[Fluff] In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat [Agnellina, Gabriel]

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Agnellina
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[Fluff] In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat [Agnellina, Gabriel]

Beitrag von Agnellina »

Lange hatte Agnellina darüber nachgedacht, womit und auf welche Weise sie würde beginnen können. Er hatte ihr seine Zeit und Nächte mit seiner Aufmerksamkeit gegeben und sie nahm die Vergeltung dessen sehr ernst. Sie hatte ihm Unterhaltung versprochen und war gewillt, ihm diese nach Kräften zu verschaffen. Sorgfältig vorbereitet und mit Ankündigung hatte sie ihn in dieser Nacht aufgesucht. Während er sich seiner Arbeit widmete, hatte sie sich einen für sie angenehmen Platz in für sie sicherer Entfernung von ihm im Raum gesucht und sich unzeremoniell auf den Boden mit einer Wand im Rücken niedergelassen. Und während ihr Gastgeber an seinem Arbeitsplatz wirkte, breitete sie ein bereits aufgetrenntes Hemd in ihrem Schoß aus und begann neue Nähte und Säume zu setzen. Mit fleißigen Händen bei der ruhigen Arbeit begann sie zu erzählen.

Heute Nacht möchte ich gern eine Erzählung mit Euch teilen, die mir als Kind bereits viel Freude machte. Als ich älter wurde, hielt ich diese Geschichte für ausgeschmückt und übertrieben. Die Geschichte hat mir der Sohn des Schmiedes dort erzählt, wo ich aufwuchs. Es ist die Geschichte seiner Familie gewesen, seines Großvaters und sie trug sich zu als dieser ein junger Mann war.

Agnellina hatte sich an seine wohlklingende Beschreibung zur Magie der Worte und dem Erschaffen von Welten erinnert. So wählte sie ihr vertraute Zauberworte, mit denen sie die Erzählung begann:

In vergangenen Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da war der alte Schmied Paisano noch ein junger Mann. Sehr jung war er in die Ehe gegangen und hatte sich seinem Weib versprochen und sie sich ihm. Nicht lange danach zwangen Sorge und Not den armen Mann sich bei einem weit entfernten Schmied als Geselle zu verdingen. Seine Frau blieb im Haus seiner Eltern zurück, versprach sich um diese wie um die ihren zu kümmern und seiner treu und geduldig zu erwarten. Paisano zog einen weiten Weg in die Fremde, bis er eine gute Stelle fand und es gingen ganze zwanzig Jahre harter und lehrsamer Arbeit ins Land. Im zwanzigsten Jahr in der Fremde endlich beschloss er, seinen Dienst aufzukündigen und sagte zum Schmied: „Gebt mir den Lohn für meine Arbeit, denn ich muss nach Hause und nach meiner Familie sehen.“
Sein Meister, der Schmied, war ein guter und ehrlicher Mann. Als er von Paisanos Entschluss hörte, sagte er: „Ich habe mich an dich gewöhnt als wärest du mein eignes Kind. Bleib noch ein paar Jahre!“, bat er, „Du wirst meine rechte Hand in der Schmiede.“
Doch der Entschluss des Schmiedegesellen war unverrückbar. „Ich kann nicht bleiben“, beharrte er, „denn als ich aus meinem Heimatdorf fortging, habe ich meine junge Frau zurückgelassen. Sie hat mir geschworen zwanzig Jahre auf mich zu warten. Nun muss ich gehen, denn wenn ich auch dieses Jahr nicht zurückkomme, wird meine Frau das Haus verlassen.“
„Wenn es so ist, dann musst du gehen“, sah der Schmied schweren Herzens ein. „Doch bevor du gehst, folge mir, damit ich dir deinen Lohn auszahlen kann.“ Er führte ihn in eine geheime Kammer, schloss eine kleine Truhe auf, die er darin verwahrte und nahm drei Goldstücke heraus. „Paisano, du hast mir treu gedient, deshalb will ich dich gut bezahlen. Aber ich bin nicht reich. Hier habe ich drei Goldstücke aufbewahrt. Nimm sie alle drei. Es ist nicht viel, doch wisse, dass ich sie dir von Herzen gebe. Wenn du mich eines Tages brauchst, so komm zu mir. Ich bin bereit, dir dereinst meine Schmiede abzutreten.“
Paisano nahm die drei Goldstücke dankend an, verabschiedete sich von seinem Meister und machte sich auf den langen Weg zurück in sein Dorf.

Auf der Wanderschaft trug es sich nun zu, dass ihm drei Wanderer begegneten. Zwei waren junge, kräftige Männer, der dritte war ein würdevoll ergrauter Greis, der in Pantinen hinter den beiden her stapfte. Mit den jungen Männern kam Paisano rasch ins Gespräch. Sie fragten, woher er komme, was er für Arbeit gehabt hätte, nach seinem Meister und auch, ob er viel verdient hätte. Ein reges Gespräch entstand unter den dreien, während der Alte die gesamte Zeit schwieg und keine Miene verzog. Nur wenn er hörte, wie die Vögel in den Bäumen am Wege sangen und zwitscherten, dann lächelte er beglückt und stillvergnügt vor sich hin. Doch nie kam ein Laut über seine Lippen und nie beteiligte er sich am Gespräch der jüngeren Männer. Als die Männer an einem Weiher rasten, fragte Paisano, wer denn der schweigsame Alte sei.
„Das ist unser Vater“, antworteten ihm die beiden jungen Männer.
Der Schmiedegeselle betrachtete den bärtigen Alten lange, der ganz gebannt den Teichhühnern zusah, und fragte: „Warum lächelt er immer so verschmitzt?“
„Er versteht die Sprache der Tiere. Wahrscheinlich hat er gehört, was für lustige Geschichten sich die Vögel in den Bäumen erzählen.“
Tatsächlich war das leise Rufen eines Vogels im nahen Schilf zu hören.

Agnellina hielt beim Nähen inne und stieß ein regelmäßiges „tück - tück - tück“ aus und ahmte die hohl gluckenden Töne eines Blesshuhn nach. Ihre Augen lächelten bei der akustischen Untermalung der Geschichte. Sie hatte Freude daran, es auszuschmücken und die Szenerie neben dem schlichten Erzählen in seinen Ohren aufleben zu lassen.

