäre sie selbst doch nicht mehr dieselbe.
Für einen Augenblick drohte die Angst, sie zu überwältigen. Sie spürte, wie die Bestie in ihrem Inneren sich unruhig regte - oder war es nur ihre eigene Seele, die blind verstand, dass dies nun alles ändern würde? Die Unruhe brodelte zwischen dem Hunger nach Macht, nach Blut, nach dem Ende der elenden Schwäche, der Zweifel, dem Ausmerzen all der Illusionen und Lügen und Gaukeleien.
Ja, was sie erwartete, war die Gewissheit der nächsten Schritte bis in alle Ewigkeit. Und wenn dies die Asche ihrer eigenen Existenz würde, dann war dies so. Sie konnte sich einer Sache gewiss sein in dieser Kammer: Keine Schwäche würde in ihr überdauern. Und wenn sie selbst zu sehr von Schwäche durchsetzt war, dann würde sie hier enden. Und dies war recht, bei ihrem Blut, bei uraltem Pakt und bei Finsternis.

Sie rang ihre Angst nieder und trat in die Mitte der Kammer, vor jenen Spiegel. Sie ließ den Gesang ihre Angst fortspülen und stimmte in ihn ein, wo sie seine Silben erkannte. Ihr Geist konnte klarer und klarer werden, je mehr sie diese Angst von Körper und Sterblichkeit forttragen ließ. Ob sie jemals davon frei sein könnte? Sie wusste es nicht, doch für dies, für nun, konnte sie diese Dinge wie Opfergaben vor dem Spiegel darbringen und aufgeben.

Und erst, als sie sich leer und klar fühlte, verstummte sie. Sie richtete den Blick ihrer abgrundschwarzen Augen auf den Spiegel.
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Il Canzoniere
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Il Canzoniere »

Wenn man geglaubt hatte, dass nun der Höhepunkt der Zeremonie erreicht war, dann irrte man. Auch als jene urtümliche Beschwörungshymen abgebrochen war, als Giada ihren Platz eingenommen hatte, passierte nichts. Sie stand einfach nur jenem Spiegel gegenüber, sich selbst nicht wahrnehmend, aufgrund ihres Blutes. All jene anderen - mit einer Ausnahme - nicht wahrnehmend, aufgrund deren Blutes. Nur sich und die Dunkelheit die wie ein lebendes Gewebe ein- und ausatmete. Sich zusammenzog und auseinanderbog in jenem Raum, jener Kammer, jener Höhle in der sie standen.

Reglos betrachteten die Anwesenden das matte Atmen des Abyss im Spiegel. Das auf und ab der fremdartigen Gezeiten. Die hintergründige Bewegung dieser See der Schatten. Minuten vergingen und wenig mehr geschah außer das Giada den Eindruck hatte das jener Spiegel ihr ein winziges Stück näher gekommen war. Die erste Stunde war herum, da gab es auf jener anderen Seite eine irrational, winzige Bewegung welche nicht in das - zwar verstörende, aber dennoch mit einer gewissen Gleichmäßigkeit ausgestattete - Bild der Finsternis auf der anderen Seite passte. Als ob dort mehr wäre als lediglich Schatten, Nacht, Dunkelheit und Schwärze. Es blieb jedoch dabei.

Die zweite Stunde war bereits vorbei und ein guter Teil der darauffolgenden, als Giada einen eigenartigen Abdruck am Rande des Spiegels erkannte. Wie schwache Konturen. Schwarz auf schwarz und unsichtbar für jeden der nicht mit dem Horror jener schwarzen Augen gestraft war, den sich die Monster ihres Blute als "Geschenk" schönredeten.

Langsam und von Stunde zu Stunde deutlicher, zeichnete sich dort eine Kontur ab die sie seit Jahrzehnten so nicht mehr in einem Spiegel gesehen hat. Ein Ebenbild, farblos und vage, an den Rändern mit einer gewissen Unschärfe, aber dennoch mehr und mehr etwas das sich dort vor ihr abzeichnete wie ein düsteres Spiegelbild welches aus dem Urschlamm des Abyss erhoben wurde. Erhoben durch eine Macht jenseits des Spiegels. Jenseits dieser Welt. Jenseits der Realität und jenseits von Gottes Schöpfung. Dort draußen gab es eine Macht die eine krude, urtümliche Form der Kommunikation gebar und dennoch vor ihren eigenen Augen existierte.

