[1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

[September '23]
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Harl
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[1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Harl »

Stadt- und Wehrmauern sind eine Errungenschaft der Zivilisation. Anders als die einfachen Mauern oder schlichtweg Wände eines Hauses dienen sie nicht dazu, die Wärme drinnen, die Kälte draußen und das Dach oben zu halten. Sie tun herzlich wenig für das Wetter, sind bestenfalls mal ein Windschutz, meistens aber eher ein Windfang, in dem es heult und pfeift.

Mauern wie die Stadtmauer Genuas zeichnen sich dadurch aus, dass sie Menschen draußen oder drinnen halten. Dass sie Grenzen ziehen, drinnen und draußen, wir und die da draußen. Und genau darum zeichnen sich solche Mauern nicht allein durch ihre Stärke, Dicke, Höhe oder Festigkeit aus sondern auch und insbesondere durch die Lücken, die sie lassen: Die Tore, die Nischen, die Wehranlagen. Denn solche Lücken bestimmen, wer eben doch die gezogenen Grenzen von Drinnen und Draußen überqueren kann. Was hingegen keine Errungenschaft der Zivilisation ist sondern wesentlich älter und zeitloser, ist die Suche nach Schlupflöchern, Schleichwegen und Schwachstellen.

Genau auf der Suche nach einer solchen Schwachstelle in dem ganzen Bollwerk der Zivilisation war in dieser Nacht ein drahtiger, kleiner Mann. Die Suche war deshalb für ihn einfacher, weil er die Mauer von einem nicht unbedingt gewöhnlichen Winkel her beschaute, denn er kam vom Wasser her. Er hatte sich nahe der Wehranlagen an Land gezogen, nackt wie einer, der gerade sein Bad genommen hatte und war nun dabei, die Stadtmauer zu ihrer Außenseite hin zu umrunden, schwimmend, kletternd oder kriechend. Es war ein eher mühseliges, vorsichtiges Fortkommen, verstohlen und methodisch.
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)

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Agnellina
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Agnellina »

Von der Landseite her streifte aus leisen Sohlen eine junge Frau an der Küste entlang. Auch sie suchte nach Schleichwegen, nach Lücken im Hindernis zwischen ihrem Mitternachtstisch und dem Tummelplatz der Gesellschaft. Dabei verband sie das Nützliche mit dem Erforderlichen. Sie lauschte nach dem leisen, nächtlichen Krächzen der Meeresvögel.
Das dunkle Gefieder eines Kormorans war in der Nacht schwer zu entdecken. Die Möwen waren da leichter zu finden, verriet das Mondlicht doch gern ihre Nistplätze, wenn es auf die hellen Federn traf. Aber der Kormoran war einfach größer, war die bessere Beute für sie. Die Brutzeit war so gut wie vorüber. Es würden die letzten Eier des Jahres sein, die nun gerade in den Nestern gehegt wurden.

Sie näherte sich den Felsen, von denen her sie kehliges, tiefes Gackern hörte, ein gekrächztes „Chroho. Chrohochro-oh.“ Es war leise, die Tiere waren noch nicht aufgeregt, hatte ihre Witterung im ruhigen, anlandigen Wind noch nicht bemerkt. Dort also. Sie waren sehr leise Vögel, riefen selten im Vergleich zu den lauten, ständig plappernden und schreienden Möwen, die aufgeregt überall zu hören waren, sobald sie erwachten. Aber sie waren dumm, waren sie aufgescheucht und riefen, dann waren die Männchen laut und sie riefen oft in der Nähe ihrer Nester. So viel hatte sie schon beobachten können. Agnellina bemühte sich die Tonfolge der Weibchen zwischen dem Wellenschlag und dem Chroho der Männchen zu hören. Das hohe „flii-flii-flii“ versuchte sie auf ihre eigenen Lippen zu legen und sich dem Nest zu nähern.
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Harl
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Harl »

Dämliche Möwen in der Tat. Für den Mann waren sie hauptsächlich eine Plage und ihr Dreck mit seiner weißlich-grauen Patina auf Steinen und Felsen ein echtes Problem. Er zog sich gerade ein Stück weit höher auf eine Kante herauf, glitt mit seinen nackten Füßen auf genau diesem Vogeldreck aus und rutschte halb wieder ab, als er dann aus dem Augenwinkel heraus die andere Bewegung mitbekam.

