[Fluff/Training]Der Blick hinter den Schleier

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Ivain
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[Fluff/Training]Der Blick hinter den Schleier

Beitrag von Ivain »

Yasmina hatte davon gesprochen wie von einem Geschenk, das in ihm schlummerte – einer Fähigkeit, die alle Kainskinder entwickeln konnten, wenn sie nur lernten, die Welt nicht nur mit sterblichen Sinnen zu betrachten.

"Du siehst, Ivain, aber du erkennst nicht."

Die Worte hatten ihn nicht losgelassen. Sie waren nicht als Vorwurf gemeint gewesen, sondern als Herausforderung. Und Ivain hatte Herausforderungen nie gescheut.
Seine Madonna hatte ihm gegenüber einst angedeutet, dass die wahren Geheimnisse nicht in dem lagen, was er hörte oder roch, sondern in dem, was sich hinter den Fassaden der Welt verbarg. In den Schatten zwischen den Schatten, in der Stille zwischen zwei Atemzügen. Und das sein Blut besonders gesegnet war mit der Gabe diese Welt der Emotionen erlebbar zu machen.

Einen ersten Schritt hatte er schon getan. Er war bereits mit der Schärfung seiner Sinne vertraut. Die Welt offenbarte ihm mehr als den Sterblichen – leise Gespräche, die für andere verloren gingen, den fahlen Geruch von Angst, wenn jemand log, das Gewicht unausgesprochener Worte in der Luft. Doch das genügte ihm nicht.

Jetzt, da er sich in Genua behaupten musste, wurde ihm klar, wie wertvoll diese Gabe war. Jeder Fehlschlag konnte tödlich sein. Er brauchte eine Möglichkeit, seinesgleichen zu erkennen, selbst wenn sie sich geschickt verbargen. Doch ebenso wichtig war es, die Sterblichen zu durchschauen. Was trieb sie an? Was verbargen sie hinter ihren Worten? Waren sie ehrlich, voller Angst oder mit Lügen auf der Zunge?

Doch er hatte keine Lehrmeisterin an seiner Seite. Niemanden, der ihm zeigte, wie man das Netz aus Täuschungen durchdrang. Also blieb ihm nur eines: Übung.

Die erste Herausforderung bestand darin, sich nicht auf das Offensichtliche zu verlassen. Er konnte nicht einfach nach jenen suchen, die sich anders bewegten oder deren Haut zu blass war. Das war zu unsicher. Er musste spüren, was unter der Oberfläche lag.

Also begann er, sich unter die Menschen zu mischen, ließ seinen Blick über sie schweifen, versuchte, mehr zu sehen als nur Gesichter und Gestalten. Gab es eine Unruhe in der Luft, wenn ein Kainit in der Nähe war? Eine Stille, die nicht da sein sollte? Ein Widerhall in seinem Geist?

Gleichzeitig begann er, die Sterblichen genauer zu beobachten. Er hörte nicht nur auf ihre Worte, sondern auf das, was darunter lag. Er versuchte, ihre Stimmungen zu lesen, ihre Emotionen zu fühlen. War das Lächeln eines Kaufmanns aufrichtig, oder verbarg es Ärger? War die Besorgnis einer Magd echt, oder nur gespielt? Wie fühlte sich Angst an, wenn jemand sie verbarg?

Er übte in Tavernen, auf Märkten, in dunklen Gassen. Beobachtete, lauschte, ließ seine Wahrnehmung schweifen. Oft war es schwer, das Echo der Gefühle von seinen eigenen Gedanken zu trennen, doch mit der Zeit begann er, Muster zu erkennen.

Dann, eines Abends, während er durch eine belebte Straße wandelte, geschah es. Der Lärm der Stadt war allgegenwärtig – Stimmen, Schritte, Rufe –, doch plötzlich spürte er etwas. Eine Leere. Eine Stille, wo keine sein sollte. Ein Fleck, der sich von der lebendigen Masse um ihn abhob.

Er konnte es nicht erklären, nicht mit Worten fassen. Aber er wusste: Dort, wenige Schritte entfernt, stand jemand, der nicht lebte.

Er sah nicht sofort hin. Stattdessen ließ er das Gefühl auf sich wirken. Und noch etwas anderes drang zu ihm durch – eine Regung, die nicht aus der Menge kam. Vorsicht. Berechnung. Ein dünner Faden aus Anspannung.

Er drehte sich langsam, ließ seinen Blick über die Straße gleiten, als sei nichts geschehen. Dort stand er – ein Kaufmann, scheinbar in ein Gespräch vertieft. Kein Zeichen von Nervosität, kein Zucken der Hände, keine Unruhe. Doch Ivain spürte sie trotzdem, verborgen unter der Maske der Gelassenheit.