„Aber warum sagt er nichts?“, fragte der Geselle weiter.
„Weil man ihn für jedes Mal, das er den Mund auftut, etwas zahlen muss.“, sagte der eine Bruder und der andere ergänzte: „Für jeden Satz verlangt er ein Goldstück.“
Paisano staunte nicht schlecht darüber. Mit seinen drei Goldstücken in der Tasche überlegte er: ‚Ich bin ein armer Mann und wenn ich diesem bärtigen Alten ein Goldstück gebe, werde ich auch nicht viel ärmer sein. Dann werde ich wenigstens hören, was er zu sagen hat.‘
Er zog entschlossen ein Goldstück aus der Tasche und reichte es dem Alten. Nun machte dieser tatsächlich den Mund auf und sprach : „Wate nicht durch trübes Wasser!“

Sie ließ den seltsamen Ausspruch ein wenig verklingen und beobachtete die Wirkung auf ihren Zuhörer dabei.

Während sie weiter wanderten, ging Paisano hinter dem Greis her. Er machte sich Gedanken über den sonderbaren Ausspruch und den kauzigen Alten. ‚Ein wunderlicher Greis! Die Sprache der Vögel versteht er, und für jedes Mal, das er den Mund auftut, nimmt er ein Goldstück. Was wird er wohl sagen, wenn ich ihm das zweite Goldstück gebe?‘
Endlich griff er in die Tasche und reichte dem Alten sein zweites Goldstück. Dieser nahm es und sprach: „Wenn du irgendwo Adler kreisen siehst, so geh hin und sieh nach, was es da gibt!“ Danach verstummte er wieder.
Der Schmiedegeselle kratzte sich am Kopf und dachte bei sich: ‚Schau an, was für seltsame Sprüche er tut! Wie oft habe ich Adler kreisen sehen, aber niemals bin ich vom Weg abgegangen, um zu sehen, was es da gibt.‘

Nach Stunden erreichten sie einen Kreuzweg. Ein letztes Mal rasteten sie gemeinsam, bevor sich ihre Wege trennen würden. Denn die Männer wollten mit ihrem Vater den oberen Weg nehmen, der Schmiedegeselle jedoch den unteren, der ihn zu seinem Dorf führen würde. Während sie bei Wasser und Brot rastete, lauschte der Alte wieder mit sanftem Lächeln den Vögeln, die in den Stäuchern in ihrer Nähe um Insekten und die Liebsten wetteiferten.

Es erklang ein Quietschen und dazu ein Zwitschern. Agnellina hielt eine Art kleine Rindenpfeife in der Hand, die sie drehte. Durch das Drehen entstanden die quietschenden Töne. Gleichzeitig hatte sie die Lippen gespitzt und ließ ähnliche Zwitschertöne erklingen. Agnellina brauchte das Spielzeug nicht um das aufgeregt schimpfende Stimmchen eines Rotkehlchen mitten in der Nacht erklingen zu lassen, doch mit dem Holzstück konnte sie ein regelrechtes Zwiegespräch erzeugen. In diesem Augenblick hatte sie die Augen nicht auf ihren arbeitenden Zuhörer gerichtet, sondern war ganz bei sich selbst und dem Wechselspiel zwischen ihren Pfiffen und dem Quietschen in ihrer Hand. Eine akustische Erinnerung an die Frühlingskonzerte in den Hecken in Feld und Flur, wenn es um Nahrung und Revier, um Vogelwerbung und den Nachwuchs bei den putzigen rotbrüstigen Kerlchen ging. Mit Freude malte sie mit den Geräuschen die Szene der Geschichte aus, für die sie das Instrument gebastelt hatte.

Der Geselle beobachtete den Alten und hörte das Konzert, welches ihm doch nur ein wildes Pfeifen und Zetern in den Ohren war, obgleich er die Schönheit der Musik der Vögel hören konnte. Doch nichts von dem, was der Alte an wunderlichen Weisheiten darin hören mochte.
‚Ich will ihm doch auch das dritte Goldstück geben. Ob ich nun ein Goldstück habe oder keines, das ist schon gleich.‘ dachte er bei sich. Er griff zum dritten Mal in die Tasche und reichte dem Alten sein letztes Goldstück.
Der Alte nahm es und sagte: „Ehe du etwas tust, zähle bis fünfundzwanzig!“

Die vier gingen noch ein Stück Wegs zusammen, dann kamen sie an einen Kreuzweg und trennten sich. Der Vater und seine Söhne schlugen den oberen Weg ein und der Schmiedegeselle den unteren, der zu seinem Dorf führte.

Sein Weg war noch lang und gegen Mittag des nächsten Tages kam er an einen Fluss. Dieser war tief und sein Wasser trüb. Er toste und führte abgerissenes Laub und Baumstämme mit. Paisano betrachtete den Fluss und erinnerte sich an den ersten Spruch des schweigsamen Alten. So wagte er nicht durch das trübe Wasser zu waten. ‚Später will ich eine Brücke oder eine Furt suchen‘, beschloss er. Darum setzte er sich ans Ufer, nahm sein Brot aus dem Beutel und aß.

Mit den Fingerspitzen klopfte Agnellina einen trappelnden Rhythmus auf dem festen Boden.

Eine Weile war vergangen, als er Pferdegetrappel hörte. Ein stattlicher Kaufmann kam auf einem herrlichen Schimmel angeritten.
„He, Bruder“, rief der Kaufmann, „warum gehst du nicht ans andere Ufer?“
„Ich wage nicht, durch das trübe Wasser zu waten.“, erklärte Paisano und deutete auf den tosenden Fluss.
„Was bist du für ein Dummkopf?“, fragte der Kaufmann überheblich und trieb sein Pferd an. Das prächtige Tier sprang in den Fluß. Aber die starke Strömung riss Pferd und Reiter mit sich fort und in einer Stromschnellen versank der Kaufmann plötzlich und ertrank vor Paisanos Augen. Als das Pferd spürte, dass es keinen Reiter mehr trug, kehrte es um, kletterte das Ufer hinauf und blieb vom Wasser triefend stehen. Der Schmied ging langsam auf das nun herrenlose Tier zu, beruhigte es und streichelte seine Stirn. Dann schwang er sich in den Sattel und ritt das Ufer entlang, bis er eine Brücke fand. Er ritt hinüber und galoppierte seinem Dorfe entgegen.

