Harl wurde still, ganz und gar still. Was er sah, war nicht völlig neu für ihn, doch noch nie hatte er es auf diese Weise gesehen, in dieser Ruhe, mit genügend Zeit.
Da war etwas, das er kaum greifen oder begreifen konnte, irgendein Band des Verstehens zwischen dem Tier und der Untoten. Raubtier. Bestie. Frau. Gangrel. Er wusste nicht einmal, welches Wort das richtige war.
Doch er sah sich diese feinen Veränderungen an. Es war etwas in der Art, wie Agnellina dort hockte, und in der, wie das Kaninchen darauf reagierte. Es ging über den Griff hinaus, über das brutal einfache Verhältnis von Jäger und Beute.
Fasziniert lauschte er dem, was für die meisten wohl unhörbar war. Er verstand es nicht, doch lauschen konnte er. Der erste Schritt, um etwas verstehen zu können.
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Spoiler!
Wahrnehmung + Gewahrsein: 10 3 8 5 3 1
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)
Es war ein sehr stiller Austausch und doch schien es eine Form von Dialog zu geben. Das Wildkaninchen sah sie genau so intensiv an, wie die Gangrel das Tier. Beide blinzelten im jeweils eigenen Turnus. Das Tier, um seine Augen zu befeuchten. Agnellina wohl eher etwas bewusster, um das aggressive Raubtiergebahren des Starrens zu vermeiden. Sie war vollkommen bei dem kleinen Wildtier und schenkte diesem - sicher demonstrativ - ihre ganze Aufmerksamkeit, so wie sie es zuvor von Harl gefordert hatte.
Das Tier entspannte sich nicht, doch das hektische, ängstliche Hecheln wurde ein wenig ruhiger. Vielleicht auf Grund des Gesprächs und dem, was immer Agnellina ihm gegenüber vorbrachte. Vielleicht aber auch nur, weil es Boden unter den Pfoten hatte.
Schließlich blinzelte die Neugeborene und wandte den Blick ihrer braunen Augen wieder Harl zu. Auch hier scheute sie sich nicht vor Blickkontakt.
„Versuch es nun noch einmal.“
Sie ließ das Tier auf dem Boden hocken und hielt es weiterhin im Nackenfell fest, sodass es nicht einfach fortlaufen konnte.
„Sieh es an. Begrüße es in seiner Zunge. Oder versuche nur zu lauschen, was es dir sagt.“
Etwas lag in der Luft. Ein Gerüch - nein. Ein Gefühl? Eine Spannung, leicht wie Spinnenseide, wie eine feine, trügerische Unterströmung in einem Flusslauf.
Harl sah das Tier an. Es war natürlich, dass es Angst hatte, Todesangst. Es war unnatürlich, dass es blieb. Was Agnellina getan hatte, war etwas gewesen, das außerhalb der Dinge lag, die er verstand. Er kauerte sich noch ein wenig tiefer hin, sah das Kaninchen an.
Er ahnte, dass es der falsche Weg war, seine Sinne zu öffnen. Das war nicht, was sie tat. Es war nichts, das er erklären oder teilen konnte. Er wusste nicht einmal, ob er es wirklich verstand.
Dies, was sie getan hatte, war anders gewesen. Es ging um das kleine Tier vor ihm. Kaninchen, ein ganzes Leben in gewühlten Gängen, Flucht und selten einmal Angriff, Gefährten, Rivalen, Kinder, Alte. Das war etwas, das er verstehen konnte, weil er wusste, wie sie lebten und wie sie starben, diese Tiere.
Und dieses? Dieses eine? Er neigte den Kopf ein wenig und versuchte, zu lauschen.
So verging die Zeit. Harl kannte Ungeduld nicht. Zeit war wie Wasser, unendlich, fließend, bemessen durch Umstände von außen, Hunger, den Sog, Hell und Dunkel. Wahrscheinlich war es zuerst das Kaninchen, das die Geduld oder einfach den Fokus verlor. Irgendwann jedenfalls würde es wohl einfach laufen wollen und Harl hielt es nicht auf.
Stattdessen sah er zu Agnellina auf. Sein trübes Auge konnte blind scheinen und gleichzeitig so als würde er damit auf irgend etwas anderes sehen wollen, das für gewöhnliche Augen nicht zu sehen war. "Was hat es gesagt?", fragte er. "Und was hast du gesagt?"
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)
Nachdem Agnellina merkte, dass der Versuch Harls ein Ende fand, gab sie das Übungsobjekt frei. Sie ließ den Stoff vom Sack los, sodass dieses zusätzliche Hindernis von den Hinterläufen des Tierkörper wich und dann lösten sich ihre Finger aus dem Nackenfell. Gleichzeitig drückte sie noch einmal etwas Luft über die Zunge und durch die Lippen; gab dem wilden Tier einen dankenden Abschiedsgruß mit auf den Weg. Das Tier hatte auf diesen Moment gewartet und sprang sofort los. Auf und davon stob das graubraune Wildkaninchen, rannte unverfolgt um sein Leben. Agnellina sah ihm nicht hinterher.