Still, wie Giada selbst, ruhte jenes was nicht sein durfte auf der anderen Seite des Silbers. Wie eines geduldigen Bildhauers Modell, welcher Konturen und Details nacheinander aus dem Urgestein der Welt formte. Und etwas in ihr, in Giada, war Teil von dem dort drüben. Sie konnte die Sehnsucht in ihrem Blut spüren wie später jemand der Süßstoff aß die Sucht nach Zucker.

Etwas da draußen rief nach ihr.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Warum warf ihre Gestalt einen Schatten, aber hatte ihr Spiegelbild verloren als sie das schwarze, tote Blut ihrer Erzeugerin getrunken hatte? Sie hatte lange mit dieser Frage gerungen. Antworten wie diese wurden einem nicht gereicht. Man rang darum, zog sie mit Geduld, mit Gewalt, mit Mühe aus anderen Antworten, die man der Welt abrang.

Dies war, wie weit sie damit gekommen war: Ein Schatten konnte in dieser Welt sein, wo die grelle, geifernde Gaukelei des Lichtes nicht hinreichte. Er wuchs und blühte dort, wo ihr eigener Leib ihn vom Licht abschirmte. Ein Spiegelbild aber war aus Licht gemacht: Licht und Farben, die von klarem Wasser zurückgeworfen wurden. Oder von einer silbernen Scheibe. Doch ebenso, wie Giada ihr Augenlicht zu opfern bereit gewesen war, um in die Finsternis zu blicken, eben so war einst ein anderer bereit gewesen, das Licht seines Lebens und seiner Seele zu opfern. Und dieses Opfer hatte sich fortgesetzt, in seinen Kindern und Kindeskindern und ebenso auch in ihr. Ihre Gestalt warf kein Bildnis aus Licht und Farben auf gleißende Flächen und so gab es keine Bilder, die gespiegelt wurden.
Das war, wie Giada das Mysterium des Spiegel begriffen hatte. Vielleicht würde sie einst lernen, was die Wahrheit war.

Doch der Spiegel vor ihr war etwas anderes geworden als ein bloßes Ding aus Silber. In der lichtlosen Kammer, unter dem Sog der Finsternis in ihrem Blut war er kein Ding mehr, welches Licht zurückwerfen würde. Stattdessen öffnete er sich so wie ein Tor sich öffnet. Er ließ ihre Blicke ein. Ein Ruf drang heraus, von hinter jenem Silber her.
Sie hob wie im Reflex zum Schutz den Rosenkranz an doch das Ding, das sie so lange Jahrzehnte begleitet hatte, an welchem sie Perle für Perle Halt gefunden, welches sie mit Zaubermacht aus dieser Welt durchtränkt hatte, fühlte sich leer an. Vor der Sehnsucht ihres Blutes war es nichts wert.

Hoffnungen sind wie wunderbare, schimmernde Schmuckstücke, an welchen sich ein Verstand erfreuen und sich weiden kann. Manchmal sind sie stark genug, um eine Seele aufrecht zu halten. Manchmal zerspringen sie in billige Splitter wertloser Nichtigkeiten.

Der Glaube, die Religion, Gottes Versprechen - sie alle, so verstand Giada in diesem Augenblick fahler Enttäuschung einmal mehr, waren nichts anderes als eben genau dies: Hoffnungen. Leere, nichtige, hübsche Hoffnungen. Lügen dieser Welt, Lügen, die den Verstand vor Verzweiflung und Wahnsinn bewahren sollten. Vor Fragen, die zu tief und zu schneidend waren. Vor Antworten, die zu weit gingen. Sie wurden von Menschen und sogar von Kainiten aufgehäuft, so dass man nur noch darauf seinen Blick richten musste. Je höher die gleißenden Haufen dieses Lügenwerkes waren, je dichter und fester sie gewoben waren, desto sicherer konnte man gehen und musste nicht sehen, nicht wissen, nicht fragen, was die Wahrheit hinter alledem war.

Sie ließ die Hand mit dem Rosenkranz sinken und wusste, dass es nichts zwischen ihr und diesem Tor geben konnte. Mit ihm ließ sie eine weitere der Hoffnungen fahren, die sie mit sich durch die Jahre, Jahrzehnte und nun auch Jahrhunderte geschleppt hatte.


Eine unbeschreibliche, befreiende Leichtigkeit liegt hinter diesem Segen, dass es noch eine Sache weniger gibt, die man verlieren kann. Erleichtert trat sie einen Schritt auf den Spiegel zu, der keiner mehr war. Dann einen weiteren Schritt, noch einen. Kaum eine Handbreit trennte sie mehr von der Schwärze, die seine Oberfläche geworden war.

