[1085] Seelenfänger [Agnellina, Harl]

[Harl]

Die Sonne war noch nicht lange hinter dem Horizont versunken, doch es war spät im Jahr und der Sand war regennass. Trotzdem hing noch diese graue Ahnung des letzten Tages am Himmel als Harl aus dem Wasser watete, zwei fette, gut handgroße Meerbrassen am Schwanz gepackt. Die Fische sahen lädiert aus, doch das konnte auch an dem hölzernen Fischspeer liegen, den er in der anderen Hand trug.

So hielt er auf das Landesinnere zu und fing an, zwischen einigen Felsen herum zu suchen. Es dauerte, bis er dort eine Art Tuch hervor fischte, das vielleicht einmal der feste Rock einer Frau oder leichte Umhang eines Mädchens gewesen sein mochte. Es gab jedenfalls ein paar kleine Stickereien an einem Rand des Tuchs, das mittlerweile abgerissen, nass und etwas schmutzig war, aber Harl nun als Bekleidung diente. Damit hatte er aber wohl auch seine Schuldigkeit für das Anstandsempfinden anderer getan, jedenfalls wandte er sich dann wieder dem Meer zu. Er legte die Fische in den Sand, Vorbereitung für die Jagd in dieser Nacht.

War es eine Jagd, wenn die andere die Jagd nicht einmal erkannte? Wenn kein Blut fließen würde und am Ende keine Beute ihr Leben aushauchen würde?
Langsam begann er, mit dem Speer und den Füßen einige Striche und Zeichen in den Sand zu ziehen. Zeichen wie die Spur einer Scholle, die sich frisch eingegraben hatte, fächerförmig und seicht. Verborgen und geduldig - so begann man eine Jagd wie diese.
Er fügte kleine, gekratzte Wellen hinzu. Wasser oder Wind, beide hatten ihre Ströme und Strömungen, ihren Sog und Druck, beide konnten Möwen tragen. Dann, kleine, runde Punkte mit dem Speerschaft. Für ihn waren dies Münzen, Schätze, Zeichen für Gier. Der Köder, mit dem sie vielleicht oder vielleicht nicht die Tiere anlocken konnten. So betrachtet brauchte es eine Menge davon und er drückte ein ganzes Muster an kleinen Punkten in den Sand.
Zuletzt zog er einen kleinen Kreis in der Mitte und einen weiten Kreis um alles herum. Der Mond, anschwellend, abschwellend, immer zugegen. Nicht immer für das Auge sichtbar, immer spürbar, wenn man nur den Sog des Meeres spürte. Das war sein Zeichen für den Teil dieser Beute, der sich nicht greifen ließ.

[Agnellina]

Der Anfang der Nacht war ausgemacht, doch zugleich hatte sie sich Zeit für die Nahrungsaufnahme erbeten. So hatte Harl genug Zeit für seine meditativen Zeichnungen und Malereien im Sand. Die letzten Erinnerungen des Tages verblassten.
Als Agnellina an der Grenze ihrer beider Welten zwischen Land und Meer erschien, trug sie einen Sack mit sich. Ansonsten hatte sich ihr Äußeres nicht gewandelt. Der Sack selbst wirkte im unteren Teil gefüllt, aber nicht prall oder schwer. Sie hatte ihn sich locker über den Rücken geworfen und mit einem Knoten den oberen Teil geschlossen. Der Strick führte über ihre Brust zu einem der unteren Zipfel des Sackes, an welchem sie ihn ebenfalls verknotet hatte. So wurde der Sack vom Strick quer über ihre vordere Körperseite gehalten und sie hatte die Hände frei.
Ohne Eile näherte sie sich dem Strand. Als sie die ausgeblichenen Haare von Harl ausmachte und seiner Person zuordnen konnte, lächelte sie. Dann blieb sie in etwas Abstand stehen und sah ihm kurz zu. Als sie genug davon hatte, ließ sie eine Tonfolge von Pfiffen ertönen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Als er Blickkontakt aufgenommen hatte, ging sie zu ihm.
„Guten Abend.“ Sie lächelte freundlich. Dann neigte sie den Kopf und knickste vor ihm. „Wartest du lange auf mich, wohlwerter Harl?“ Nach Absolvierung dieses Zeremoniells sah sie ihn an und suchte den Blickkontakt. Sie streckte dabei die linke Hand mit zum Himmel gewandter Handfläche zu ihm aus. „Nach wie vor Frieden?“

[Harl]

Harl hatte mit seinem Kratzen und Wandern aufgehört sobald Agnellina sich angekündigt hatte. Tatsächlich legte er mit der Tonfolge seinen Kopf ein wenig auf die Seite und lauschte diesen Tönen nach so wie man auch einem bestimmten Vogelruf nachlauscht oder einem schwer greifbaren Geräusch aus der Ferne.

