[1085] Bald mag kommen der Wellenmann, zu schaffen uns Seetang und Tinnef und Blut heran [Harl, Allegra]

[Allegra Aldighieri]

Allegras Stirn kräuselt sich ein wenig, als Harl in ihren persönlichen Raum eindringt. Ihre rechte Hand zerreibt das Ding unter ihrem Halsausschnitt, wobei der Zirbelgeruch stärker wird.

Schließlich stößt sie ihn mit ihrer freien Linken von sich, als er ihr zu aufdringlich wird.

"Was willste von mir? Dass ich dich rumschikaniere wie ne aufgeblasene Ventrue oder ne eingebildete Lasombra???"

Ihr Unterton ist eher patzig als wütend. Wie von einer aufmüpfigen Teenagerin, die sich nicht sagen lassen will dass sie so angezogen nicht außer Haus gehen darf, und dass sie es einsehen würde sobald sie ein wenig älter ist. Und besonders mit ihren zu Zöpfen gebundenen Haaren und ihrem in jugendlichen Jahren in die Nacht geholten Leib sieht sie auch mehr als ein wenig so aus.

Der körperliche Abstand hilft Allegra, ein wenig runterzukommen und sich gefasster auszudrücken.

"Wenn ich in der Stadt bin - Elysium und so weiter - trete ich natürlich ganz anders auf, und spiele das Spiel wie es den Großkopferten unter uns gefällt. Hab ja auch keine andere Wahl.
Aber hier draußen, in Flussmund, da sin' wir unter uns. Siehste ne Iulia? Ne Giada? Ne Drita? Sonst wen, wo als Anstandswauwau drüber wach'n würde, dass ich als Hochblüterin dich ja nich zu anständig behandle?
Solche Leute hatt'n schon bei ihrer ersten Geburt nen Silberlöffel im Arsch steck'n, und hab'n bei ihrer zweiten Geburt im hohen Geblüt gedacht dass der zweite bis hundertdrölfzigste Silberlöffel ihr Geburtsrecht sind.
Mir hat zu Lebzeiten keiner gesagt:"

Sie verfällt in eine etwas affektierte, dümmliche Stimme:

'Oh, Allegra, bist so nen armes Kindle, hier haschd nen Silberlöffel.'

Sie spricht wieder normal weiter:

"Danach auch nich. Hab nix geschenkt gekriegt, nur weg'n meines ach so hohen Blutes. Hab mir meine Silberlöffel selbst verdienen müss'n. Un' dann kommen solche Großkopferten daher un' labern dumm rum.
Geht dir da nich auch das Messer im Sack auf? Manchmal?"

Sie fixiert Harls Gesicht und betrachtet interessiert seine Reaktion.

[Harl]

Als sie ihn weg stieß, zeigte er Zähne, zwei hässlich spitze Zahnreihen wie ein Haifischgebiss. Er schnappte nach ihrer Hand - eine Warnung, vorerst. Denn er wollte ihr zuhören, wissen, was sie sagte. Er war kein Teenager, hatte diese Dinge beinahe vergessen und nun breiteten sie sich vor ihm aus, mit all ihren entzündeten Empfindlichkeiten, wie Pickel in der Pubertät.

Er lauschte den Namen, sprach sie sogar für sich nach, als sie sie aussprach. ‘Julia‘, ‘Giada‘, ‘Drita‘, wie die Namen exotischer Städte in der Ferne.

„Ja!“, lachte er auch mit ihrer frustrierten Frage, Sack und Messer. „Manchmal, wenn ich dumm bin und denke ich wäre siebzehn.“ Es war kein schadenfrohes Lachen, aber es war dreckig wie die ganzen verlausten Methoden und Mittel der Mächtigen dreckig waren, wenn man sie von unten her anschauen musste.

Doch dann wurde er ernster. „Alles ist im Wandel. Wandel ist ewig. Nichts bleibt ewig. Außer ihm. So lehrt die See.“

[Allegra Aldighieri]

Die etwas patzig reagierende Allegra zieht ihre Augenbrauen zusammen, als sie indirekt 'dumm' genannt wird. Sie war niemals und würde niemals in ihre volle Blüte treten, aber die Kappadozianerin hatte einen scharfen Verstand und sich alles ganz genau zusammengereimt wie die Welt funktioniert, wie so manche andere Siebzehnjährige auch.
Aber sie rastet nicht aus, nachdem sie Abstand von Harl geschaffen hat. Stattdessen reibt sie weiterhin das zirbelduftende Ding unter ihren Kleidern, als wäre es ein Stimulus mit dem sie ihre destruktiven Neigungen ablenken kann.

Sie greift stattdessen etwas ganz anderes auf.

"Wer ist 'Ihm'? Un' was hat er mit der See zu schaffen? Poseidon? Okeanos? Pontos? Palaimon? Leviathan?"

Etwas leiser fügt sie hinzu:

"Hab mir eigentlich niemals genauere Gedanken drum gemacht wie die See reinpasst in die Ordnung der Welt. Über der Erde gehört alles den Ouranischen, Iesous, Zeus, Hera un' so weiter, un' unter der Erde den Chthonischen, Hades, Persephone, dem Morgenstern Lucifer un' so weiter. Aber unter den Wellen? Nen Wildwuchs von Protogonoi, Titanen, Ouranischen, Heroen, un' was auch immer die Natur des Leviathans is.
Was denkste selbst, als einer wo so viel Zeit da draußen verbringt? Wer ist der Herr der See, der über Wohl und Wehe von denen entscheidet, die auf und unter ihr leben und unleben?"

[Harl]

“Ihm. Der Wandel. Ewig”, gab Harl schmallippig preis und deutete damit an, dass es wirklich einfach nur das war: ein Fehler im Sagen oder Verstehen seiner Worte, fürchterlich banal.