Seine Sinne schärften sich in diesem jähen Moment der Überraschung wie im Reflex, der Geruch von Salz und Tang, Fels und Vögeln und …etwas anderem war da. Der Zug und Druck von Wind und Fels gegen seine Haut, die kaum zu sortierende Kakophonie von Möwenschreien, Wellen und dem Pfeifen des Windes.

Es war ein Moment von brillanter, nächtlicher Klarheit und zugleich hing er vollkommen in der Schwebe so wie man eben in der Schwebe hängt, wenn man nur an seinen Händen und Fingern noch einen Halt hat und diese langsam am feuchten Fels abgleiten wollen. Seine Zehen suchten kratzend den Vorsprung von zuvor. Die eine, absolut klare Sekunde zog sich in die Länge einer Ewigkeit.
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Agnellina »

Das Trillern klang in ihren eigenen Ohren falsch und auch die Tölpel reagierten mit Verstummen auf das fremde Zwitschern, das nicht richtig zu ihrem Lautrepertoire passte. Dennoch näherte sich Agnellina der Richtung, aus welcher das Krächzen gekommen war. Dort zwischen den Felsenklippen war wohl eines der Nester zu finden. Sie überlegte. Es würde wenig Platz sein, die Vögel bauten sehr knapp auf den Vorsprüngen. Aber an sich reichte die Grundfläche des Nestes. Die größte Schwierigkeit würde in der Frage liegen, wie sie vom Vorsprung wieder nach oben kam. Langsam, um die Vögel nicht weiter aufzuscheuchen, spähte sie über den Rand, um die Lage vom Nest auszumachen.

Die Möwen begannen zu kreischen. Sie hielt inne, lauschte nach der Richtung der Quelle. Nicht in der absoluten Nähe, nicht sie hatte die Möwen aufgeschreckt. Rechts. Von rechts kam das Geschrei. Sie suchte mit den Augen die Felsen ab, was die Tiere aufgescheucht haben könnte.
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Harl »

Knirschend biss Harl vor Anstrengung die Zähne aufeinander und zog sich langsam in die Höhe. Agnellina könnte seine Gestalt wahrscheinlich wenigstens als Silhouette erahnen. Ihm gelang es, sich halb zu drehen und sich dann auf einem etwas breiteren Felsvorsprung zu setzen, um seine Arme einmal zu strecken, zu beugen und zu schütteln.

“Nicht allein, hu?”, fragte er in die Nacht.


KK + Sportlichkeit, um sich da rauf zu ziehen und nicht runter zu fallen: 8 4 10 6 9 5 5
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Agnellina »

Kurz zuckte sie zurück, als sie mehr als die erwarteten stiefelhohen Möwen mit weiß-grau-schwarzem Gefieder und größeren schwarzglänzenden Kormorane zwischen den Felsen vorfand. Dann sah sie genauer nach. Der Mond schien auf seine helle Haut und zeichnete seine Gestalt auf dem Felsen gut ab. Hell, glitzernd von den restlichen Wassertropfen des Bades, und unbekleidet.
Kurz witterte sie nach dem Duft von Blut, den ein abgestürzter Verwundeter vielleicht verströmen würde.

„Nicht allein.“, bestätigte sie dann. „Braucht Ihr eine helfende Hand?“
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Harl »

Er tat dasselbe. Ein Wittern, das man in der Dunkelheit auch als Zögern auslegen könnte, aber das war ihm egal. Er lächelte plötzlich, verschlagen wie ein Gossenkater - doch auch das blieb im Dunkeln wahrscheinlich schwer sichtbar.