Als sie ihm die leere Handfläche zeigte, drehte er seinen Speer herum und steckte ihn mit der Spitze voran in den Sand des Strandes. Er machte ein paar Schritte davon weg, weit genug, dass er die Waffe jedenfalls nicht sofort greifen konnte. Dann wiederholte er ihre Geste beinahe spiegelbildlich mit der leeren Hand und der Handfläche zum Himmel.
“Frieden”, nickte er bestätigend.

Erst dann schlendern er zu seinem Speer zurück und zog ihn wieder aus dem Sand. “Kein Warten”, erklärte er ihr auch und machte eine Geste über seine Zeichen im Sand hinweg.

“Eine Jagd beginnt”, erklärte er. “Doch keine nach Blut und Leben. Eine nach …hn. Wissen. Seelenwissen. Nach Verstehen von Sachen.” Er beugte sich herunter und presste seine Hand zwischen die beiden konzentrischen ungefähr-Kreise, die er in den Sand gekratzt hatte. Dann sah er zu ihr - abwartend? Interessiert?

[Agnellina]

Agnellina betrachtete seine Spuren und Zeichnungen im Sand eingehend. Dabei bewegte sie sich behutsam auf ihn zu. Sie setzte die Füße so, dass sie nichts von dem zertrat, was er geschaffen hatte. Schließlich sah sie ihn direkt an.

„Ich weiß nicht, ob ich dir Wissen bieten kann.“, erwiderte sie mit einem gewissen Zögern und mit leiser Stimme. „Wir wollten versuchen deine Ohren zu öffnen. Ich habe lange darüber nachgedacht.“

Überzeugung und Selbstsicherheit sah anders aus, doch sie war erschienen wie sie ihr Wort gegeben hatte und sie kam nicht mit leeren Händen. Oder zumindest hatte sie irgend etwas im Beutel, was über den vereinbarten Fisch hinaus ging.

„Ich kann deinen Plan nicht lesen.“ Sie sah zu ihm hinunter, bat nicht direkt um Erklärungen. Sie ging davon aus, dass er ihr vorlesen würde, wenn es wichtig war. Viel wichtiger war für sie zunächst einmal, die Umstände zu klären, über die sie nachgedacht hatte. Hunger war selten ein guter Begleiter. „Hast du für dich gesorgt?“

[Harl]

Harls Blick richtete sich auf diese Stelle ungefähr ein, zwei Fingerbreit unterhalb von Agnellinas Kinn. Dort, wo im Leben der Atem entlangfloss, wo im Tod das Blut in der Kehle hinabrann, wo dicke Adern das Blut dicht unterhalb der Haut transportieren. Ihre Kehle.

Er sprach sehr, sehr langsam: “Diese Frage ist eine… hn. Du kannst sie stellen, weil du mich nicht kennst. Weil wir eine Jagd machen. Die keiner von uns kennt.” Und während dieser ganzen Zeit lag sein Blick dort fixiert, auf ihrer Kehle. Den Speer hatte er nur locker in der Hand, doch da war eine Spannung in seinem drahtigen Körper, die dicht, dicht unter der Oberfläche lag. Die losschlagen wollte, sicherlich konnte, die diesen kurzen Sätzen Gewicht verlieh.

“Kein klaffender, rasender Hunger. Keine fette, träge Sattheit. Genau dazwischen, für eine Jagd”, antwortete er ihr dann und seine Stimme fand irgendwie in einen flüssigen Rhythmus zurück. Sein Blick wanderte höher, wieder zu ihrem Gesicht, wie im normalen Gespräch. Die Haltung wirkte tatsächlich entspannt.