Sie wollte keine Lügen mehr sehen. Sie hatte das Licht hinter sich gelassen, die Hoffnung, die Lügen. Mit ihrem Blick, der von allem Licht befreit war, folgte sie dem Ruf aus dem Abgrund, um zu sehen.

Um endlich zu sehen.


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Il Canzoniere
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Il Canzoniere »

Die Zeit verging langsam, wie alsob man jedes Sandkorn einzeln durch das Getriebe seiner Uhr laufen sehen könnte. Zäh wie solche schweigenden Moment in der Finsternis sein konnte. Allein, wie sie es waren, wenn jeder der hier war nur an sich selbst denken mochte. Stunde um Stunde verging bis jene die nur die Nacht kannten, langsam merkten das sie von Müdigkeit ergriffen wurden. Die Älteren als erstes. Die Verdorbenen, die Unmenschlichen. Sie blieben dort wo sie standen. In der ersten Stunde. Es wurde jedoch immer schwerer. Immer heller graute draußen die Morgenröte und schließlich, kam Bewegung in die Reihen der Verharrenden. Zuerst kam jener Kantus in einer Sprache die fern des Verstandes weilte. Apokryphe Silben in mehrzüngigem Gewirr non-euklydischer Wortfetzen. Nicht von der Luft getragene Laute psychischer Verstümmelung und Gestiken ohne die Kenntnisse um Extremitäten und Funktionen menschlicher Statur. Einer nach dem anderen markierten die Beobachter ihren Standort mit schwarzem Salz, traten zurück und verließen schweigend den Raum. Als letzter jener der soeben noch geklungen hatte. Er schloss eine Tür hinter sich die so schwarz war wie der Abyss selbst, so klanglos wie die Schatten, so leicht wie die Nacht, so massiv wie die Blindheit. Eine Tür ohne Riegel und ohne Schloss. Ohne Schwelle und ohne Angeln. Ohne Bogen und ohne Spalt. Sie war wie eine Mauer ohne Fugen. Eine Wand aus Dunkelheit, Abgrund, Chaos und Nichtbegreifens. Sie hatte keine Klinke und keinen Klopfer. Wer sie durchschreiten wollte, musste ohne jenes irdische Verständnis einer Tür auskommen das sich in den Köpfen festgesetzt hatte wie eine Idee.

Die Gewänder der Verlassenden schleiften kurz darauf über die staubigen Teppiche in nahen und fernen Gängen, sie betteten sich in lichtlosen Kammer zur Ruhe und begrüßten den Tod wie einen Teil ihrer selbst. Sie würden sich erst in der kommenden Nacht erheben und die Ernte einfahren, von jenem, was sie heute NAcht gesäht hatten.

Zurück blieb eine einzelne Gestalt. Giada, die nun ebenfalls immer müder wurde. Sie war sich sicher das sie diesen Teil des Rituals nicht verschlafen sollte. Gerade nicht hier, vor dem Spiegel, aber trotz aller Finsternis. Trotz des Gegenteils von Licht in dieser Kammer, bäumte sich der Fluch der in ihre Knochen gewebt worden war langsam auf. Draußen mochte die Sonne ihren Weg an den Himmel gefunden haben.

Der wahre Kampf, begann für sie erst jetzt.
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Giada Salvaza Rossi
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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Giada Salvaza Rossi »

Sie achtete nicht mehr auf jene, die hinter ihr waren. Ja, sie hatte all die Jahre gebangt. Ja, sie hatte sich an ihre Grenzen getrieben. Und darüber hinaus. Ihr Verstand war gebrochen und gedehnt worden. Sie hatte Spott geerntet. Zorn. Verachtung.
Sie hatte knien müssen, stehen müssen, kämpfen müssen, stillhalten müssen und hundert Sachen dazwischen in all ihren grotesk verzerrten Spielarten. Nichts war wahr. Alles war wahr. Alles lag in jemandes Hand, jeder griff und zog und rang und grub Klauen und Zähne in seinen verzweifelt kleinen, billigen Teil der Dinge.

Sie hatten ihr gedroht. Sie wollten ihr Blut zurückverlangen. Er, der Versucher, hatte es als seinen Zug gegen die anderen gewendet. Sie hatten es so angenommen und tanzten seinen Tanz. Giada war ein Werkzeug, eine Figur auf dem Brett, eine zu zahlende Münze, die zwischen Daumen und Zeigefinger blankgerieben wurde.