Sie erhob sich und wandte sich ganz Harl zu. „Es war mehr ein Kreis aus Bitten und Zweifeln. Es war sehr aufgeregt. Das sind sie oft. Ich habe ihm immer wieder versichert, dass es sofort frei und unversehrt gehen kann, wenn es mir geholfen hat. Darum lass es bitte laufen. Es hat es sich verdient.“
Sie dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. „Ist dein Aufgabe zu hören, was es sagt. Ich hatte es zuvor schon gebeten, dir etwas mitzuteilen. Du wirst die Worte erkennen, wenn du sie hören kannst. Dann wirst du es mir sagen. Würde es auch bei anderen so versuchen. Ich habe dir das Kaninchen mitgebracht, weil ich es gut festhalten konnte und man da die Augen sehr gut sehen kann. Die Augen sind wichtig. Bei Vögeln ist das schwerer. Aber in die Augen sehen ist wie Hand geben. So fängst du an, verstehst du? Du kannst sie zwar immer hören, aber wirklich zuhören fängt mit dem Begrüßen an.“
Sie ging ein paar Schritte auf der Stelle, grub die Zehen in den Sand. Die kleinen Bewegungen lockerten ihre Anspannung.
„Du wolltest Möwen. Hab Fisch mit, wie du wolltest.“
Harl nickte. Was sie sagte, ergab Sinn. Und ebenso hatte er auch keinen Drang, dem Kaninchen nachzujagen. Es gab einfachere Beute als ein rennendes Kaninchen in der Nacht.
“Augen… gut. Blicke sprechen laut”, murmelte er. “Beginne mit dem Gruß. Wie bei jedem anderen auch.” Harl machte ein schnaufendes, halb lachendes Geräusch. “Danke. Ich lerne.” Er legte eine Hand auf seine vernarbte Brust und senkte den Kopf ein wenig. Diese Geste hielt er lang genug, dass sie deutlich wurde: ein echter und ernst gemeinter Dank.
Dann hob er den Kopf wieder und zeigte er zu den zwei Fischen hin, die er mitgebracht hatte. “Für die Möwen”, sagte er und zögerte dann einen Moment. “Willst du es nicht wissen?”
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)
Sie folgte seiner Geste zu seinen Fischen hin. Agnellina ging zu ihnen, nahm ihren Sack und schüttelte knappe zwei Hand voll kleiner Rotfedern daraus hervor. Die kleinen silbrigen Fischchen fielen zu den Meerbrassen auf die Erde. Kleine, dumme Fische aus einem Teich oder Fluss, die sich im Herbst besonders gut und leicht überlisten ließen. Mit Geduld und einem Tuch ließen sie sich aus dem Wasser keschern, besonders, wenn man sich direkt in das kalte Wasser begeben und dort kein Frieren fürchten musste.
„Was will ich wissen oder nicht? Was genau meinst du?“, fragte sie. Agnellina schüttelte den leeren Sack aus und legte ihn sich wieder mit den Knoten locker um den Oberkörper. Ihre Augen wanderten über die Felsen am Strand, spähten nach möglichen Aufenthaltsorten von Möwen.
Er folgte ihr und begutachtete ihre Beute mit etwas, das man wohl als einen Kennerblick bezeichnen konnte.
“Ob du mit ihnen sprechen kannst. Ob sie Seelen tragen. Ob sie eine haben. Eine Seele.” Er lugte zu ihr hin. “Ob du eine hast. Oder ich. Oder ob es dort draußen eine Möwe gibt, die sie für uns trägt. Mit schwarzen Flügelspitzen.”
Er machte eine Geste hin zu den Felsen und Klippen. Und zugleich war das wohl auch ein Deut, mit dem er ihr die Richtung zeigte, in der er selbst Möwen gefunden hatte. Er sagte es nicht, weil es entweder deutlich genug war oder sie es selbst mit den eigenen Sinnen erkennen musste.
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)
„Ach, du stellst schwierige Fragen.“, meinte sie schlicht und zuckte mit den Schultern.
„Hab nachgedacht über das, was du gesagt hast. Mit den Geschichten und so. Und wenn du jetzt fragst, ob ich es wissen will…. Dann ja und nein.“
Sie sah hinaus zu den Klippen, auf die er deutete und sprach dann leise weiter.