Wieder untermalten ihre Finger die kleine Pause der Erzählung und ließen das Pferd nun galoppieren.

Paisano kam gut voran und erfreute sich an dem schönen Tier. Doch als er durch ein bewaldetes kleines Tal ritt, sah er drei große Adler darüber kreisen.
‚Ich muss doch mal nachschauen, was es in diesem Tal gibt.“, dachte der Schmiedegeselle. Er stieg vom Pferd, band es am Wegesrand an und brach sich einen Weg durch das Dickicht. Nicht lange währte die Suche und er fand in einem Gebüsch zwei bärtige, finstere Männer - aber sie waren tot. Neben ihnen lag ein Lederbeutel voll Goldstücke. Die Männer waren Räuber gewesen, die in der Nachte einen reichen Kaufmann beraubt hatten. Sie waren in dieses Tal gekommen und hatten das Versteck im schützenden Dickicht aufgesucht, um ihre Beute zu teilen. Doch böse Herzen vermuten stets die Missgunst, die sie anderen zudenken und so waren sie in heftigen Streit geraten. Erst mit groben Worten, dann hatten sie begonnen zu raufen und letztlich hatten ihre furchtbaren Messer einander so zugesetzt, dass sie sich gegenseitig umgebracht hatte. Paisano nahm den Beutel mit den geraubten Goldmünzen, Silbermünzen und Kupferstücken, steckte eines der Messer in seinen Gürtel und machte sich wieder auf den Weg.

Es wurde Abend, als er sein Heimatdorf endlich erreichte. Das Pferd hatte ihm viele Stunden der Wanderung erspart und der Beutel der Räuber hatte ihn als einen besser gestellten Mann heimkehren lassen. Freudig ritt er in seinen so lange entbehrten Hof, sprang vom Schimmel und band das gute Tier an. Dann ging er auf das Haus zu.
Doch bevor er eintrat, dachte er bei sich: ‚Vielleicht ist es besser, ich schaue erst einmal durch‘s Fenster und sehe, was meine Frau tut.‘
Das Fenster stand offen und es brannte Licht, so konnte er hinein sehen.. Am Tisch saß seine Frau und ihr gegenüber ein Mann, der dem Fenster den Rücken zukehrte. Als der Paisano das sah, zuckte er schmerzlich zusammen.
‚Ach, diese untreue Frau! Sie hat mir geschworen, sich nicht zu verheiraten, solange ich fort bin, aber nun hat sie einen fremden Mann in mein Haus gebracht!‘ Er fühlte bittere Enttäuschung sein Herz ergreifen und griff schon nach dem furchtbaren Messer des Räubers. Beide würden es büßen. Doch in diesem Augenblick fiel ihm der Rat ein, den ihm der alte Kauz für sein letztes Goldstück gegeben hatte. ‚Ehe du etwas tust, zähle bis fünfundzwanzig.“
Paisano dachte, dass die weisen Ratschläge der Vögel und die Worte des klugen Alten, der sie zu verstehen wusste, ihm Leben, Pferd und Gold beschert hatten und hielt ein. „Gut, ich werde bis fünfundzwanzig zählen“, beschloss er, „aber dannach sollen sie mir nicht entgehen!“
Er begann zu zählen. Da hörte er, wie der Mann in der Stube zu der Frau sagte: „Mutter, morgen ziehe ich aus, um den Vater in der Fremde zu suchen. Ich habe Sehnsucht nach ihm. Wieviel Jahre ist es her, dass er uns fort gegangen ist?“
„Zwanzig Jahre sind es nun, mein Kind. Als dein Vater fortging, lagst du noch in der Wiege.“
„Oho, was hätte ich da angerichtet, wenn ich nicht bis fünfundzwanzig gezählt hätte.“, erkannte Paisano und rief durchs Fenster: „Liebe Frau, mein lieber Sohn, kommt heraus und begrüßt den Vater.“

Agnellina beendete die Erzählung an dieser Stelle, packte ihre Näharbeit zusammen und trat an seinen Arbeitstisch heran. Die kleine Pfeife, welche die Geräusche des Rotkehlchens erzeugen konnte, legte sie vor ihn auf den Tisch.

„Ich hoffe sehr, ich konnte meiner Verpflichtung gerecht werden und Euch unterhalten, Herr. Für eine andere Nacht möchte ich Euch eine Wahl anbieten, so Ihr keine besonderen Wünsche hegt. Ich weiß eine Geschichte, die von der Weisheit alter Menschen handelt. Auch kann ich Euch von einem scheinbar unwirklichem Völkchen erzählen, welches einen ganz besonderen Brauch pflegt. Oder Ihr möchtet vielleicht mehr von den großzügigen Gaben der Tiere hören, die sie einst jemandem zum Geschenk machten.“
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[Fluff] In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat [Agnellina, Gabriel]

Beitrag von Agnellina »

Es war regnerisch in dieser Nacht zum Jahresende und Agnellina war mit groben Holzschuhen und einem wollenen Umhang angetan. Die Kapuze war tief in ihr Gesicht gezogen, als sie eintrat. Sie befreite sich von der Verhüllung. Der Regen hatte kleine Wasserperlen in ihre dunklen Locken gesprüht. Nach der Begrüßung und dem Austausch von Höflichkeiten, suchte sie sich wie gehabt eine ihr genehme Stelle, an der sie sich niederließ.

Sie hatte nichts dabei als einen hellen Knochen, der an ihrem Gürtel steckte und dort blieb. Offenbar wollte sie in dieser Nacht keiner handwerklichen Tätigkeit nachgehen. Wohlig streckte sie sich und setzte an zu reden.


„Es ist für mich jedes Jahr aufs neue seltsam, in dieser Nacht nichts weiter zu besorgen zu haben. Das war anders, als das Herz noch schlug. Da war es wichtig noch das Brot für die kommenden Tage zu backen. Besonders am Ende, da wurde der Backtrog besonders gründlich ausgeschabt. Aus diesen Resten wurde das Neujahrsbrot gebacken. Denn jedes Tier muss am Morgen seinen Bissen davon bekommen, dann gedeiht es gut im neuen Jahr. Auch die Reste der alten Salzsteine wurden an diesem Morgen restlos verfüttert, wenn denn noch etwas übrig war.“

Agnellina strich mit den Fingern über den Schafknochen an ihrem Gürtel. Dann sah sie ihn an.