Eine Tyrannin konnte nicht erfüllen, was sie tun sollte. Eine der Himmlischen war zu schwer lenkbar für die Könige. Eine, die zu leicht schwankte und nur gehorchte, war zu schwach für das Blut der Nacht. Und so weiter und so fort, ohne Ende, ohne Sinn, ohne Ziel. Sie alle balgten sich um eine erlegte Beute, um das rohe Stück Fleisch. Alle zerrten daran bis es im Staub und Dreck, zerfleischt und abgerissen kaum mehr zu erkennen war. Und wozu? Wozu?

Es war diese Frage gewesen, die Giada über die Grenzen dessen hinaus getrieben hatte, das sie je zu denken gewagt hatte. Quis quo it?
Es sind stets jene kleinen, einfachen Dinge, an welchen sich alles entscheidet.


Doch es war wie stets: Die Alten und die Mächtigen hatten sie in die Kammer gelassen. Sie hatten den Spiegel errichtet. Sie hatten den Gesang angestimmt. Und nun, einer nach dem anderen, fielen sie ab.
Sie blieb allein zurück. Wozu?

Ja, sie war müde. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Und sie wusste, wenn sie diesem Gewicht ihres Körpers nachgeben sollte, dann würde sie ewig darin gefangen sein. Ewig das Stück Fleisch, an welchem alle zerren würden. Ewig hin- und hergerissen in den Fallen, Schlingen, Notwendigkeiten, Wünschen, Träumen dieser müden, alten Welt.
Doch diese Welt war eine Lüge. Ihr Licht war eine Lüge. Die Sonne brannte darüber wie die eitrige Entzündung einer Pestbeule in all ihren schillernden, verottenden Farben.

Giada war es leid. Sie war es so entsetzlich leid. Nie wieder wollte sie blind in der Dunkelheit bleiben. Einst, so hatte man es sie gelehrt, hatte es einen Pakt gegeben. Sie kannte die Gründe nicht und was ihr genannt wurde, hatte nach Angst, nach Machtgier, nach Selbstzweifeln geklungen. Nach Schwäche, die keinen Sinn ergab für einen solchen Pakt. Sie glaubte nicht mehr an diese falschen Gründe, weil sie von Meistern der Lüge gelehrt worden war und wusste, dass es keine Wahrheiten gab außer jenen, die man schuf. Und diese Hände selbst waren aus nichts als Falschheiten gemacht, dem Stoff dieser Welt.

Es war möglich, sich abzuwenden. Fort vom Licht und seiner Lüge. Fort von der Illusion der Schöpfung, diesem wie im Fiebertraum gezuckten Blinzeln, dem Seelenfang des Daseins selbst.
Und Giada wandte sich ab. Sollten ihre Glieder sein wie Blei. Sollten ihre Ältesten und Ahnen abfallen wie blasse Schatten. Ihr Wille blieb und sie ergoss ihn und sich selbst, ihre Seele und ihr Sein, in die Wahrheit der Finsternis, um endlich, endlich zu sehen.

Die Prüfung begann hier, in diesem Augenblick, in dem sie alles zu opfern bereit war. Alles von dieser Welt, denn es war nichts. Nichts als Lügen.

Was bleibt?


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Re: [1084] Das Tor [Giada, (SL)]

Beitrag von Il Canzoniere »

Es stimmt nicht völlig, das die Alten Giada allein gelassen hätten. Das wurde nach einer Weile klar. Eine oder gar zwei Stunden nach Sonnenaufgang blickte jene Silhouette in der Dunkelheit, auf der anderen Seite des Silbers, zu ihr zurück. Es starrte direkt dort hinaus, aus jenem Schatten. In der ihrigen Gestalt benahm es sich wie ein Spiegelbild,auch wenn nichts ferner liegen könnte. Jede noch so leichte Bewegung wurde gespiegelt.

Als die dritte Stunde nach dem Sonnenaufgang gekommen war, begann sich das Blatt zu drehen. Nun war Giada es, die das Spiegelbild war. Wie von einer ungeborenen Kraft dazu gedrängt spiegelte nun sie jene winzigen Bewegungen die die Dunkelheit auf der anderen Seite des Spiegels ausführte. Wie ein Baum bewegte sie sich in ungesehenem Wind, der vielleicht auf der anderen Seite der Barriere wehte, jedoch nicht hier, in diesem Saal.