Und so streckte er die Hand und den Arm in ihre Richtung aus. “Ja, gut”, sagte er, etwas zu spät für die Geste und als wären ihm die Worte auch erst verspätet eingefallen. Doch wenn sie zugriff, dann würde er sich tatsächlich mit ihrer Hilfe hochhieven.
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Agnellina »

Agnellina langte nach unten, reichte ihm die Hand und packte fest zu. Ihre Hand umschloss sein Handgelenk, sodass er auch das ihre fassen konnte. Ihre Haut war trocken und kühl wie die Nacht selbst. Sie konnte die nasse Haut und die Kälte vom Meerwasser bei ihm fühlen. Langsam zog sie ihn nach oben, gleichmäßig, sodass er sich halten und das letzte Stück überwinden konnte. Als er sicher oben war, ließ sie ihn los, stand auf und trat zwei drei Schritte von der Kante zurück. Dann betrachtete sie ihn eingehend und sortierte ihre Eindrücke.

Kalt wie das Wasser. Nackt wie direkt aus der Mutter Schoß entsprungen. Zerschunden ein Hammelbein nach einem Hundespiel, doch scheinbar nicht verletzt. Das könnte glatt einer der ihren sein. Oder ein Meermann. Sie witterte wieder. Roch das Meer. Immer das verflixte Meer, salzig und fischig überlagerte es jeden leichteren Duft.

„Wie geht es?“, stellte sie sicherheitshalber erst einmal eine Form der Gralsfrage, falls sie doch eine Art verwunschenen Frosch vor sich hatte.
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Harl »

Hochziehen lassen, festhalten, packen, zuschlagen, trinken. Einfacher Plan, was soll schon schiefgehen?
Was schiefgehen kann. Ihre Haut war kalt oder warm wie der Wind, die Felsen, das Meer. Sie roch nicht nach Schweiß, nicht nach Frau, nicht nach hundert anderen Sachen, nach denen sie riechen. Scheißplan, also.

Harl zog seine Hand wieder zu sich zurück ohne irgend etwas zu packen. Stattdessen ließ er die Schultern einmal rollen und etwas im Nacken ein wenig knacken. Locker werden. Könnte er von hier aus ins Wasser springen? Vielleicht. Vielleicht nicht. Weiter Sprung, kein Anlauf. Wahrscheinlich nicht weit genug, um sich nicht ein paar Knochen an Felsen direkt in der Brandung zu brechen.

Was machte eine wie sie hier? Wahrscheinlich dasselbe wie er selbst.

“Habe hier keinen erwartet”, sagte er langsam. Ungewohnte Worte, weil Worte ganz allgemein ungewohnt waren. Ein paar Jahre ohne und man vergisst, wie sie sich im Mund anfühlen. Wahrscheinlich hatte er nun innerhalb von ein paar Wochen mehr gesprochen als… . Hm. Eine Weile.
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Re: [1085] Schlupfloch [Harl, Agnellina]

Beitrag von Agnellina »

Aufmerksam suchte sie nach den Anzeichen. Atmen. Blinzeln. Nein, definitiv kein Sterblicher. Galt die Stille eigentlich auch anderen Kreaturen gegenüber? Ihre Augen glitten wieder über ihn. Wenn er einer der anderen war, dann… würde er jetzt eine Begrüßung erwarten? War das jetzt der Moment? Vergesst dies nicht anderen Kainskindern gegenüber… als Neugeborene… als Gangrel… als geduldeter Gast… es sollte Euch eine Richtschnur geben…, klang die Stimme mahnend in ihrer Erinnerung.
Noch zwei Schrittchen machte sie rückwärts, vergrößerte den Abstand, schaffte sich Platz, besänftigte mit Raum das aufgeregte Knurren in ihrem Inneren, welches die Nähe nicht ertrug. Seine Stimme, seine Worte klangen seltsam. Wie eingerostet.

Sie senkte den Kopf zu einer Verneigung, schielte dabei angestrengt nach vorn, um ihn irgendwie doch nicht so ganz aus den Augen zu lassen, weil es ihr einfach zutiefst widerstrebte, den Blick zu brechen. Ihre Knie sanken in einen leichten Knicks. Unruhig, ob es die richtige Form war, wartete sie ab.
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