[1087] Zur späten Stunde [Harl, Rivana]

[Harl]

Das ‘A Tarda Ora’ hatte in all den Jahren nichts von seiner Pracht eingebüßt. Es wurde wohl instandgehalten und nach wie vor gab es Wächter, die den Vorplatz und das Gebäude im Blick behielten, und Diener, die schweigsam ihren Pflichten nachgingen.

Harl war nicht zum ersten Male hier, doch er war sicherlich kein häufiger Gast. Als er das erste Mal hergekommen war, hatte er nichts getragen außer einer Laterne. Nun trug er immerhin eine Art von Hüftwickel, der mit einem aufgespleißten Stück Seil um seine Hüften gebunden war. Er trug sogar eine Art Fischspeer mit sich, auch wenn der den Namen nur so gerade eben verdiente, denn eigentlich war es einfach nur ein halbwegs gerader, angespitzter Stock. Am Eingang fragte er nach einem der Hausdiener. Der Wortwechsel war ein wenig länger, hin und her.

Dann wurde er allein gelassen, anscheinend auch, um noch etwas zu warten, denn Harl begann, von der Eingangshalle her die einfach zugänglichen Gänge des Hauses auf- und abzugehen. Doch letztlich fand er sich wieder in der Nähe des Eingangs wieder, wo dieses prächtige Fresko sich über zwei Stockwerke hinweg über eine ganze Wand erstreckte. Dort hockte er sich hin, legte den Fischspeer neben sich nieder und starrte auf dieses Abbild von Wellen und Meer.

[Rivana]

Rivana kam etwas nach Mitternacht wieder zurück zum A Tarda Ora. Sie hat die letzten Stunden damit verbracht, sich die Straßen und Gassen Genuas einzuprägen. Jedes Mal, wenn sie durch die Straßen Genuas ging, entdeckte sie immer irgendetwas Neues. Dementsprechend sah sie auch etwas aus. Der dunkelgrüne Umhang, den sie hatte, war bedeckt durch Schlammflecken und an einigen Stellen hatte er kleine und größere Risse. Die kamen daher, weil Rivana an der ein oder anderen Stelle hängen geblieben ist mit dem Umhang.
Als Rivana durch die Tür ging in der Zur späten Stunde fiel ihr auf, dass mittlerweile die Tür geölt worden war. Nicht so wie beim letzten mal wie Rivana Agnellina kennengelernt hatte. Als sie daran zurück dachte, hatte sie wieder ein Lächeln auf ihren Lippen.
Rivana ließ die Tür leise zufallen und sah, dass jemand vor dem Fresko saß und dieses bewunderte. Rivana schaute, ob ihre Maske und ihre Kapuze richtig saßen, denn ohne wollte sie sich nicht zeigen. Sie trat ein paar Schritte näher an ihn heran und sprach:
“Beeindruckend, nicht wahr?”
Rivana musterte den Fremden und wartete auf seine Reaktion

[Harl]

Er drehte den Kopf ein wenig, sah gar nicht zu ihr her sondern schien nur auf ihre Schritte und dann ihre Worte zu lauschen. Wie einer, der blind war. Doch wenn er blind war, wie konnte er dann ein Fresko bestaunen?

„Ja…“, antwortete er ihr. Etwas langgezogen, mehr ein Raunen als ein klares Wort. „Steine, die Wasser sein sollen. Und mehr. Bewegung. Sog. Druck. Sturm darüber.“
Er blieb Rivana halb zugewandt, schien sehr genau auf sie zu lauschen. Er hatte seine Körperhaltung sonst kaum verändert, kauerte halbnackt da und schien sich nicht ganz von dem Werk trennen zu wollen.
„Doch Stein ist Stein. Und doch… .“
Er machte eine Geste, groß und weit über das gesamte Fresko hinweg. „Hier.“

[Rivana]

“Stein bleibt Stein, hart und fest. Aber da, auf diesem Fresko, scheint etwas zu passieren, als ob der Künstler versucht hat, den Stein lebendig zu machen. Es wirkt, als ob sich dort Bewegung abspielt, obwohl alles stillsteht.”
Er, halb nackt und dennoch so vertieft, scheint jedes Wort, das sie spricht, aufzusaugen, als ob er Blind wäre und nur durch ihre Schritte und Worte die Welt wahrnehmen könnte.