Zur fünften Stunde nach dem Sonnenaufgang, der Mittag mochte sich nähern, konnte sie dann mit einem mal hören. Das wispern auf der anderen Seite. Die katatonischen Seufzer von den Anfängen der Zeit. Die raunenden Geräusche von jenem das Gott mit seiner Schöpfung verdrängt hatte. Abartige Arien allererster Akteure arteten in brachiales Bellen blindwütiger Bargheste aus. Sie spürte wie eine schwarze Flüssigkeit ihr langsam aus dem Ohr hinaus tröpfelte. dickflüssig wie Teer, Gerüche nach Pech und Honig mit sich bringend.

Die sechste Stunde nach Sonnenaufgang spürte sie, das irgendetwas nicht richtig war. Dort, wo sich ihr Herz befunden haben mochte,spürte sie einen kurzen Stich. Eine Weile später erneut. Wie ein Sterblicher dessen Herzanfall sich ankündigte nahmen sie an Dauer, Intensität und Häufigkeit zu. Jene Kreatur auf der anderen Seite des Spiegels, begnügte sich damit zu starren.

In der achten Stunde nach Sonnenaufgang war ihr, als gefriere ihr Herz. Tausend tastende Nadeln aus Eisen und Eis stachen hinein wie in ein Nadelkissen. Beweugungsunfähig jenem Schrecken ausgeliefert spürte sie jenen kalten Fleck in ihrer Brust kälter und kälter werden. Hatte sie bereits zuvor gedacht das sie ein kaltes Herz gehabt hatte, es war nicht vergleichbar zu dem was jetzt passierte.

Zehn Stunden nach Sonnenaufgang brach dann etwas. Irgendwo ganz tief drin, dort wo ihre Seele sich verstecken mochte, knackte es fühlbar und ein unwahrscheinlicher Unterdruck saugte Giadas Seele in den Nimbus. Sie würden sich nie mehr wiedersehen. Stattdessen krabbelte dort etwas heraus. Etwas unfassbar winziges. Wie eine winzige Spinne, mit dem bloßen Auge sicherlich nicht zu erkennen... und begann sofort jenes Herz in der Brust der Lasombra mit feinen Fäden finsterster Follikel zu füllen. Giada spürte geradezu wie ein Netz sich hier sponn. Wie der Abyss sie erkundete, wie sie es einst mit ihm getan hatte.

Die elfte Stunde nach Sonnenaufgang war bisher die verstörendste. Bilder undenkbarer Landschaften, wahnsinniger Konstrukte und unbeschreibbarer Architektur huschten durch ihren Geist wie Rauch und Nebel. Benetzten jeden ihrer Gedanken mit düsterem Tau aus Chaos und Schwärze. Versprachen Verlockungen fern aller Vorstellungskraft. Deuteten Geheimnisse an, die kein Auge je erblickt hatte. Und doch. Irgendetwas in ihr kannte all jenes undenkbare. All jenes nicht greifbare, nicht euklidische, nicht erfassbare.

Und dann, zur zwölften Stunden nach dem Sonnenaufgang, kam ihr ein absurder Gedanke. So düster wie ketzerisch. So abwegig wie unbegreifbar. So falsch wie auch wahr: Dies sind die Länder in denen Gott geboren worden war. Hier hatte er es gemeistert die Schöpfung zu schöpfen. Das Licht zu schaffen. Flüche zu erfinden. Wenn es also einen Weg gab den Fluch Gottes über Kain zu brechen. Wenn es einen Weg gab Gott selbst zu verstehen, zu werden oder zu töten, dann musste man hier anfangen. Hier, in der Düsterheit des Kellers der Schöpfung. Hier konnte man die Wege finden die Gott selbst erfunden oder gefunden? ...hatte. Dies war das Muster des Schicksals. Das wahre Reich der Geheimnisse. Das hatte ihr Clansgründer erkannt, als er einen Pakt mit dem Abyss einging und ihn ergründen zu können und das konnte nun auch sie tun. Giada Salvaza Rossi. Erste ihres Namens.

Unklar, wie lange sie diesen Gedanken, der sich wie der Wahnsinn höchstselbst in ihren Geist geschraubt hatte, wie Wein an einer Mauer verankert, wie Wasser in einen Felsen gegraben, gedacht hatte. Sie ward wiedergeborene. Verdunkelt - um nicht erleuchtet zu sagen. Ihr war die ursprüngliche Wahrheit zuteil geworden.

Das Tor stand offen.
Gesperrt

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