Die Menschen hatten längst gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Gerüchte schwirrten, Bittgesuche, Aberglaube, Zaubersteine um einen Acker her, änglichste Beratungen auf dem Dorfplatz. Nach Harls Gespür war es nur eine Frage der Zeit, bis irgend jemand auf irgend jemand anderen mit dem Finger zeigte. Bevor ein Prediger begann, gegen die Teufel zu wettern, oder ein Dorfältester versuchte, die Fäulnis an der Wurzel auszurotten.
Es gab diese Kipppunkte, fand er. Der Punkt, wenn ein Topf Wasser über dem Feuer begann, zu kochen. Wenn Wind und Wasser einen Berghang lange genug abgerieben hatten, dass aus tausend kleinen Steinen eine krachende Lawine wurde. Wenn aus einem Dorf verwirrter, ängstlicher Menschen ein Mob wurde.
Wenn diese Momente kamen, dann war man besser weit fort. Es gab dann nichts zu gewinnen, nur alles zu verlieren.
Und das war einer der Gründe, warum er in diesen Tagen allenfalls um Votori herumzirkelte. Es gab genügend andere Fährten, Beute für verschiedene Arten von Hunger. Heute Nacht war ging es um einen Hunger, der sich nie schnell stillen ließ. Selten überhaupt. Harl konnte ihn nicht klar benennen, aber er wusste, dass es dauern würde. Er wusste, dass es mühselig werden würde. Er wusste, dass sehr wenig auf der Welt so befriedigend war wie der eine Moment, wenn sich die Zähne dann doch in diese Art Beute gruben. Beute, die keine war, mit Zähnen, die nicht aus Zähnen bestanden. Es war schwer zu benennen, abstrakt und kompliziert und er zerbrach sich nicht den Kopf darüber.
Er war auf der Fährte von zwei Frauen. Nicht irgendwelche Frauen. Sie waren stark und zäh und wussten, wie man sich leise bewegt. Sie gehörten nicht nach Votori, aber sie hatten eine andere Frau dort besucht, die ebenso war wie sie. Nur älter. Zäher. Schlauer. Langsamer geworden durch all die Zeit, die sie in der Welt zugebracht hatte.
Die zwei Frauen hatten von Votori aus aufbrechen wollen. ‘Zum neuen Unterschlupf’, was auch immer das geheißen hatte. Ihre Fährte war nur wenige Stunden alt. Wahrscheinlich hatten sie zum Abend ankommen wollen wo auch immer sie hin wollten.
Sie hatten zwei Wegstunden von Votori entfernt Rast gemacht, wahrscheinlich etwas gegessen, sehr sicher an den Wegrand gepinkelt. Der Weg war nach Osten zurückgegangen, wo es ein wenig waldiger wurde, weil das Land hier zerklüftet, steil und unwirtlich war und keine großen Felder und Höfe zuließ.
Die Frauen hatten die Küstenstraße verlassen als würden sie nicht nach Genua hinein wollen sondern irgendwo weiter nördlich. Vielleicht zur Straße nach Pontedecimo. Vielleicht zu irgend etwas direkt hier. Es war kein schlechter Ort für einen Unterschlupf, wenn man Einsamkeit suchte.
Doch er wusste es nicht. Er musste der Fährte folgen, Fußstapfen und kleinen Zeichen im Gesträuch, manchmal einfach mit einem Blick auf die Landschaft und wo man sich hier wohl einen Weg suchte, wenn man bereits Stunden unterwegs war.
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Spoiler!