[Agnellina]

„Sie merken es. Es ist leichter, wenn man satt ist. Mehr Ruhe und Ruhe mögen sie. Hunger regt sie auf. Macht alle misstrauisch.“

Langsam nahm sie den Sack von ihrem Rücken nach vorn und löste die Schlaufe, welche die Öffnung verschlossen hielt.

„Ich habe lange nachgedacht, was dir helfen könnte. Auch nach einer weißen Schlange habe ich gesucht. Leider hatte ich kein Glück. Die sind wirklich selten und schwer zu finden.“

Behutsam nestelten ihre Finger am Band und sie weitete die Öffnung des Sackes. Dann griff sie hinein, hielt den Sack aber um ihren Arm herum geschlossen, als könne der Inhalt sich auf und davon machen.

„Wenn es wieder wärmer wird und du es bis dahin nicht geschafft hast, können wir weiter suchen. Vielleicht brauchst du das Fleisch oder den zumindest Geifer, wenn du mehr nicht hinter bekommst. Für heute habe ich dir was anderes mitgebracht. Zum Versuchen.“

Sie zog ein graubraunes Wildkaninchen am Nackenfell fest gepackt hervor, hielt es fest und sah es prüfend an. Das Tier hatte den Transport im Sack am Rücken der Gangrel tatsächlich lebend überstanden und war nicht vor Angst gestorben. Agnellina wirkte zufrieden, als sie auf das zitternde Tier sah. Sie war sehr vorsichtig mit dem Tierchen gewesen, aber sie war doch froh, dass es nun mit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen in ihrer Hand hing. Es hatte Angst, wehrte sich nicht, aber wartete auf eine Gelegenheit zur Flucht.

„Bleib einfach dort stehen. Keine hastigen Bewegungen. Ich halte es fest. Sieh ihm in die Augen und hör einfach zu.“

Etwas zweifelnd sah Agnellina die trüben Augen des Meermannes an. Ob er damit gut sah?

Spoiler!

Qualitätstest: 1 Beute ok, 2 im Schock; 3 hinüber
Agnellina (Xavi) Request: `[1d3]` Roll: `[1]` Result: `1`

[Harl]

Harl rührte sich nicht. Es war dunkel und der Seewind zerrte an dem Tuch, das er trug, an seinen Haaren, am Gras, das weiter oben wuchs und wisperte. Er lauschte ihren Worten und ließ sich davon tragen, von dem Auf und Ab der Silben, dem Wispern des Grases, dem Rauschen der Wellen.

Und dann sah er hin. Es war eine Entscheidung, schärfer als das Getragen-Werden sonst. Er sah zuerst das weiße Fell an Brust und Kehle, das in der Dunkelheit heller hervortrat. Dann die kleinen, angstvollen Bewegungen des Tierchens. Beute. Er neigte den Kopf ein wenig, wandte sich halb ab, um nicht mit beiden Raubtieraugen auf die Beute zu starren. Von der Seite her. Doch was er sah, wurde klarer. Ein dunkles Auge, groß, glänzend.

Wieder lauschte er. Herzklopfen? Ja, er konnte es hören, leise, leise unter der Musik der Welt. Es fügte sich in den Rhythmus ein, irrwitzig schnell gegen das Auf und das Ab der See.
Er sah dem Tier in diese großen, dunklen Augen. Wurde das Herzklopfen schneller? Würde es sich überschlagen, brechen?

“Angst”, raunte er so wie die See raunte, in rollenden Wellen am Strand. Er legte sich langsam eine Hand auf die Brust. “...sagt’s Hasen-Herz.” Mit einem Finger, ganz sacht, deutete er den Rhythmus dieses Klopfens an, Tata-Tata-Tata-Tata, viel zu schnell.

[Agnellina]

Agnellina nickte leicht. „Große Angst. Ja. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht gefressen wird, aber das glaubt es nicht.“
Ganz ruhig hielt sie das noch halb vom Sack umfangene Tier am Nackenfell fest. Sie drückte es nicht gegen ihren Körper, wie es ein Mensch getan hätte. Sie wusste, dass ihm das noch größere Angst machen würde, da sie ihm ein Wolf war. Ihr Geruch und ihre Kälte verstörten es. Es war schlimm genug für das Kaninchen, dass sie es festhielt und an einer Flucht hinderte.

