[Fluff] Gesicht [Harl/Marius]

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Harl
Malkavianer
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Registriert: Mo 4. Sep 2023, 15:53

[Fluff] Gesicht [Harl/Marius]

Beitrag von Harl »

Untermalung

Wir sind nicht echt. Keiner von uns. ‘Ich’ ist nicht echt. Es gibt kein ‘ich’. ‘Ich’ ist ein Ding, das wir uns ein Leben lang bauen, im Bewusstsein. Es ist ein Gebilde aus Wünschen, aus Vorstellungen und Erwartungen. Ein Bild. Selbst-Bild. Doch es ist nicht echt.

Der Wald wisperte leise in dieser Nacht. Der Wind fing sich in den Blättern und wehte über felsige Hänge, hohe Pinien, Kastanien, grüne und braune Sträucher. Der Jäger hatte seine Beute in eine solche Nische zwischen Felsen gezerrt.
Es war nicht mehr viel von ihr zu sehen, bleiches Fleisch, der raue Stoff von Decken, Seil. Die Form verriet die Natur der Beute, zu lang für Hasen, für Rehe, Wölfe. Zu schmal für gestohlene Schafe oder Ziegen. Zweibeinige Beute, zweiarmige Beute. Eine Hand ragte aus dem einen Bündel hervor und machte jede Illusion zunichte.

Der Jäger nahm die Messer, die seine Beute gehabt hatte. Die Beute hatte damit selbst gejagt. Sie hatte damit noch in vor wenigen Stunden einem Hasen das Fell abgezogen. Nun setzte er Jäger das Messer an und sah seiner Beute in das eine Auge, das ihr verblieben war.

Wer bist du gewesen? ‘Du’ ist so wenig echt wie ‘ich’. Wie war dein Selbst-Bild?

Ein Schnitt, doch es floss kaum Blut. Die Beute hatte keines mehr. Die Augen des Mannes waren braun gewesen. Das Haar nur ein wenig dunkler. Kurz, damit es nicht im Weg war. Er roch nach Pinienharz und seinem eigenen Blut. Blut, das herb und voll gewesen war. Der Mann war ein Jäger gewesen, so wie derjenige, der ihn am Ende erjagt und zu Beute gemacht hatte. Es war richtig, dass sich der Kreis so schloss, Jäger und Beute.

Ein paar weitere Schnitte. Kehle, der Hinterkopf mit dreien, die sich aufklappen ließen, wie eine Blüte aus Fleisch und Haar. Der Schädel darunter blühte knochenweiß auf. Ein Ruck, zwei, drei. Die Haut im Gesicht ist fein und dünn. Der Bart machte sie fester. Um die Augen herum jedoch war sie weich. Viel zu zart. Der Jäger brach die Nase mit einem Ruck, so dass sich die Knorpel lösen ließen. Keine feine Arbeit, keine schöne.

Du warst ein Jäger. Du hast Not und Hunger gekannt. Du hast gelernt, beides durch deine Jagd zu besiegen. Trotzdem bist du für einen anderen gelaufen. Du hast dir einen Anführer gesucht, obwohl auch das nur eine Lüge ist. Es gibt nie ein ‘wir’. Es gibt nur ein ‘ich’. Und nicht einmal das ist echt. Doch du hast an ‘ich’ geglaubt und auch an ‘wir’. Du hast an deinen Retter geglaubt und an deine Anführerin. Doch an ihr hast du schon zu zweifeln begonnen.

Die Haut war eingerissen. Der Mund und die Augen waren natürliche Löcher. Der Skalp war ein blutiger, fettiger Fetzen. Der Jäger wiegte sich im Takt des längst verklungenen Herzens seiner Beute. Er drehte sich herum.
Dort lag im Schein eines fernen Mondes das andere Gesicht der Beute. Eine Maske aus Fell und Knochen, Leder und Leim. Ein Tiergesicht, das die Beute zu seinem eigenen gemacht hatte. Der Jäger hob die beiden Gesichter in die Höhe, dem Mond entgegen.
“Sieh”, flüsterte er. “Das sind die Gesichter meiner Beute.”

Er hob sich die Gesichter vor das eigene Antlitz. Erst die eine Maske, dann die andere. Dann legte er sie feierlich im Mondlicht nieder und begann, die Kleider der Beute über zu streifen. Schicht für Schicht striff er sich die fremde Haut über bis sie die eigene wurde. Er ließ seinen Körper warm werden so wie der der Beute warm gewesen war. Die Kleidung begann zu riechen wie die Beute gerochen hatte, warmer Schweiß, diese Note von Pinienharz, von Hasenfleisch, vom “wir” der Gruppe.

Zuletzt kniete er sich vor die Gesichter. In Mondlicht getränkt lagen sie für ihn da, verwoben mit dessen silbernen Tönen, auf- und abschwellend in der Zeit. Er hob die Gesichter an, erst das eine, dann das andere, und streifte sie über so wie die Kleider zuvor. Der Jäger tanzte im Takt des verklungenen Herzens bis die Haut ganz und gar seine geworden war:

Ich bin ein Jäger. Marius. Arash ist ein Schatten in meinen Nächten, Violetta hat ‘den Kleinen’ verprügelt. Ich fürchte mich vor ihr, aber ich sage es nicht laut, denn ich muss stark sein. Hart. Ein Leben lang bin ich durch die Wälder gegangen. Ich habe gelernt, wie man mit dem Bogen schießt. Wie man mit dem Messer und dem Speer kämpft. Wie man an der Seite der anderen lebt. Wie man eine unverbrüchliche Gemeinschaft ist, ‘wir’ gegen die da draußen. Gegen die Schrecken in der Nacht und die bei Tag. ‘Wir’ bedeutet Sicherheit. Vertrauen. Überleben.
“We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far.” - Lovecraft (The Call of Cthulhu)

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