Er kniff die Augen leicht zusammen, konzentrierte sich, ließ seine Wahrnehmung tiefer greifen. Und da war sie – ein flüchtiger, blasser Schimmer, kaum mehr als ein Flackern in der Luft. Die Auren der Lebenden um ihn herum leuchteten mit kräftigen Farben – Rot glühender Zorn, Blau, schwer von Melancholie, Goldene Funken sprühten vor Freude. Doch um diesen Mann war etwas anders. Seine Aura war nicht farblos, nicht leer – aber ihre Töne waren gedämpft, wie mit einem Schleier überzogen.

Das Rot war nicht feurig, sondern stumpf, fast rostig. Das Blau nicht tief, sondern wie verdünnte Tinte. Jede Farbe war da, aber verblasst, als hätte der Tod sie ausgesaugt und nur einen Schatten zurückgelassen.

Ein kaltes Lächeln zog über Ivains Lippen.

Er hatte begonnen, den Schleier zu lüften.
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Ivain
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Re: [Fluff/Training]Der Blick hinter den Schleier

Beitrag von Ivain »

Ivain hatte begonnen, die Auren der Menschen wahrzunehmen – schimmernde Farben, die ihre Emotionen widerspiegelten. Doch das Erkennen dieser Farben war nur der erste Schritt; ihre Bedeutung zu verstehen, stellte eine weit größere Herausforderung dar.

In den Nächten zog es ihn immer wieder zum Hafen und in die Tavernen Genuas. Dort, inmitten des geschäftigen Treibens, beobachtete er die Menschen. Er sah die leuchtenden Auren um sie herum, doch ihre Bedeutungen blieben ihm oft verborgen. Einmal bemerkte er einen Händler, dessen Aura in einem intensiven Rot pulsierte. War es Zorn? Leidenschaft? Oder vielleicht Aufregung? Ebenso sah er bei einer jungen Frau ein tiefes Blau. Doch ob es Traurigkeit, Ruhe oder etwas anderes bedeutete, konnte er nicht sicher sagen.​

Ivain wusste, dass jede Farbe eine Vielzahl von Emotionen repräsentieren konnte und dass der Kontext entscheidend war. Er begann, die Mimik, Gestik und Gespräche der Menschen genauer zu beobachten, um Zusammenhänge zwischen ihren sichtbaren Emotionen und den Farben ihrer Auren herzustellen. Mit der Zeit erkannte er, dass das intensive Rot des Händlers tatsächlich auf Zorn hindeutete, ausgelöst durch einen misslungenen Handel. Das tiefe Blau der jungen Frau spiegelte ihre Traurigkeit wider, nachdem sie eine schlechte Nachricht erhalten hatte.​

Durch diese sorgfältige Beobachtung und Analyse entwickelte Ivain allmählich ein tieferes Verständnis für die Bedeutungen der Aurafarben. Er begann, die subtilen Nuancen zu erkennen und die Emotionen der Menschen präziser zu deuten, was ihm in der komplexen Gesellschaft Genuas einen wertvollen Vorteil verschaffen würde.
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Ivain
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Re: [Fluff/Training]Der Blick hinter den Schleier

Beitrag von Ivain »

Die Taverne stand außerhalb der Mauern Genuas – entlang der Straße gen Westen. Ein Ort, an dem Reisende unterkommen konnten: eine Nacht in der Scheune, oder für das richtige Geld vielleicht sogar auf einem Brett in der Schankstube nach Ladenschluss. Ein Ort für Durchreisende, Trunkenbolde, Gesindel – nicht zufällig hatte Ivain ihn gewählt.

Er trat ein, scheinbar wie jeder andere Reisende. Der Regen hatte aufgehört, der feuchte Abenddunst kroch durch die Ritzen der Tür. Die Stimmen im Schankraum waren dumpf, der Boden klebrig, das Licht schummrig. Perfekt.
Er trug Kleidung, vielleicht eine Spur zu fein für diese Gegend. Der schmutzige Umhang darüber – zu nachlässig gewählt, um den Wohlstand darunter glaubhaft zu verbergen. Ein Mann mit Geld, aber ohne Wachsamkeit. Die perfekte Beute – zumindest in den Augen der falschen Leute.


Mit ruhigem Blick ließ Ivain seine Sinne fließen. Sein Geist glitt unter die Oberfläche, hinter das Offensichtliche. Die Welt vibrierte – flackernde Seelenlichter tanzten am Rand seines Bewusstseins. Und dort – bei den Fässern, am Kamin, beim Treppenaufgang – spürte er sie. Zwei Auren, trüb, voll gespannter Gier. Eine dritte, jünger, nervös, schwankend.