„Ich bin froh, dass Ihr mich heute Nacht empfangt. Es ist eine Nacht, die viele Geschichten birgt. Und hier in Genua bin ich tatsächlich auf eine für mich neue gestoßen. So richtig eine Geschichte, wie Ihr sie wünschtet, Herr, ist es freilich nicht. Es ist ein Brauch, der zumindest in einer Familie gepflegt wird, mit der ich hier das Glück hatte, Bekanntschaft machen zu dürfen. Wahrscheinlich werdet Ihr es für weibische Narretei halten, doch vielleicht kann ich Euch auch ein wenig davon vermitteln, was für ein warmes Glück es ist, in der Gemeinschaft der Vertrauten eine solche Sitte zu pflegen. Vielleicht lassen Euch meine Worte zumindest erahnen, welche Hoffnung und Freude sich in diesem Tun verbirgt.
So ist es den Mädchen wichtig, am letzten Tag des Jahres oder genauer am letzten Altjahresabend, eine Art Fainas zu machen. Dabei kommen nicht die üblichen, wohlschmeckenden heraus. Nein, diese sind bestimmt wirklich schwer zu essen. Vermutlich bekommen die Mädchen sie beinahe so schlecht hinunter wie ich es würde. Doch der Lohn ist vielversprechend, wenn man es denn schafft alles richtig zu machen.“

Agnellina lächelte bei der Vorstellung und ihre Stimme nahm den Klang an, den sie bekam, wenn sie die Bilder in ihrem Kopf in malende Worte umformte. Sie gab ihm nicht schlicht den Brauch wieder. Sie wollte ihn unterhalten und sie bemühte sich, seine Vorstellung mit sich in die Welt ihrer Geschichte zu locken.

„Raffaela hatte ihre kleine Schwester Paolina schon Tage im Voraus gefragt, ob sie ihr helfen würde, das Tuch ein wenig zu lüften, welches über den Zeiten liegt, die da kommen werden. Die kleine Paolina ist ein herziges Ding und nur zu gern bereit, der älteren Schwester gefällig zu sein. Sie frug ohne Unterlass, wie dieses Lüften denn vor sich gehen würde und was dabei zu tun sei. Ganz genau wollte sie alles wissen. So hatte ich das Glück, dass sie mir das Vorhaben in allen Einzelheiten zu schildern wusste. Zunächst mussten sie eine dritte gefällige Helferin finden, denn alles Gewerke für dieses Kunststück braucht die aufrichtige Bemühung dreier Leute, sonst wäre alles Mühen vergeblich. Paolina war voller Eifer auf der Suche nach der dritten Hand. Die Mutter war selbstredend nicht zu fragen, ebenso winkten die beiden ältesten Schwestern ab, die bereits junge Damen waren und denen die kommende Zeit bereits wissend geheißen war. Auch die Mägde im Hof, welche der Mutter in Küche und Wirtschaft zur Hand gingen, schlugen nur die Hände über dem Kopf zusammen und lehnten rundweg ab. Derartige Bräuche hatten sie schon früher probiert, aber wenn man diese Fainas gegessen hätte, könne man weder schlafen noch träumen. Sie würden diese Wunderbissen niemals wieder versuchen wollen. So kam die Bitte an mich, ihnen zu helfen. ‚Du darfst die ganze Zeit über weder lachen noch sprechen. Ganz still musst du sein und keine Miene darfst du verziehen, während wir die Fainas machen.‘, erklärte Paolina mir. ‚Und du darfst auf nicht das kleinste bisschen davon auf den Boden fallen lassen. Kein Stäubchen vom Mehl. Kein Tröpfchen vom Wasser. Kein Krümelchen vom Salz.‘ So genau muss man sein, um zu einer Wirkung zu kommen. Ich dankte herzlich und schlug bedauernd aus. Doch die Kleine war voller Zuversicht in der alten Hilla Unterstützung zu finden.

So werden sie sich also in dieser Neujahrsnacht nach draußen wagen und zur alten Hilla schleichen. Die Nacht wird finster für sie sein, Raffaela wird der kleinen Schwester auf dem Wege Mut machen, dass es gut so sei. Die Neujahrsnacht müsse dunkel und unergründlich sein, ebenso wie es die Zukunft sein, in die man auch nicht hineinsehen könne. Die alte Hilla wird ihnen gewiss helfen. Sie hat ein die Kinder innig liebendes Herz und das Alter hat ihr die Runzeln in ein freundliches Gesicht geritzt. Ihre Finger sind krumm und knochig von der Gicht, die ihr arg zusetzt. Dennoch hat sie etwas vornehmes und zierliches in ihrer Erscheinung. Sie wird die Mädchen einlassen in ihr kleines, warmes Zimmer. Raffaela wird es sein, die das Anliegen um die Faina hervorbringt. Hilla wird die Mädchen zunächst ein wenig auslachen, aber doch gleich ja sagen. Sie wird ihnen versichern, dass sie mittun wolle, denn sie warte immer auf jemanden und möchte wohl wissen, ob er in diesem neuen Jahre kommen würde.

