[1085] Anglerfisch [Angelique, Harl]

[Harl]

“Pffhhhsshh…”, machte Harl zu dem Getestet-Werden. Er schien sich zu überlegen, ob er wütend werden sollte oder nicht, doch wenn man solche Überlegungen überhaupt erst anfängt, kann man wohl nicht mehr ernstlich, richtig wütend werden. Richtige Wut überlegt nicht. Er sah sie jedoch mißgünstig an dafür und bohrte sich mit einem Finger im Ohr, um langsam verkrustendes Meersalz dort heraus zu pulen. Er schnippte es in ihre Richtung.

“Bücher, hu? Krösus.” Er kommentierte das nebenher und allein vom Tonfall her könnte man überhören, dass er etwas über tausendfünfhundert Jahre tote Könige in fremden Ländern wusste. Oder damit einen Witz für das viel zu alte Kind vor ihm machte. Er grinste dreckig über den eigenen Scherz, den wahrscheinlich nur sehr wenige Leute in der Stadt überhaupt verstehen konnten, und legte dann seinen Zeigefinger über seine Lippen wie um Angelique zu bedeuten, dass genau das ein Geheimnis war.

Erst langsam nahm er den Finger wieder herunter. “Erzähl’ mir von dem Buch, das du am liebsten liest.”

[Angelique]

Angelique setzte zu einer Antwort an und stockte. Eigentlich sollte man erwarten, dass sie "die Bibel" sagen würde oder zumindest die Traktate der Kirchenväter oder Aristoteles.

Aber das würde nicht stimmen. Nicht mehr.
Was war ihr Lieblingsbuch? Sie war schockiert über die Frage, wie es einst Kain über Malkavs Fragen gewesen war.

Und so sagte sie: "Ich kann nicht. Ich habe keins. Jedes Buch öffnet mir Tore zu anderen Welten und anderen Sichtweisen. Und oftmals ändern sich diese, wenn man sie ein weiteres Mal liest.

Es ist wie ein Mosaik aus unzähligen glitzernden Edelsteinen. Jeder für sich ist kostbar und einzigartig, aber nur alle gemeinsam ergeben das große Bild, das Marie ist. Kein Buch steht für sich allein, nur aus vielen erwächst Weisheit."

Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. "Wer sein Leben nur nach einem Buch ausrichtet, ist ein dummer Fanatiker. Das habe ich jetzt erkannt. Danke dafür! Du hast mir eine einfache und wichtige Wahrheit gelehrt."

Sie wurde wieder etwas Leichtherziger.

"Aber empfehlen kann ich Bücher für jeden Geschmack. Wahre Gewschichten von Lukian von Samosata ist eines meiner Lieblingsbücher und eine Reisegeschichte, die dir gefallen könnte."

[Harl]

“Würdest du sie mich lesen lassen, die Reisegeschichte?”, fragte Harl. “Und gleichzeitig darüber schweigen? ‘s muss keiner sich darüber den Kopf zerbrechen, dass einer wie ich lesen kann.”

Er machte eine Geste mit der flachen Hand. “Ich bleibe gern …ungesehen. Klappte beschissen, mit dir. Aber war wohl auch ganz gut so. Eins kommt zum andern.” Er sah sie ein wenig nachdenklich an.
“Zwei andere hast du genannt. Ferrucio. Roya. ‘s ist nicht so häufig, dass vier oder mehr von uns irgendwo zusammen kommen. Und wenn doch, dann sieht es aus wie Zufall.”

[Angelique]

"Gibt keine Zufälle. Wenn sich mehr von uns versammeln, dann ist es wohl notwendig und eine Stadt hat es nicht anders verdient.

Und sicher kannst du die Geschichte lesen. Sie ist hier im Turm. Und natürlich geht niemanden etwas an, was im Turm passiert, bleibt im Turm."

[Harl]

“Danke. ‘s wird helfen, um wieder… klarer zu denken. Dort unten, in der Tiefe. Es ist nur Überleben. Entweder man schafft es oder nicht. Nächte verschwimmen ineinander, die verdammte Sonne ist nicht da. Aber Beute ist rar, außer man weiß, was man tut. Außer, man macht welche. Oder außer man weiß, wo welche sein wird.”

Er tippte sich an die Schläfe. “Aber das Denken wird …anders. Sprechen… . Wie jetzt? Es kommt zurück, aber es …hakt. Holpert. Ich sehe dich an… oder diesen Herold und brauche ein halbes Gespräch um zu verstehen, warum er Hosen anhat. Warum er nicht nach Wasser riecht. Wohin er mit seinen Fragen zielt. Tchh… . Man wird langsam im Kopf, auf diese Weise. Und schnell auf ganz andere.”

Harl lächelte kurz oder vielleicht war es nur ein Zähnezeigen gegen diese Erinnerungen.
“Meine Erzeugerin sprach einmal von Rom. Wie es war, als viele von uns zusammen waren.” Er schauderte. “Heutzutage… ist vielleicht alles schwächer. Blasser. Das Blut. Wir. Wer weiß, vielleicht, wenn es lang genug geht, verblasst unsere Art ganz. Ausgedünnt, verwässert, versunken.”

[Angelique]

Angelique war überaus fasziniert von diesem echten Jäger, der jeden Gangrel, den sie kannte, in den Schatten stellte.

Das hier wäre jemand gewesen, den der heidnische Kult der Jagd, der einst sein Unwesen in Genua trieb, wie einen Götzen verehrt hätte, auch oder gerade weil es ihm egal gewesen wäre.

Sie bemühte sich, ihre Vorliebe für solche bösen Jungs nicht zu sehr sich anmerken zu lassen, während sie ihn in ihr kleines Zimmer im Turm geleitete.