„Ich kann bestimmt mit ihnen sprechen. Es ist… einfach so. Manchmal ist es etwas schwerer, manchmal etwas leichter. Ich versuche es gern, die Melodien der Vögel nachzumachen. Das habe ich aber schon im Sonnenlicht gern getan. Ich mochte das sehr und so einige Melodien vermisse ich etwas, die in der Nacht einfach nicht erklingen. Aber jetzt ist es anders. Nicht nur ein schlichtes Singen, wenn man genau hinhört. Ich finde es noch immer seltsam, dass du es nicht kannst.“, sie winkte ab, als wäre das auch egal. „Wenn du über einen Markt gehst, hörst du überall Gemurmel, Rufe und Geräusche. Ein bisschen ist es so ähnlich, glaube ich. Ganz anders, aber irgendwie doch ein bisschen so. Ich meine, höre sie wie früher, glaube ich. Einfach ein Zwitschern, ein Trillern, ein Schnaufen… aber wenn ich aufpasse, dann ist es nicht nur ein Brei aus Geräuschen im Hintergrund, sondern einzelne Stimmen und Worte werden klar und bekommen einen Sinn. Deswegen - nein, ich frage mich nicht, ob ich mit ihnen sprechen kann. Ich glaube, es wird gehen. Warum sollten sie keine Stimme haben wie alle anderen auch?“
Sie musterte ihn eine Weile nachdenklich und schweigend. Sah ihm forschend in die trüben Augen.
„Meine Seele trägt keine Möwe. Ich bin nicht ertrunken.“
Sie hatte ihre Vorstellungen zu diesen Fragen, blieb bei der ausgesprochenen Antwort aber beim für sie offensichtlichen Part. Möwen waren Seelentiere, weil die die verwandelten Seelen ertrunkener Seeleute waren. Wer nicht ertrinkt, wird keine Möwe. Das war die einfache Schlussfolgerung daraus. Dennoch tastete sie im ausgelösten Bauchgefühl seiner Fragen herum, hakte behutsam nach.
„Suchst du deine? Hast du das Gefühl, du könntest sie in einer Möwe finden? Deswegen dein Wunsch mit ihnen zu sprechen?“
Harl nickte. “Ich bin ertrunken.”
Er sagte das einfach so, ohne größere Schwere oder große Umschweife. Es war lange her.
“Und ich will sehen, was du damit tust. Ich weiß nicht, warum ich’s nicht kann, aber du. Vielleicht, weil ich solche Geschichten nicht mehr habe. Oder andere. Du bist nahe bei dem, was du mal warst. Aber nicht mehr bist. Mensch. Gangrel, mit Menschen-Geschichten. Menschen-Märchen. Menschen-Gedanken.”
Er zeigte ihr sein Lächeln, das nicht mehr richtig eines war. Wahrscheinlich war es auch zu seinen Lebzeiten nicht unbedingt das Schönste oder Vertrauenswürdigste gewesen.
“Tiere sind Menschen nicht nah. Aber du redest mit ihnen. Etwas …in dir? Etwas von dir. Redet dann eine Menschen-Erinnerung? Oder etwas Älteres? Tieferes?”
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)
Agnellina zeigte keine bewertende Reaktion seines Lächelns. Die Art seines Äußeren schien sie weder abzustoßen noch zu erschrecken oder Argwohn zu erregen. Sie nahm einfach hin, was sie sah: ein Lächeln.
„Was meinst du mit ‚was ich damit tue‘? Was sollte ich denn damit tun?“ Agnellina konnte seinen Gedanken nicht folgen.
„Ich rede mit ihnen. Mein Mund, mein Kopf. Keine Erinnerung und keine Geschichten. Einfach nur ich, Agnellina.“
Es war ihr unwohl, dass er so an ihr forschte, versuchte sie zu bewerten und sie mit Beschreibungen versah, sie in den Mittelpunkt stellte. Agnellina wählte die Handlung und hob die Hand, winkte mit den Fingern, auf dass er ihr folgte. „Nimm die Fische mit, wenn du sie ihnen schenken willst. Wir müssen näher heran.“
Mit leisen gleichmäßigen Schritten ging sie näher zu den Klippen. Sie bemühte sich um ruhige Bewegungen, war sich aber ihrer Begleitung nicht ganz sicher und sah immer mal wieder zu ihm. Sie schlich näher heran und fixierte dann eine einzelne Möwe, die sie in den Felsen sitzend ausmachte. Als sie sich auf das Tier fokussierte und ihre Augen anstrengte, um die kleinen Augen der Möwe in der Dunkelheit auszumachen, glimmten ihre Augen auf, als würde sanft eine innere Glut darin geschürt. Keine bewusste Entscheidung, keine Anstrengung. Agnellina konzentrierte sich auf das Ziel und dachte nicht über ein wie nach.