Sie werden eine Schüssel vom Regal hinter dem Herd herunter nehmen. Und damit beginnt das Wunderwerk. Sie müssen die Schüssel zu dritt greifen und herunter ziehen. Die gichtsteifen Finger Hillas müssen die Schüssel ebenso greifen wie die kurzen Arme von Paolina und auch Raffaela muss zugreifen. Alle drei müssen die Schüssel am Rand festhalten, sie zum Küchentisch tragen und dort abstellen. Dann müssen sie einen Rührlöffel haben. Alle drei miteinander gehen zum Lädchen, in welcher Hilla ihre Gerätschaften zum Kochen bewahrt, um den Löffel zu holen. Und alle drei halten die Löffelstiel fest, wenn sie ihn zum Tisch tragen und dort ablegen. Dann gießen sie gemeinsam genau drei Löffel voll Wasser in die Schüssel und sprechen dabei kein einziges Wort. Keine von ihnen lacht, während sie das tun. Kein Tropfen Wasser geht daneben. Nun sind die ersten Schritte getan. Sie schütten drei Löffel voll Mehl in das Wasser. Auch dabei halten sie alle drei den Löffel, stecken ihn miteinander ins Mehlkästchen, heben alle drei zusammen das Mehl heraus und schütten es auch in das Wasser. Keine von ihnen lässt den Löffel los, keine spricht, keine lacht und sie lassen auch nicht das kleinste Stäubchen Mehl auf den Boden fallen. Dann fügen sie Salz hinzu, ebenfalls ganze drei Löffel voll, die sie in trauter Zusammenarbeit in die Schüssel befördern müssen. Auch jetzt läuft es geradezu traumhaft, niemand spricht, keiner lacht und auch nicht das kleinste Körnchen Salz wird verstreut. Aber dann - unglaublich.“

Sie hielt inne, schüttelte den Kopf. Die Geschichte war von ihren Bewegungen begleitet worden. Agnellina hatte sich selbst mitgerissen und die Bemühungen des Zusammentragens und Abmessens der Zutaten mitgespielt.

„Da haben sie nun alle Zutaten zusammen und sind so weit in der Verrichtung gekommen und da fragt Hilla, ob man Fett in die Pfanne tun solle. In diesem Moment, als Hilla das Schweigen bricht und das sagt, schleudert Raffaella den Löffeln weg, wirft sich prustend auf einen Stuhl und bricht in lautes Lachen aus. Paolina hält zwar den Löffel fest, aber wird von dem Lachen der Schwester mitgerissen und bekommt einen so fürchterlichen Lachkrampf, dass es sie nicht mehr auf den Beinen hält. Sie kugelt sich auf dem Boden und meint, gar nicht wieder zu lachen aufhören zu können. Hilla verzieht den Mund nur ein wenig. Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, sich zu versprechen. Doch sie wird sich an die alten Zeiten erinnern und weiß, dass ohne ein kleines Missgeschick kein rechter Spaß dabei ist, wenn man diese Faina zur Zukunftsschau backt. Und es ist ihr so lieb, wenn die Kinder einfach von Herzen lachen. Es dauert gewiss seine Zeit, bis Raffaela und Paolina sich gefasst haben und sie beschließen ganz sicher wieder von vorn anzufangen. Denn alles, was bis dahin geschafft war, ist nun nichts mehr wert. Sie säubern die Schüssel und beginnen also von vorn. Doch nun ist es nicht mehr so leicht, denn sie sind hierbei in lächerlicher Laune. Zuerst gießen sie also Wasser in die saubere Schale und hier kommen sie schon nicht mehr weiter, weil sie schon wieder lachen müssen. Das große Mädchen ist am schlimmsten. Paolina ist zwar jünger, doch sie kann sich besser beherrschen. Wenn Raffaela sich die letzten Tränen der Albernheit aus den Augen wischt und sich gefasst hat, wird sie sagen, dass sie nun aber ordentlich sein müssten, wenn sie denn noch vor der Mitternacht fertig werden wollen, wie es erforderlich für das Gelingen ist. So bemühen sie sich also um große Ernsthaftigkeit und versuchen es zum dritten Male.“

Die Neugeborene machte ein ernstes Gesicht zur Erzählung und ihre Hände vollführten wieder die beschriebene Zubereitung in der Luft.

„Zuerst gießen sie das Wasser in die Schüssel, dann schaufeln sie drei Löffel Mehl hinein und dann das Salz. Anschließend verrühren sie alles gut miteinander. Dabei halten alle drei den Löffel, lachen nicht, sprechen kein Wort und verschütten nicht das kleinste bisschen auf dem Boden.
Wenn der Teig nun gut gerührt ist, legen sie ihn in die Pfanne. Appetitlich sieht diese Faina gewiss nicht aus. Sie wird steif sein und hart und wird glitzern wie der Boden voller Reif an einem frostigen Morgen durch das viele Salz, welches darinnen ist. Hillas gichtsteife Finger fassen die Pfanne ebenso wie jene der Mädchen und so stellen sie die Pfanne gemeinsam aufs Feuer. Sobald die Faina von der einen Seite fertig gebacken ist, drehen sie sie um. Und immer halten sie alle drei miteinander den Löffel, helfen alle drei beim umdrehen und keine lässt den Löffel los. Endlich, endlich ist die zukunftsverheißende Faina fertig und muss gegessen werden. Die jungen Mädchen sind nun voller Eifer und es besteht keine Gefahr mehr, dass sie losprusten würden. Nur noch die Zukunft haben sie im Sinn, welche sie vielleicht zu sehen bekommen werden und das wollen sie sich keinesfalls verderben.

Die Faina glänzt und funkelt geradezu vor lauter Salz und es braucht eine Portion Mut, um hineinzubeißen. Aber sie teilen sie in drei Teile und bemühen sich, so gut zu essen, wie es eben geht. Paolina wird ihren Teil ganz tapfer aufessen, weil sie begriffen hat, dass es sein muss und weil sie alle Vorschriften ganz genau befolgen will. Hilla wird nur ein ganz kleines Stückchen nehmen und vielleicht wird sie nicht einmal dieses hinunterwürgen können. Aber sie ist geschickt und weiß es vor den Augen der Mädchen zu verbergen. Und Raffaela, die ja nun die treibende Kraft hinter diesem Versuch ist? Diese wird sich das Mäulchen voll stopfen. Doch nur ein einziges Mal. Mehr als einen Mund voll wird sie nicht essen können. Und so sehr sie auch das Tuch der Zukunft zu lüften wünscht, so wird sie doch nicht imstande sein, nur noch einen einzigen weiteren Bissen hinunter zu bringen.
Gewiss sind die jungen Mädchen von dieser Faina ein wenig enttäuscht, doch keine wird ein Wort sprechen. Mit einem Händedruck danken sie der alten Hilla und winken ihr ein Gute Nacht zu. Diese wird schweigend in der Tür stehen bleiben und ihnen nachsehen, wenn sie zurück in die Dunkelheit nach Hause gehen. Oder vielmehr laufen. Die beiden werden zügig laufen, denn nun wird es ihnen sein, als sei die Nacht längst nicht mehr so dunkel und unergründlich. Sie tragen nun Zuversicht und Hoffnung in sich, die Zukunft in der Dunkelheit würde sich für sie hervorwagen und ihnen etwas von ihren Geheimnissen enthüllen. Von Vorfreude erfüllt laufen sie, doch nicht erfüllt genug, um es zu wagen in der Finsternis stehen zu bleiben.