In dem Chaos dort wühlte sie kurz und mit einem triumphalen "Aha!" holte sie ein oft gelesenes Oktav hervor. Es lag unter einem Haufen kleiner Pergamente, die mit allen möglichen Skizzen von fliegenden Schiffe, seltsamen Kreaturen und erotischen Details bemalt waren. Da Palette und Pinsel und Schreibfedern und Tintenfässchen umher lagen, konnte man annehmen, Angelique hätte diese angefertigt.

"Hier, wir können sie gemeinsam lesen, wenn du willst."

[Harl]

Harl folgte ihr und sah über diese Schätze aus Angeliques Feder, Fantasie, Vorstellungen, Ideen, Vorhersehungen. Für einen Moment hielt er so inne und sein gebleichter Blick ging irgendwie etwas in die Ferne, durch all das hindurch, was er vor sich sah.

“Hnn..”, machte er leise als wäre es alles zu viel, als wäre es nicht einfach nur ein zwar chaotischer, bunter, vielfältiger Haufen sondern ein ganzes Panorama an Eindrücken. Er blinzelte einige Male und fokussierte den Blick auf Angelique selbst und auf das, was sie hoch hielt.

“Ja”, sagte er, langsam den Boden unter seinen Füßen wiederfindend. “Gemeinsam, gut. Buchstaben tanzen wie Quallenfäden, Wörter wie ihre Leiber… .” Was er da sagte, klang merkwürdig poetisch und zugleich wie ein Zitat von irgendwoher aus alten Erinnerungen heraus.

Er ließ sich von Angelique die Schrift aufschlagen, hockte sich neben sie und sah eine Weile darauf. Seine Augen wanderten die Zeilen entlang, seine Lippen bewegten sich tonlos als er versuchte, wieder irgendeinen Tritt zu finden.

“So wie die Athleten und überhaupt Alle, welche durch Uebungen ihre Körperkräfte auszubilden suchen, nicht bloß auf Uebungsmittel, sondern auch auf zweckmäßige Erholungen bedacht sind…”, begann er langsam und stockend. Einzelne Wörter gingen schnell, dann stoppte es wieder, wenn er mit etwas rang wie “Übungsmittel” oder “zweckmäßige Erholung”.

“Heh”, kommentierte er dann da hinein. “Ist wie schwimmen. Verlernt man nicht… .”

[Angelique]

" ... und diese als einen wesentlichen Teil ihrer auf Erhöhung körperlicher Vorzüge berechneten Lebensordnung betrachten: eben so halte ich es auch denen, welche sich ernsten wissenschaftlichen Beschäftigungen widmen, für zuträglich, ihrem Geiste nach anhaltenden und anstrengenden Studien eine Erholung zu gönnen, und ihn dadurch zu künftigen Arbeiten desto tüchtiger zu machen."

Sie mochte es, mit dem enigmatischen Harl zusammen das Buch lesen und seine erhellenden Kommentare dazu zu verinnerlichen. Wenige in Genua hätten diese Fantasie und diese Einsicht für die alten Werke, die so viel mehr geben konnten, als die monotone, nur auf den Glauben ausgerichtete moderne Literatur.

Mit ihm ließ sich die fantastische Reise zu den Sternen bildlich vorstellen, so wie seine fantastische Reise unter dem Meer es tat.
Sie war wieder an den Drogentraum erinnert, der sie hatte zum Mond fliegen lassen.

Sie lehnte sich unbewusst an ihn. Konnte er ihr das geben, was sie vergeblich suchte? Konnte er ihren Geist befreien und die Ketten, die die Alten ihr auferlegt hatten, sprengen?

[Harl]

“Sieben Tage und sieben Nächte hatten wir so auf unserer Luftfahrt zugebracht, als wir endlich am achten eine Art von Erde in der Luft zu Gesichte bekamen, gleich einer großen, kugelförmigen, von hellglänzendem Lichte erleuchteten Insel…”

Harl sah zu Angelique herab, als diese sich an ihn schmiegte. Für eine Weile sah er sie einfach nur an, spürte dem Gewicht ihres kleinen, toten Körpers nach, der Kühle der Nachtluft, der Kühle ihrer Haut. Er legte die Schrift nieder oder einfach in ihre blassen Hände. Dann stand er auf, roch nach Meersalz und Seetang und ging ein paar Schritte. Dann wiederholte er etwas, das von den ersten Seiten stammte:

“Viele Andere haben sich, in demselben Geiste, zur Aufgabe gemacht, uns ihre weiten Reisen, ihre Irrfahrten zu beschreiben, und von ungeheuren Bestien, wilden und grausamen Menschen, seltsamen Sitten und Gebräuchen zu erzählen.”

Er lehnte sich an die Wand, mit vor der Brust verschränkten Armen und sah zu Angelique hin.
“Du suchst etwas”, stellte er fest.

[Angelique]

Sie lachte hell. "Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!", zitierte sie Kreon von Theben.

Sie schaute mit fiebrigem Blick ihn an. "Ich suche alles. Ich will alles verstehen. Je mehr ich lerne, je mehr ich erfahre, desto mehr wird mir bewusst, wie viel ich noch nicht weiß."

Sie lächelte schnippisch, aber triumphierend. "Aber ich lasse mich nicht davon entmutigen. Ich lerne weiter und wenn es Babyschritte sind! Ich komme voran. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich will die Grenzen dieses erbärmlichen Körpers überschreiten und meinen Geist an Orte senden können, die diese machtgierigen Klumpen Staub und Blut sich nicht mal vorstellen können.
Du hast allein mit Andeutungen die Welt des Meeres für mich geöffnet und ich werde keine Amphore mit einem Tintenfisch und keine mit springendem Delfin mehr anschauen können, ohne die Brandung zu hören, die deine Worte in mir echoen lassen."