[Harl]

“Ja.”
Er schien erleichtert, dass sie verstand. Er hob seine Hände, die geschundene Fingernägel zeigten und die typische, rissige Haut von arbeitenden Händen, von Fischerhänden, die Netze auswarfen oder flickten, Fische entschuppten, Meerwasser schöpften.

Er versuchte nun allerdings, weiche und filigrane Formen in der Luft nachzuzeichnen. “Wie Zauberei.” Dann ließ er die Hände ein Stück weit sinken und deutete aus dieser Bewegung heraus mit einem Zeigefinger ungefähr in ihre Richtung. Der Deut traf nicht ganz, aber doch ungefähr ihre Position.

“Ein Gast im Haus?”, fragte er sie. “Oder wie ich, auf ..nh… Botengang?”

[Rivana]

Trotz Rivana´s häufigen Ein- und Ausgehens hatte sie der prachtvollen Halle, in der sich die beiden gerade befanden, noch nie Beachtung geschenkt. Sie schien sich stets so bewusst und konzentriert auf ihre eigene Mission oder ihre Gedanken zu sein, dass der majestätische Raum, der voller Schönheit und Geschichte war, in ihrem Blickfeld verloren zu gehen schien. Es war, als ob sie absichtlich die Augen vor der prunkvollen Pracht verschloss, während sie sich beharrlich auf ihr eigenes verborgenes Ziel konzentrierte. Die ehrfürchtige Atmosphäre und die imposante Kunst um sie herum schienen für sie unbeachtet zu bleiben, als ob sie in einer Welt wandelte, die jenseits der physischen Umgebung lag.
“Hier bin ich als Gast” erwiderte Rivana mit einer höflichen Stimme, während ihr Blick weiterhin fasziniert am Fresko verweilte.

[Harl]

“Nh”, machte er und zupfte sich ein wenig an seinem ausgefransten Kinnbart. Das konnte alles und gar nichts bedeuten. Er schien nicht unbedingt zu wissen, was er nun sagen sollte. Oder dass man nun etwas sagen sollte? Die Pause streckte sich. Vielleicht war das auch in Ordnung.

Er wandte sich wieder der Wand und jenem gewaltigen Fresco zu. Immer noch machte es den Eindruck als würde er lauschen. Vielleicht ihr? Es war eine Welt, in der man besser immer wachsam blieb.

[Rivana]

Die Stille füllte den Raum, während seine Gedanken in der Luft zu schweben schienen. Die Bedeutung seines leisen Lautes blieb im Schweigen verborgen, und er verharrte weiterhin vor dem beeindruckenden Fresko an der Wand.
"Verzeiht die Neugier, doch mit wem habe ich das Vergnügen?", erklang die Frage höflich aus ihrem Mund. Die Worte trugen einen sanften Hauch von Interesse, während sie ihren Blick behutsam auf die Gestalt richtete, die vor ihr saß.

[Harl]

Ihre höfliche und auch wohl recht förmliche Art ließ ihn sich ihr dann doch zuwenden. Harl erhob sich und hob in derselben Bewegung auch den Speer auf, der ihm wohl zugleich auch als ein Stock diente. So wandte er sich ihr ganz zu. Seine Augen waren zu hell, eines so als wäre es blind, das andere kaum dunkler.

Er legte eine Hand auf die Brust und nickte einmal in einer Geste, die so förmlich und schön wirkte wie ihre Redeweise von zuvor. “Ich bin Harl”, sagte er. Der Name klang mehr wie ein Laut als wie ein hierzulande gewohnter Name. Er rollte ihm aus der tiefen Kehle heraus über die Lippen. Doch als er dann weiter sprach, klang es durchaus klar und höflich, was wiederum einen bizarren Gegensatz zu seinem halbnackten, vernarbten, nicht eben sauberen und wohl auch rundheraus hässlichen Äußeren bildete:
“...neugeboren in den Clan von Mond und Gezeiten.”

Er machte dann eine eigentlich schön geschwungene Geste zurück in ihre Richtung. “Und Ihr seid…?”

[Rivana]

Rivana neigte leicht den Kopf, eine Geste der Anerkennung und Respekt. "Rivana, Neugeborene vom Clan der Verborgenen", antwortete sie ruhig, ihre Worte umhüllt von einer sanften Melodie. Ihre Stimme war eine Mischung aus Stille und Eleganz, die sich im Kontrast zu der Umgebung, in der sie sich befanden, abhob.
“Wenn ich fragen darf, welche Art von Botengang führt euch ins A Tarda Ora?