Daheim werden sie gewiss schon erwartet und selbstverständlich werden sie geneckt. Sie werden angerufen, wie es denn gegangen sei. Man wird sie fragen, ob sie schon geträumt hätten und was ihnen enthüllt sei. Doch die beiden schweigen tapfer und bringen keinen Ton über die Lippen. Sie eilen in ihr Bett. Paolina schläft gewiss ein, sobald sie das Haupt niedergelegt hat und wird wohl auch fest in den Neujahrsmorgen hinein schlummern. Vermutlich wird sie mit ausgedörrter Kehle und trockenem Mund am Morgen erwachen und sich, so sehr sie sich auch bemüht, nicht entsinnen können, ob sie etwas geträumt hat. Raffaela hingegen wird nicht leicht in den Schlaf finden, weil sie bereits in der Nacht brennenden Durst verspürt. Doch vor dem Schlaf darf beileibe kein Tropfen über ihre Lippen rinnen, denn jeder Schluck würde alle Mühen zunichte machen. Endlich wird auch sie in den Schlaf finden.“

Agnellina grinste neckisch und machte eine Kunstpause.

„Ihr wollt wissen, was sie träumt und was es bedeutet? Das werdet Ihr sie wohl selbst fragen müssen.“

Die Gangrel ging einige Schritte umher. Von weitem sah sie sich an, was den Handwerker in dieser Nacht als Arbeit beschäftigte. Doch sie kam nicht an den Tisch heran, der für sie einen sicheren Wall zwischen ihr und ihrem Zuhörer bildete. Solange er seiner Arbeit nachging, war sie recht entspannt, ja, beim Erzählen gelöst sogar und ging freudig im Ausmalen der Erzählungen auf.

„Paolina hat mir von der Faina erzählt, welche die Zukunft im Traum enthüllen kann. Dies habe ich ihr ebenfalls mit der Erzählung einer Geschichte vergolten, die ich für Euch vorgesehen hatte, weil sie in einer Nacht wie dieser geschehen ist.

Also, hört gut zu. In vergangenen Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da gab es zwei Brüder, Gennaro und Gianni, die sich über eine Geschichte stritten, die Gennaro für wahr hielt, Gianni aufbrausend als Humbug leugnete und abstritt. Die Geschichte erzählte von einem seltsamen Völkchen, welches aus einer anderen Welt zu kommen schien. Die Brüder stritten sich beinahe bis aufs Blut und letztlich entschied sich Gianni auszuziehen und schwor, nicht eher zurück zu kommen, ehe er nicht Gewissheit bekommen hätte. Vielleicht ist es schwerer zu beweisen, dass etwas nicht ist, als dass es ist. Daher wanderte Gianni über Berge und unbewohnte Landstrecken, kam über Hügel und passierte Täler, doch klüger wurde er dadurch nicht.
Die Geschichte wäre wohl an dieser Stelle zu Ende, wenn er nicht an einem Silvesterabend auf einem Hof ankam, auf dem die Leute von tiefer Traurigkeit erfüllt waren. Gianni war ein redseliger Kerl und fragte, was ihre Freude am letzten Tag des Jahres so betrübte. Es stellte sich heraus, dass die Leute des Hofes gern zum Gottesdienst aufbrechen wollten. Doch es fand sich niemand unter ihnen, der bereit war, zurückzubleiben und den Hof zu hüten. Seit langer Zeit sei in jeder einzelnen Neujahrsnacht der Hüter des Hofes verschwunden und niemals hatte man je wieder von ihm gehört. Niemand war nun mehr bereit, zurückzubleiben, denn denjenigen würde ja der Tod erwarten. Gianni sprach mit Engelszungen auf die Leute ein und bat sie, doch Abstand von solch abergläubischen Gerede und solch heidnischer Furcht zu nehmen. Er erbot sich, den Hof zu hüten. Hierüber fiel allen ein Stein vom Herzen und sie dankten ihm recht herzlich, doch waren auch erfüllt vonFurcht, wie es denn ablaufen würde. Trotz dieser Ängste brachen sie dennoch zu Gottesdienst und Messe auf und ließen Gianni mit dem Wachhund auf dem Hof zurück.
Gianni indes ersann sich ein Vorgehen. Mit dem Wachhund ging er in die Stube und schloss die Tür ab. Auch alle Fenster waren geschlossen und im Ofen brannte ein schwaches Feuer. Er begann ein Brett aus der Wandverkleidung über dem ersten Bett in der Wohn- und Schlafstube zu lösen. In diesen Raum zwischen Wand und Wandbekleidung kroch er hinein und schob dann das Brett wieder so vor das Loch, dass nur noch eine kleine Ritze bestehen blieb, durch welche er die gesamte Stube überblicken konnte. Der Hund jedoch, der bei ihm war, der blieb auf dem Fußboden der Stube liegen.
Eine Weile, nachdem Gianni sich in seinem Versteck einrichtet hatte, vernahm er Geräusche von draußen. Es klang nach den Stimmen von Menschen und nach Fußtritten. Es klapperte und der Schlüssel in der Tür sprang ohne irgendein Zutun herum und die Tür schwang auf. Gleich darauf hörte eine Menge Menschen in die Stube kommen. Durch den Spalt konnte er sehen, wie der Hund gepackt“

Agnellina war mit einer plötzlichen Bewegung auf die Füße gesprungen. Sie griff nach der Luft auf dem Boden, stemmte eine unsichtbare Masse gepackt in den Fingern nach oben und warf das Nichts mit wilder Kraft zurück auf den Boden.