Ivain gab sein Geld bereitwillig aus. Kein Verhandeln, kein Motzen über Wucher. Der Beutel an seiner Seite hing so, als wäre noch einiges darin.

Eine Weile später kam der Junge zu ihm. Freundliches Lächeln, gespielte Hilfsbereitschaft.

„Sucht Ihr ein Schiff, Herr? Oder jemanden, der Eure Sachen sichert?“

Ivain nickte – vordergründig dankbar.

„Mein Wagen, zwanzig Minuten die Straße hinunter, hat ein gebrochenes Rad. Wenn du mir hilfst, die Waren zu sichern, wird es sich für dich lohnen.“

Er log nicht einmal. Hätte der Junge aufrichtig geholfen, hätte er keinen Grund zur Sorge gehabt. Doch seine Aura sprach für sich: Violett, durchzogen von Orange, unterspült von einem faulgrünen Schatten. Nein – das hier war kein Helfer. Es war ein Jäger, der meinte, eine leichte Beute gefunden zu haben.

„Natürlich, mein Herr. Hab noch zwei Freunde, wir bringen euer Zeug ins Lager, da kann’s bis morgen bleiben.“

Genau das, was Ivain hören wollte.

Draußen war es still. Der Nebel vom Meer zog schwer über das Land. Der Junge führte ihn hinunter zum Wasser, über einen schmalen, nur vom Mond beschienenen Pfad. Ein dunkles Lagerhaus ragte aus der Finsternis – alte Boote, verlassene Kisten – und kein Sichtkontakt zur Taverne. Niemand sonst war unterwegs. Nur Jäger und Beute. Oder das, was sie dafür hielten.

Die anderen warteten bereits. Einer mit einem Messer, einer mit einem Knüppel. Schiefe Grinsen. Die Sicherheit jener, die zu oft Erfolg gehabt hatten.

Ivain trat mitten hinein. Und blieb stehen.

„Möge der Herr eurer Seele gnädig sein.“

Spöttische Verwirrung. Zu spät.

Der mit dem Messer bekam nichts mit – nur das Flackern von Stahl. Ivains übernatürliche Geschwindigkeit ließ ihn schneller reagieren als jeder Mensch es gekonnt hätte. Der Dolch unter dem Mantel schnitt durch Kehle und Stimme zugleich. Kein Schrei. Nur Blut.

Der zweite, mit dem Knüppel, war geübter – wich zurück. Doch Ivain war schneller. Ein gezielter Tritt gegen das Knie ließ ihn stürzen. Der zweite Hieb – ein Stich direkt in die Kehle – ließ nur noch Gurgeln folgen. Blut spritzte auf die Steine, während er röchelnd sein Leben verlor.

Der Junge war gestolpert, zu Boden gefallen, starr vor Angst. Er bekreuzigte sich zitternd – die Luft roch nach Urin.

„Bitte… Herr... Ich… Ich wusste nicht…“

Lüge. Die Aura flackerte orange – Angst, ja. Aber auch Selbstmitleid. Kein Bedauern. Kein Rückzug. Kein echtes Gewissen.

Ivain trat näher. Wortlos. Hungrig. Das Blut auf dem Boden schien ihn nicht abzustoßen – im Gegenteil.

Ein harter Schlag gegen die Schläfe ließ den Jungen bewusstlos zusammensacken. Ivain zog ihn lautlos hinter das Haus, in den tiefsten Schatten. Dann trank er – ruhig, kontrolliert. Kein Schrei drang hinaus. Nur das leise Schmatzen des Todes.

Als Ivain fertig war, war der Körper leblos. Und doch – mit kalter Gründlichkeit durchtrennte er auch dessen Hals. Sicherheit war kein Zufall, sondern Prinzip.

So waren die Jäger zur Beute geworden. Und Ivain bevorzugte solche Beute – schuldige Seelen, verdorbene Herzen – weit mehr als Unschuldige.

Die drei Leiber hievte er in eines der alten Boote. Seetauglich war es kaum, aber für seine Zwecke mehr als ausreichend. Er stieß es hinaus. Wartete. Sah zu, wie es im Nebel verschwand.
Ein Raubüberfall, der schiefgelaufen war. Ein Name, der nicht in Erinnerung blieb.


Ivain selbst verschwand mit dem Nebel. Kein Zeuge. Kein Wort, das später gesprochen werden konnte.
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