Doch als sie fortfuhr, beugte er sich etwas vor. Er lauschte diesen neuen Namen, die sie sagte und es sah so aus als würde er zumindest einige von ihnen kennen.

“Sie.” Das sagte er zuerst. Es klang abgehackt, hervorgepresst wie die letzten Luftblasen, die ein Ertrinkender noch in der Lunge hatte. “Die Tiefe. Die See.”
Er sah in die Richtung dieser See, die nicht so weit entfernt war. Nah genug, dass man das Salz im Wind riechen und das Rauschen der Wellen ahnen konnte.

“Hunger. Schwärze”, sagte er und es klang wie ein Kraftakt, das überhaupt hervorzupressen. Die Worte …reichten nicht. Er rang darum. “Gewalt. Druck. Gewalt-ig. Sog.” Er hielt inne wie um zu sehen, ob es genügte. Ob sie irgend etwas verstand.

[Allegra Aldighieri]

Nach der Erläuterung lässt Allegra sich Harls Worte einige lange Momente durch den Kopf gehen. Ihre dominante rechte Hand, an der der Zirbelgeruch haftet, wandert aus dem Halsausschnitt zu einem ihrer Zöpfe, um stattdessen daran zu spielen und sie bei ihrem Denkprozess zu unterstützen.
Was auch immer sie über naturphilosophische Beobachtungen zu Wasserwaagen und anderen Einrichtungen der Alten, die sich des Drucks des Wassers bedienen, aufgeschnappt hatte, konnte sie nicht aufrufen*, aber dafür fiel das Kaleisdoskop aus Eindrücken und Assoziationen auf fruchtbaren Boden in dem Teil ihres Geistes, wo sich der Aberglaube eines ungebildeten sterblichen Dienstmädchens und die hochgelehrte vampirische Schwarzkunst, die heilige Kirchenlehre und die alte Mythologie zu einer schwammigen Masse vereinigt hatten. Die Augen der Kappadozianerin weiten sich und verfallen in ein intensives Leichenstarren, als sich ihr plötzlich Querverbindungen auftun die sie vorher nie bedacht hatte.**

"Schwärze und gewaltiger Hunger und gewaltiger Druck und gewaltiger Sog... Natürlich, Tartaros! Wo Tantalos eingesperrt ist, ewig hungernd und durstend, unfähig sich gegen die Macht des Abgrundes durchzusetzen, gegen den Druck und den Sog der ihn dort festhält und am Entkommen hindert. Genauso wie die gefallenen Engel. Genau so. Genau so!"

Ihre Aussprache ist feingeschliffen und hochgestochen - nicht die eines Fischermädchens oder einer herumstreunenden Diebin, sondern die einer Schwarzkünstlerin von hohem Geblüt.

"Tainaron. Natürlich brach Orpheus von dort auf, wo es steil hinab geht bis in den tiefsten Tartaros! Nicht durch feste Erde, nicht durch die Luft eines Kraters wo er nur Höllenstürzen würde. Natürlich ist die Unterwelt leichter durch flüssiges Nass als durch feste Erde erreichbar, und man kommt leichter von dort wieder zurück! Wie Orpheus, wie Heracles, wie Odysseus. Natürlich lässt man für Leucothea Gerste an den tiefsten Punkt des Meeres sinken - sie ist ja auch die Amme Dionysios'!"

Die Kappadozianerin wirkt ein wenig entrückt und nimmt Harl nicht mehr recht wahr, während es aus ihr heraussprudelt. Erst als sie mit ihrer Linken vergeblich nach Schreibzeug tastet, kommt sie wieder im hier und jetzt an und stampft frustriert mit dem Füßchen auf.

Sie wirkt immer noch ein wenig abwesend und scheint eher durch Harl hindurch als ihn an zu blicken. Sie wollte diesen Gedankenfaden nicht verlieren, ehe sie ihn niedergeschrieben hatte. Sie verfiel wieder in ihre niederen, verschliffenen Sprachgewohnheiten, während sie mit dem Gezeitenkind sprach.

"Ich hab zu tun un' muss geh'n. Die Tiefe - Tartaros. Ich muss sie seh'n. Nich jetzt, später. Ne andere Nacht. Wenn ich weiß, wonach ich eigentlich schau'n will. Aber ich weiß dass ich nach was schau'n will. Gibt da Antworten - aber was sin' die Frag'n?"

Spoiler!

*Intelligenz+Akademik: 0 Erfolge Link
**Intelligenz+Okkultismus: 3 Erfolge Link

[Harl]

Harl nickte. Er verstand. Etwas in alledem klang richtig genug.
Er verstand, das sie in verschiedenen Sprachen sprach so wie eine Höhe anders klang als ein Tal, ein Hain anders als ein felsiger Hang. Er verstand, dass sie etwas verstanden hatte und das war gut. Besser als viele, viele andere.

Er hob die Hand zu einem Abschied, denn es war auch nicht schwer zu verstehen, dass sie nun gehen musste. Die Dringlichkeit sprach deutlich genug aus ihrer Stimme. Und er? Er hatte einen Hund zu häuten, Fell, Fleisch und Knochen, Zähne und Sehnen.

“Tartaros”, wisperte er. “Tartaros.”


Allegra und Harl treffen bei Flussmund im Zuge einer nicht ganz gelungenen Jagd aufeinander. Sie beschließen, sich zusammen zu tun und gemeinsam zu jagen. Das gelingt und später kommen die beiden wieder ins Gespräch und überlegen, sich vielleicht öfter einmal für die eine oder andere Jagd nach Blut und allgemein gegenseitigem Nutzen zusammen zu tun.