„und so zu Boden geschleudert wurde, dass jeder Knochen in seinem Leib augenblicklich in Stücke ging. Er hörte, wie die Ankommenden miteinander sprachen, sich beschwerten, dass es auf dem Hof nach Menschen stinke. Einige unter ihnen meinten, dass seie nicht verwunderlich, weil die Leute ja eben erst zum Gottesdienst aufgebrochen waren.
Gianni sah aus seinem Versteck heraus die Gäste. Ein wunderliches Völkchen war es, seltsam anzuschauen. Menschlich und doch zugleich nicht. Sie sahen sich um und nachdem sie das getan hatten, stellten sie einen Tisch in die Stube. Sie legten eine golddurchwirkte Decke darauf, die im schwachen Feuerschein wunderbar funkelte. Alles, was sie darauf legten, war nicht minder kostbar. Schüsseln und Teller, Becher und Messer, alles aus edelstem Silber trugen sie auf. Nun setzten sich alle zu Tisch und alles ging mit großem Anstand und feinsten Manieren an. Ein Festmahl begann und währenddessen wurde ein Junge an der Tür auf Posten geschickt. Er sollte aufpassen und vermelden, wann der Tag anbräche. Er war draußen, doch Gianni sah ihn auch mehrfach drinnen. Jedes Mal, wenn der Junge hinkam, ward er gefragt, wie spät es denn nun wäre und er erwiderte stets, dass es noch lange Zeit bis zum Tage hin sei.
Gianni indes begann, allmählich und leiser als ein Mäuschen ein wenig der Zwischenwand herauszulösen, um bei Notwendigkeit schnell herauskommen zu können.
Als die Fremden gesättigt waren, beobachtete Gianni, wie ein Mann und eine Frau vorgeführt wurden. Beide waren in edle Gewänder gekleidet, noch prachtvoller als die der anderen Gäste. Schließlich schritt mit würdevollen Schritten ein dritter, bereits stark ergrauter vor die anderen. Es erhob sich ein Gesang und mit Gesten und Worten wurde eine Art Trauung abgehalten, gerade so schön und würdevoll wie vor einem geweihten Altar. Als diese Trauung beendet war, war die Freude groß und wieder hob der Gesang an. Dazu erklangen Flöten und Trommeln. Ein Tanz begann und alles Volk begann zu schreiten, zu springen und sich zu drehen.“

Erst fiepte es etwas schrill, dann erklangen saubere Töne. Agnellina hatte ihre beinerne Flöte angeblasen und entlockte ihr eine Art Musik. Erst verhalten machte die Gangrel einige wiegende Schritte dazu, knickste verspielt eine Reference in Richtung Gabriels und lächelte. Zunehmend ausgelassener machte sie weitere Schritte und drehte sich zur Musik ihrer Geschichte und ihrer Knochenflöte. Schließlich unterbrach sie ihr Spiel und setzte die Erzählung fort.

„Als sie eine Zeit lang getanzt hatten, kam der Türhüter wieder herein. Erneut wurde er gefragt, wie viel noch von der Nacht übrig sei. Er gab kund, dass noch der sechste Teil übrig sei. Da rief Gianni, der sich aus seinem Versteck geschlichen und hinter den Jungen gestellt hatte: ‚Das ist gelogen! Der Tag steht bereits mitten am Himmel!‘
Entsetzen packte das tanzende Volk und augenblicklich erschlugen sie den Türhüter. Gianni aber kroch eilig wieder in sein Versteck in der Wand. Als das Volk seinen jungen Türhüter ebenso zerschmettert und getötet hatte wie den Wachhund, da lief es hastig davon. Wie Lämmer auf einem Schafsteg sprangen sie durcheinander und ließen all ihre Sachen zurück. Gianni verfolgte sie in einiger Entfernung und sah von weiten, wie sie sich in einen See in der Nähe des Hofes stürzten. Da kehrte er um und sammelte alles ein, was sie zurückgelassen hatten, all die wunderbaren Speisereste und als das kostbare Geschirr.

Nicht lange darauf kamen die Leute des Hofes aus der Kirche zurück. Sie waren sehr erfreut den Mann lebendig und wohlauf zu sehen, der ihren Hof gehütet hatte. Sie fragte ihn, ob er in der Nacht etwas bemerkt hätte. Gianni erzählte, dass es nicht viel gewesen sei und berichtete dann, was er beobachtet und erlebt hatte. Da wurde den Leuten klar, dass sich die früheren Hüter des Hofes dem Volk gezeigt haben mussten und dass dies ihr Verderben geworden war. Vermutlich war es ihnen ergangen wie dem Hofhund, der gesehen worden war.
Die Leute des Hofes dankten Gianni, der ihnen Hof gehütet hatte, mit vielen und schönen Worten für seinen Mut und schenkten ihm alles, was das Völkchen zurückgelassen hatte und er nur forttragen konnte. Dann wanderte er nach Hause und traf dort seinen Bruder an. Er erzählte ihm nun alles und sagte zugleich, er würde nun nicht mehr bestreiten, dass es wundersame Völkchen gäbe. Später übernahm er nach seinen Eltern den Hof, heiratete und hatte Glück in allen Unternehmungen seines Lebens. Er wurde für einen trefflichen Mann in seiner Gegend gehalten, war strebsam und wusste guten Rat in schwierigen Fällen. Von dem Hof aber, den er in jener Nacht gehütet hatte, verschwand nie mehr ein Mensch in einer Silvesternacht.“

Die Worte verklangen und sie sah ihren Zuhörer genau an, suchte nach Anzeichen der Zufriedenheit oder des Missfallens. Es endete wieder mit ihrer Frage nach Wünschen seinerseits und dem Vorschlag für verschiedene Erzählungen. Dann schlüpfte sie wieder in Schuhe und Umhang und verließ ihn mit frommen Segenswünschen für das inzwischen neugeborene Jahr.
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Agnellina
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[Fluff] In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat [Agnellina, Gabriel]

Beitrag von Agnellina »

Die braunen Augen strahlten. Sie war gut gelaunt, doch das war sie gewöhnlich, wenn sie um einen Abend zum Erzählen gebeten hatte und dafür erschien. Die junge Gangrel schien tatsächlich Freude daran zu empfinden, in ihm einen willigen Zuhörer zu haben und ihn zu unterhalten. So war sie auch in jener Nacht rings um die Osterzeit mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht erschienen.