„Sieh es richtig an. Nicht so halb.“, sagte sie mit sanfter Stimme zu Harl. „Mich schaust du doch auch richtig an, wenn du mit mir sprichst. Es verdient deine ganze Aufmerksamkeit. Wenn du mit ihm sprechen willst, geht das nicht nebenbei.“

Ihre Augen ruhten aufmerksam auf ihn, sahen ihm genau zu. „Und nicht auf das Herz hören. Auf die Stimme sollst du lauschen.“

[Harl]

“Wenn ich’s anseh… hn. Dann krepiert’s”, vermutete er. Harl äugte seitlich zu dem Tierchen hin, dann zu Agnellina selbst. Dann zu dem Kreis, den er selbst in den Sand gezogen hatte.

“Hnn…”, machte er wieder und beschloss wohl, ihren Worten zu gehorchen. Er kauerte sich hin, um kleiner zu werden und wandte sich dem Kaninchen ganz zu. Er hob das Gesicht in den Wind, konnte eine Ahnung von der kleinen Kreatur riechen. Pisse. Tränen. Fell. Kaninchen konnten nicht schwitzen. Er hatte nie darüber nachgedacht. Sie waren darin genau so wie Hunde und mussten hecheln. Das Tier hechelte.

Sieh es richtig an. Nicht so halb.

Er sah dem Tier in die Augen. Dunkel, riesig. Beute-Augen. Beute-Ohren. Sinne, um alles umher zu sehen, um früh genug laufen zu können. Pfoten, kräftig genug zum Wühlen. Kratzen. Klopfen, mit den sehnigen Hinterläufen, um andere zu warnen. Das waren die Dinge, die er sah.

Er sah ihm in die Augen und versuchte, zu hören, was sie hörte. Eine Weile verstrich so die Zeit, lauschend, den Blick suchend.
Die kleine Beute in ihrer Hand würde bald in der eigenen Furcht sterben, ahnte er. War sie grausam, diese Agnellina? Wohin würde dies führen?

“Ich versteh’s nicht”, meinte er leise. Er wollte nicht grausam sein. Wozu auch.

[Agnellina]

„Wirst du schon noch.“, sagte sie mit einem Ton in der Stimme, als wolle sie ihn ernsthaft trösten und ermutigen.
Langsam ging sie in die Hocke und setzte das Kaninchen zu Boden, ohne den Griff zu lösen. „Shh. Bist ein tapferes Ding. Hast es gleich geschafft.“, raunte sie in einem ähnlich tröstenden, beruhigenden Tonfall zu dem Fellbündel.
Sie sah Harl aus der Hocke heraus an.
„Kanns dir nur vormachen, aber nicht erklären.“
Dann wandte Agnellina ihren Kopf um und sah dem Tier in die Augen. Es war ein instinktives Verschieben des Blickfeldes bei ihr. Wie, wenn man einen Punkt fixierte, aber gleichzeitig direkt durch ihn hindurch sah und alles dabei unscharf wurde. Ganz mühelos, fließende winzige Bewegungsabläufe der Augenmuskeln, ohne bewusste Entscheidungen oder gar Anstrengungen. Sie sah die hervortretenden Augen des Kaninchens, aber zugleich sank sie in seinem Blick hinein. Ihr Sehen wurde zum Hören, sie schaltete um wie in eine zweite Muttersprache, deren Wechsel man gar nicht bewusst bemerkte. Ihr Mund öffnete sich leicht, die Lippen gingen dabei kaum auseinander, vielleicht gerade genug um etwa Kerzen mit dem Luftstrom auspusten zu können. Die Muskeln in ihrem Gesicht zuckten, ähnlich wie bei dem Tierchen, über der Oberlippe, neben der Nase und die Nasenflügel selbst.
Kaninchensprache ist eine für sterbliche Ohren stumme Sprache. Sofern nicht schiere Aggression ein Kaninchen zum Knurren bringt oder der Paarungswunsch sich in einer Art Brummen Ausdruck verschafft, so scheinen alle anderen Kommunikationswege ohne Geräusche abzulaufen. Doch natürlich haben auch Kaninchen ihre Sprache. Agnellina fühlte diese Sprache, die Worte in ihrer Kehle rucken. Während sie mit den Augen die geistige Hand ausgestreckt hatte, rannen ihr die Kaninchenworte wie kleine pulsierende Luftblasen hervor.