„Ich habe eine wunderbare Geschichte gehört. Von der Erschaffung der Welt.“, schwappte es aus ihr hervor. Im Überschwang war gar nicht auszumachen, ob sie das kürzlich gehört oder sich nur enthusiastisch daran erinnert und diese Geschichte für ihn und diese Nacht ausgewählt hatte.

„Ihr wisst, dass Gott die Welt geschaffen hat. Nun war…“

Sie stockte. Das Lächeln bekam eine verlegene Spur. Agnellina unterschied gewöhnlich klar zwischen Tatsachen und ihren Geschichten, die durchaus fragwürdige Elemente enthalten durften, doch dafür den Schlüssel benötigten, der sie als Geschichte markierte. Dieses Mal ging es beträchtlich weiter in die Zeit zurück, sodass sie ihre Worte anpassen musste. Die Gangrel versuchte ihre gewohnten Zauberworte zum Beginn der Geschichte passend zu setzen, damit das Ritual beginnen konnte, wie es gewöhnlich begann.

„Noch lange vor den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, ganz am Anfang der Zeiten… da schuf Gott die Welt. Und die Welt war dabei zunächst wie ein Stein. Leer und wüst. Von kaltem, festen Eis bedeckt und geformt wie ein Ei.“

Agnellina holte mit einer aufmerksamkeitsheischenden Geste ein kleines rotgefärbtes Ei aus dem Tuch, welches sie um ihr Hemd vor die Brust gekreuzt geschlungen trug, und präsentierte es auf ihrer pelzigen Handfläche. Das kleine Hühnerei war mit den Säften von zerdrückten roten Blüten gefärbt worden. Anscheinend war die Färbung vonstatten gegangen ohne das Ei zu kochen, denn die Farbe war etwas fleckig. Sie schien direkt mit Blütenblättern auf die Schale gerieben worden. Dabei waren einige Stellen ausgelassen worden, die nun die blasse Eierschale zeigten, während andere mehrere Schichten Farbe abbekommen hatten und dadurch in einem tieferen, dunkleren Rot erschienen. Es war durch die Methode oder das fehlende künstlerische Talent kein klares, sauberes Muster. Doch die Absicht eines Musters an sich war soweit erkennbar, dass man das Ei als verziert bezeichnen konnte.
Mit ruhiger, leicht hohler Hand hielt Agnellina das Ei so, dass es mit der Spitze zu ihm zeigte und er es betrachten konnte, während sie die Erzählung fortsetzte.


„Gott, der Herr, schickte seinen ersten und liebsten Erzengel und hieß ihn das Eis zu brechen. So sollte die Erde bewohnbar werden für alle Lebenwesen. Der Engel wandelte dazu seine Gestalt in die eines Pfauenvogels mit prachtvollem blauen Gefieder und einem Schwanz voller wunderschöner Augen in grün und blau und braun. Sanft setzte sich der himmlische Vogel auf das eisige Ei nieder und er wärmte es hingebungsvoll mit all seiner Kraft.“

Langsam umschlossen die dunklen, pelzigen Pfoten das kleine Ei. Weich und geborgen lag es im tierischen Fell und im sanften, behütenden Griff der Frau. Ihre Augen funkelten und verrieten, dass sie eine Taschenspielerei im Sinn hatte.

„Schließlich brach der Pfau das Eis, wie ihm geheißen war und...“

Sie zögerte es ein wenig heraus, indem sie den Druck ihrer Hände allmählich vergrößerte. Schließlich knackte es vernehmlich. Die Neugeborene bewegte die Finger etwas hin und her. Die Eierschale knirschte leise. Dann öffnete sie den Griff. Das Ei war zerbrochen. Größere und kleinere Schalenstücke lagen im dunklen Fell der Handfläche und wurden ihm präsentierend hingehalten. Zwischen den roten und von der Rückseite weißen Schalenbrocken lagen drei kleine Blüten vom Goldflieder, ein einzelnes Gänseblümchen und eine rotweiße Kordel. Das kleine Gänseblümchen war am Kopf ein wenig zerdrückt, ansonsten aber heil geblieben.
Wie viele Eier es wohl in der Vorbereitung für diese Taschenspielerei gebraucht hatte?
Agnellina grinste auf jeden Fall zufrieden.


„Er brach das Eis, wie ihm geheißen war, und der Pfau schmückte die Erde mit Blumen und Pflanzen, bis sie in schierer Pracht erblühte.“

Sie fischte die Schnur aus dem Bruch von Eierschalen und Blumen in die Hand heraus. Die Schnur war aus einem naturweißen und einem rot gefärbten Wollfaden zu einer Kordel gezwirbelt.

„Dies ist ein Frühlingsband. Rot und weiß. So weiß wie unberührter Schnee, wie ein Anfang, wie die neue, unberührte Erde. Bereit für alles, was kommt. So rot wie der Himmel erstrahlte, als das Licht am ersten Abend die Welt badete, nachdem der Pfau das Eis gebrochen und für das Leben geschmückt hatte. Man darf es sich nicht selbst machen, denn wie die Welt und der Frühling ist es ein Geschenk. Es wird geknotet und für eine kurze Zeit des Lebens begleitet es einen. Solange soll man sich erinnern und jener gedenken, die einen ebenfalls für eine Zeit begleitet und bereits verlassen haben. Das Frühlingsband bringt seinem Träger Glück und Segen, wenn es von allein abfällt. Ich habe eines bekommen, als mir die Geschichte erzählt wurde, und das wurde ein sehr gutes Jahr. Es gehört zusammen. Man lauscht der Geschichte und bekommt das Band geknotet. Es wird entweder am Handgelenk getragen oder auch in die Haare gebunden.“

Agnellina hielt es ihm weiter anbietend entgegen.

„Wenn Ihr erlaubt, Herr.“

Und wenn er es erlaubte, so würde sie ihm das Band knoten. Wahlweise als Zopfband oder locker um das bloße Handgelenk geschlungen und verknotet. Der kleine Knoten in der dünnen Kordel war nicht ganz einfach für ihre Finger zu schlingen, war der dichte Pelz an den Händen tatsächlich ein Hindernis für solch filigrane Tätigkeit.
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